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Kapitel 6 Der Roman

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Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der überzeuge sich, dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können


Sigmund Freud



Viktorias Volvo stand nach wie vor an seinem Platz. Logisch, wer hätte ihn denn wegfahren sollen? Er ging ins Haus, wollte sich ins Bücherzimmer setzen, schritt aber unruhig auf und ab. Es dämmerte bereits. Unbegreiflich, die Zeit beim Anwalt war rasend schnell vergangen. Hätte er nicht Hunger haben müssen? Wenn Viktoria ihm etwas gekocht hätte, hätte er zugelangt, wie immer. Aber jetzt alleine in dieser Küche hantieren? Sich irgendetwas nehmen, als ob er hier zu Hause wäre? Er ging in den Garten, bemerkte, dass es bereits merklich kühler geworden war, und wusste auch im Garten nichts Besseres zu tun, als auf und ab zu gehen. Hier sollte er jetzt zu Hause sein? Für mindestens zwei Jahre. Nicht, dass er das Haus und diesen Ort nicht gemocht hätte. Das war es nicht. Eine Gruppe von Möwen flog kreischend vom Dach auf. Gerrit achtete nicht weiter darauf. Er dachte an Berlin, an seine Wohnung, in der er seit über dreißig Jahren lebte. Die Wohnung hatte ihre Nachteile, aber es war seine Wohnung, sie war ihm ans Herz gewachsen. Umzüge waren Gerrits Sache nicht. Und wenn Maria ausgezogen sein würde, hätte er endlich Platz in seiner Wohnung, könnte alles wieder nach seinem Geschmack einrichten, ruhig und ungestört arbeiten. Und hier? Ruhig und ungestört arbeiten könnte er hier auch, warum nicht? Aber trotzdem … Nein, das war nicht sein Haus. Würde er nicht bei jeder noch so kleinen Änderung bedenken müssen, ob das seiner Tante recht wäre? Sich permanent nach Viktoria richten, in vorauseilendem Gehorsam?

In diesem Haus leben, wie sollte das gehen, ganz praktisch. Sollte er an ihrem Schreibtisch arbeiten, in ihrem Bett schlafen? Was mit ihrer Kleidung machen? Schränke ausräumen und alles in Umzugskartons stopfen? Im Bad standen noch ihre Kosmetika und ihre Zahnbürste!

Wirklich? Gerrit hielt inne. Hatte er wirklich Viktorias Zahnbürste gesehen? Er ging hinein um nachzusehen. Tatsächlich: Das Bad sah nicht so aus, als ob Viktoria nur mal kurz ans Meer gegangen wäre. Die wesentlichen Toilettenartikel fehlten. Viktoria, folgerte Gerrit, muss also eine Reise vorgehabt haben.

Er war stolz, ein erstes Indiz gefunden zu haben, einen Anhaltspunkt. Wer verreisen will, spricht mit den Nachbarn darüber, überlegte er. Direkt morgen würde er mit Nachforschungen beginnen, so wie er es aus Krimis kannte.

Aber zuerst einmal machte er sich etwas zu essen. Brote mit Schinken und Käse, das musste reichen. Er setzte sich damit an den Küchentisch, kam sich aber recht verloren vor so alleine. Draußen war es stockdunkel und völlig still. Sollte er die Flasche Wein öffnen? Er ging zum Kühlschrank, holte die Flasche Rotwein heraus, stellte sie dann aber doch wieder weg. Eisgekühlter Rotwein, dachte er, auf diese Idee können nur Engländer kommen. Mit dem angebissenen, leider krümelnden Schinkenbrot in der Hand ging er zu Viktorias Schreibtisch und setzte sich auf den mehr stilechten als bequemen Schreibtischsessel, zögernd, denn sofort hatte er Viktorias mahnende Stimme im Ohr. Mit einem Butterbrot am Schreibtisch, dazu noch einem krümelnden, das gehörte sich nun wirklich nicht. Er recht gehörte es sich nicht, das dicke schwarze Heft zu öffnen, das auf dem Schreibtisch lag, eines dieser edlen Notizbücher, die Gerrit nur deshalb nicht benutzte, weil sie ihm zu teuer waren.

Daneben lag ein schwarzer Füller, ein nostalgisches Schreibgerät mit Goldfeder, gefüllt mit türkisgrüner Tinte. Gerrit schlug das Notizbuch auf, befühlte das relativ dicke, leicht gelbliche Papier. Das Buch war unbenutzt, vollkommen leer. Es schien nur darauf zu warten, mit Buchstaben, die sich zu Worten und Sätzen reihten, gefüllt zu werden. Eine stumme Aufforderung, hier den Roman zu schreiben? Einen Roman im Sinne Viktorias, einen „viktorianischen Roman“, dachte er spöttisch. Sollte er zu einem Thomas-Mann-Verschnitt werden, zu einem Schriftsteller, der korrekt gekleidet, in aufrecht würdiger Haltung sitzend ein edles Buch bedächtig mit wohlüberlegten Worten füllt? Nein, liebe Tante, protestierte er, ich schreibe nicht mit deiner grünen Tinte und altbackenem Schreibgerät. Wenn ich einen Text verfasse, sitze ich in meiner Cordhose vor dem Bildschirm, das Jackett bleibt im Kleiderschrank. Was würde Viktoria sagen, wenn er es wie der gute alte Hemingway halten würde, der während seiner Zeit in Kuba erst dann mit dem Schreiben angefangen hatte, wenn er sich ein paar Mojitos mit ordentlich Rum genehmigt hatte?

Einen Roman im Sinne Viktorias, ging Gerrit durch den Sinn, das ist natürlich der Haken an der Sache, nicht irgendeinen Roman, nicht einen Roman über seine Tante, sondern einen Roman im Sinne seiner Tante. Als ob das nicht hinterhältig genug gewesen wäre, hatte sie noch boshaft verfügt, die Entscheidung, ob der Text im Sinne Viktorias sei, solle „ihr Vertrauter“ treffen. Ausgerechnet dieser Oberkorrekte! Dieser langweilige englische Spießer sollte seinen Roman beurteilen! Gerrit sprang auf. Er ging ziellos durch die Räume. Als sein Blick auf die vielen Bücher fiel, graute ihm bei dem Gedanken, den ganzen Bestand alphabetisch ordnen zu müssen. Eigentlich sollte ich die ganze Schenkung sausen lassen, erwog er kurz, der Gedanke, für seine Tante den Handlanger spielen müssen gefiel ihm ganz und gar nicht. Es könnte doch sein, dachte er, dass ich in mühevoller Kleinarbeit die ganze Bibliothek auf Vordermann bringe, außerdem Monat um Monat an einem Roman nach Tantes Gusto sitze, und am Schluss lehnt dieser blöde Typ den Roman ab. Was dann? Alles umsonst?

Er ging nach oben, überlegte, in welchem Bett er schlafen sollte und entschied sich nach einigem Hadern mit einem gewissen Trotz für Viktorias Bett. Es war breit und bequem, außerdem hatte er von hier aus eine viel bessere Aussicht als aus dem etwas muffigen Gästezimmer. Beim Beziehen des Bettes fiel es ihm ein: Die Tatsache, zwei Jahre lang in Viktorias Haus wohnen zu dürfen, sprach dafür, dass sie und ihr Anwalt eins genau wussten: Seine Tante würde zwei Jahre lang nicht zurückkehren. Dass er nicht sofort darauf gekommen war! Zwei Jahre würde sie das Haus nicht benutzen. Das musste Viktoria bereits vor ihrem Verschwinden genau gewusst haben. Zugestoßen sein kann ihr demnach nichts, folgerte Gerrit, alles muss geplant gewesen sein, ein sorgfältig ausgearbeiteter Ortwechsel.

In diesem Haus leben, wie sollte das gehen, ganz praktisch, fragte er sich kopfschüttelnd. Sollte er an ihrem Schreibtisch arbeiten? Was mit ihrer Kleidung machen? Schränke ausräumen und alles in Umzugskartons stopfen? Im Bad standen noch ihre Kosmetika und ihre Zahnbürste!

Wirklich? Gerrit hielt inne. Hatte er wirklich Viktorias Zahnbürste gesehen? Er ging hinein um nachzusehen. Tatsächlich: Das Bad sah nicht so aus, als ob Viktoria nur mal kurz ans Meer gegangen wäre. Die wesentlichen Toilettenartikel fehlten. Viktoria, nun war sich Gerrit sicher, muss eine Reise vorgehabt haben. Der Gedanke erleichterte ihn. Eine Entführung oder ein Unfall waren damit auszuschließen. Nachdem er die Bettdecke sorgfältig glatt gestrichen hatte, ging er ins Bücherzimmer.

So viele Bücher! Wie viel tausend mochten es sein? Das war schwer zu schätzen. Alle Wände in diesem Raum waren mit Bücherschränken bedeckt, in denen großformatige Bücher meist waagerecht gelagert waren, um Platz zu sparen, dazu mehrere meterhohe Stapel. Gerrit wollte an drei verschiedenen Stellen je einen Regalmeter auszählen, dann den Mittelwert mit der Gesamtzahl der Regalmeter multiplizieren, um die Gesamtzahl der Bücher wenigstens annähernd bestimmen zu können. Aber was brachte das schon – er würde doch jedes Buch einzeln mindestens einmal in die Hand nehmen müssen. Eine alphabetische Ordnung konnte er bei einigen Stichproben nirgends entdecken, eher schon Sachgebiete: Bücher über die Arktis standen zusammen, auch die Atlanten und die geologischen Fachbücher. Im Prinzip jedenfalls, denn bei genauerem Hinsehen fand er auch unter dem Fenster zum Garten Atlanten und Fachbücher. Das ist zwar eine stupide Arbeit, dachte er, ein typischer Studentenjob. Aber erstens freute er sich schon darauf, nach Herzenslust in all den Büchern herumstöbern zu dürfen, und zweitens wurde dieser Dummjob ja fürstlich entlohnt: Das Gehalt eines Professors würde er bekommen, hatte der Anwalt gesagt. War das nicht besser als ein Forschungsjahr, in dem er unter dem Druck stand, tiefschürfend scheinende Forschungsergebnisse zu erarbeiten? Andererseits würde er bei seinen beiden Freijahren in Tantes Haus auch unter Druck stehen, immer diesen Oberkorrekten vor Augen haben. Aber egal, überlegte Gerrit, zwei Freijahre sind besser als ein Forschungsjahr, das stand fest.

Bald nach ihrer Arktisreise hatte Viktoria ihm drängend zugeredet, sich für ein Forschungsjahr zu bewerben. „Du brauchst einen freien Kopf für neue Ideen“, war ihr Argument gewesen, „wer immer beim Gleichen bleibt, wird unbeweglich, er erstarrt, auch körperlich.“ Dass Georg, sein Kollege und bester Freund, tatsächlich plötzlich erkrankt war, hatte ihn tief beeindruckt. Georg, der von seinen Studentinnen umschwärmte, immer noch jugendliche Dozent, war fast von einem Tag auf den anderen zum Greis geworden: Ischias. Schon der Gedanke daran machte Gerrit zu schaffen.

Ein mildes Licht fiel durch die westliche Fensterfront, eine Fliege flog gegen die Fensterscheibe, sonst war es völlig still. Egal: Ob Forschungsjahr oder zwei freie Jahre von Tantes Gnaden, er hatte unendlich viel freie Zeit vor sich. Der Gedanke gefiel ihm. Ganz in Ruhe an einem Roman schreiben, das sagte ihm zu. Aber einen Roman im Sinne seiner Tante? Sollte er etwa an Viktorias Stelle einen Roman verfassen? Den Lohnschreiber spielen?


Er lehnte sich in dem bedenklich knarrenden Schreibtischsessel zurück. Einen Roman in ihrem Sinne, was kann sie damit gemeint haben? Einen Roman, der zu diesem penibel aufgeräumten Glasschreibtisch passt? Zu diesen in einem ganz zarten Gelb gestrichenen Wänden? Vielleicht, so fiel ihm ein, soll er ihren „Vertrauten“ fragen, der muss es ja schließlich wissen. Einfach zu diesem Menschen hingehen, um ihn geradeheraus zu fragen, wie er es denn gerne hätte? Nein, er hatte solche Typen, diese Streber, immer gleichzeitig bewundert und gehasst, die zum Lehrer hingingen und unterwürfig, wie ihm schien, solche Fragen stellten. Pauli, sein Deutschlehrer am Gymnasium kam ihm in den Sinn, der seine harten, ja manchmal zynischen Kommentare am Rand der Arbeiten immer mit grüner Tinte geschrieben hatte, um sich vom Rot seiner Kollegen abzusetzen. Eines Tages war Pauli nicht zum Unterricht erschienen, er sei tot, sagte man, aber es gab weder eine Beerdigung noch eine Todesanzeige in der Zeitung. Sein Tod blieb ungeklärt. Gerrit und seine Kameraden hatten sich gefragt, wie Pauli gestorben war, sich krimihafte Szenen ausgemalt: Von einem Schüler aus Rache mit Arsen im Kaffee vergiftet. Sich im Wald erhängt, weil er etwas mit einer Schülerin gehabt hätte, die ihn damit erpresst habe - aber darüber hatten alle nur gelacht.

Erpressen, das war das Stichwort, das Gerrit wieder in die Gegenwart zurückbeförderte. Die Tante wollte ihn mit ihrem Geld erpressen! Und warum? Eitelkeit? Wollte sie einen Sklaven, der sich aufgibt, um ihr zu Willen zu sein, der in ihre Haut hineinschlüpft, in ihrem Sinne schreibt?

In ihrem Sinn, in ihrem Sinn, Gerrit gingen diese drei Wörter nicht aus dem Kopf. Welche Romane waren nach Viktorias Geschmack? Er hätte im Bücherzimmer nachsehen können, aber aus der bloßen Tatsache, dass dort dieses oder jenes Buch stand, auf Viktorias Vorlieben zu schließen, schien ihm doch allzu gewagt.

Er erinnerte sich, dass sie ein paar E-Mails über Literatur gewechselt hatten, vor einem Jahr vielleicht. Gerrit, der extra seinen E-Mail-Provider gewechselt hatte, um seine Korrespondenz vollständig archivieren zu können, räumte Tantes schwarzes Leerbuch vom Schreibtisch und klappte sein Notebook auf. Suchen nach „Viktoria“ und „Literatur“. Schon hatte er die Stelle gefunden: „Eine ausgefeilt konstruierte Handlung ist mir nicht wichtig. Du weißt doch, das Leben verhält sich nicht wie ein literarischer Plot. Diese modernen Spannungsromane kann ich nicht ertragen, sie spielen auf jeder Seite mit dem Erwartungshorizont ihrer Leser, um künstlich Spannung zu erzeugen. Action tötet Denken. Das langweilt mich, ich bin völlig übersättigt von dieser Art Literatur. Ich denke, allmählich ist es an der Zeit, die Action und somit die Spannung zu reduzieren! Zurück zu behutsam entfalteten intimen Gedanken! Wir Leser sind doch alle Voyeure!“ Noch eine weitere Stelle schien ihm bemerkenswert: „Was Bücher anbetrifft“, hatte die Tante ihm geschrieben, „bin ich ein Snob. Ich lese sie wegen des Stils, goutiere einzelne Wendungen, den Rhythmus der Worte, Alliterationen und Anklänge, was zählt, ist die Eleganz der Phrasen, nicht der Inhalt. Es lebe der verfeinerte Geschmack, die Fähigkeit einer gebildeten Elite zum Lesegenuss! Wenn du mich jetzt für eine alte konservative Schachtel hältst, dann sage ich dir, genau das bin ich, erhobenen Hauptes.“ Gut gesprochen, Tante, lobte sie Gerrit im Stillen, obwohl ihm ihre Selbststilisierung missfiel, da sind wir ja gar nicht weit voneinander entfernt, das ist doch schon eine prima Grundlage. Er klappte das Notebook zu, nahm sein Notizbuch und schrieb: „Nicht im Sinne Viktorias: Leser bedienen, die beim ersten Relativsatz, der ungewohnte Gedanken andeutet, das Buch zur Seite legen. Aus Klischees und Fernseh-Serien-Versatzstücken einen Roman zusammenrühren, garniert mit leicht verfremdetem Promi-Klatsch, dabei ständig auf einfache Satzkonstruktionen achten. Geistlose Kurzsätze!“



Tantes Tod

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