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Kapitel 11 Trecker und Piratinnen

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Schlaf nach der Arbeit

Ankere nach stürmischer See

Ruhe nach dem Krieg

dann bereitet der Tod nach dem Leben große Freude


Edmund Spenser (auf dem Grabstein von Joseph Conrad)



Zurück zur Arbeit, sagte er sich. Die Mittagssonne fiel wie das Spotlight einer unsichtbaren Filmcrew auf ein schon fast vollständig leer geräumtes Regal. Lustlos verteilte er ein paar Bücher auf die jeweiligen Stapel.

Sein Blick blieb an einem Buchumschlag hängen, auf dem ein Schwan abgebildet war. Die Schwanenfrau, überlegte er, da gibt es doch diese Geschichte von einer Jungfrau, die in einen wilden Schwan verwandelt wurde? Nachts hat sie ein Bad im Meer genommen, dazu ihr Flügelkleid abgelegt. Das hat ein Bursche gesehen, der darauf ihr Flügelkleid versteckt hat. Er hat sie auf der Stelle zur Frau genommen und glücklich mit ihr zusammen gelebt, bis sie das Versteck ihres Flügelkleides entdeckt hat. Sofort hat sie ihre Flügel angelegt und ist für immer fort geflogen.

Gerrit sann kurz darüber nach, ob diese Schwanenfrau Mary ähnelte oder einer anderen Frau, die in seinem Leben eine Rolle gespielt hatte, kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Kann ja noch kommen, sagte er sich lachend, Schwäne sah er in den Marschen jedenfalls genug.

Was sollte er Mary zum Abendessen mitbringen? Was den Kindern? Kopfschüttelnd fragte er sich, warum er die ganze Zeit an diese Frau dachte, die so wunderschön nun auch wieder nicht aussah, ziemlich weiblich und üppig, ganz und gar nicht sein Typ. Und dann die Sache mit der weiblichen Intuition. Wenn Frauen anfangen mit ihrer Intuition zu argumentieren, das musste er sich eingestehen, dann reagierte er sofort mit einer Abwehrhaltung. Aber hatte sie nicht recht? Wieso wollte seine Tante dieses schöne Haus für immer aufgeben? Auf ihr Vermögen verzichten? Wovon wollte sie leben, sie war schließlich kein Aussteiger-Typ. Stand es denn fest, dass sie ihm ihr gesamtes Vermögen vermacht hatte? Irgendetwas stimmte nicht, da lag Mary schon richtig.

Er versuchte, sich wieder auf Tantes Büchersammlung zu konzentrieren, spürte aber bald, wie hungrig er war, und beschloss, im nahen Marktstädtchen Fish and Chips zu essen. Vielleicht würde ihm dabei einfallen, wie er Viktorias Piratinnen-Tick für seinen Roman verwenden könnte.

Seinen Leihwagen hatte er zurückgegeben, warum sollte er nicht Viktorias silbergrauen Volvo benutzen? Er bog die Küstenstraße ein, fuhr langsam durch das Dorf und beschleunigte an der Steigung zum Inland hin. Die Hecken an beiden Straßenseiten waren beschnitten worden. Sie wurden durch efeuumrankte Eichen unterbrochen. Er durchquerte ein kleines Waldstück, danach stieg die Straße kurvig an. Das Schiebedach hatte er weit geöffnet. Es war ein sonniger, windstiller Tag, im Radio sang irgendein Engländer mit breitem Akzent:

„Arm am Beutel, krank am Herzen,

Schleppt ich meine langen Tage.

Armut ist die größte Plage,

Reichtum ist das höchste Gut!

Und, zu enden meine Schmerzen,

Ging ich, einen Schatz zu graben.

Meine Seele sollst du haben!

Schrieb ich hin mit eignem Blut“

War das nicht von Goethe? Der Schatzgräber könnte es sein, sann er nach ...


Plötzlich sah er einen grünen Trecker vor sich, mitten auf der engen Straße. Der bleibt doch wohl nicht da stehen, dieser Idiot, dachte er in Panik, wie soll ich da vorbeikommen? Er bremste, die Reifen quietschten fürchterlich, der Bremsassistent griff ein, aber er kam mit zwei Rädern von der Straße ab, dann konnte er nicht mehr lenken und landete in einem flachen Graben.

Er stieg langsam aber zitternd aus, sah seine schwarze Bremsspur auf dem grauen Asphalt. Der Volvo schien unbeschädigt zu sein. Gerrit wollte sich beruhigen, aber als er den Rückwärtsgang einlegte, den Wagen mit Mühe zurück auf die Straße brachte, bemerkte er, wie seine Hände immer noch zitterten. Der grüne Trecker knatterte einen Waldweg entlang. So ein Vollidiot, erregte er sich, so blöd kann man doch nicht sein, der muss mich doch gesehen haben! Anstatt auszuweichen, fährt der genau mitten auf die Straße, so wie die Filmgangster einen LKW mitten auf die Straße rollen lassen, wenn sie jemanden umbringen wollen. Glatter Mordversuch!

Ich hasse Männer, die in solchen Situationen hysterisch reagieren und wild herumfantasieren, ärgerte er sich, ich sollte einsehen, dass ich einfach zu schnell gefahren bin, viel zu schnell für diese enge Straße, dazu dieses Lied im Radio.

Der Appetit auf Fish and Chips war ihm vergangen. Beim Friedhof am Ortseingang drehte er und fuhr nach Hause zurück.

Als er zu Viktorias Haus abbog, fiel sein Blick kurz auf Marys Cottage. Sollte er zu ihr gehen und von dem Vorfall erzählen? Was würde sie dazu sagen? Sie kannte sich doch hier aus, vielleicht wusste sie mehr. Er nahm sich vor, das nächste Mal, wenn sie auf Viktorias Verschwinden zu sprechen kommen würden, nicht sofort abzublocken. Konnte es sein, dass die „Intuition“ nur vorgeschoben war, dass sich dahinter handfeste Argumente verbargen?

Doch im Moment war ihm nur nach Ruhe zu Mute. Er ging rasch ins Haus und wandte sich auf der Stelle wieder Tantes Büchern zu, da er wusste, zwischen den Bücherstapeln werde er sich am schnellsten von dem Schrecken erholen können.

Das Regal, dem er sich zuwandte, enthielt fast ausschließlich Bücher über Piraterie, weibliche Piraterie. Piratinnen, Piratinnen, Piratinnen, stöhnte Gerrit. Ob es da einen Zusammenhang gab? Viktoria und ihre Piratinnen, fiel Gerrit ein, haben zumindest eins gemeinsam: Sie verzichten auf das, wonach sich eine Frau sehnt, auf einen Mann, ein gemütliches Heim und auf Kinder. Träumt davon nicht jede Frau? Fehlt nicht auch Mary zu ihrem hübschen Haus und den Kindern nur noch ein passender Mann und Vater, und schon wären das Glück komplett? Die Frau, die sich nach dem Glück im trauten Familienkreise sehnt, ist das nur ein Klischee? Eine von der Männerwelt aufgezwungene Rolle? Aber ist das nicht auch ein Männertraum? Gerrit merkte verwundert, wie er sich ein kleinbürgerliches Idyll mit sich als Familienvater ausmalte.

Ein paar billige Taschenbücher mit kitschig-erotischen Titelbildern erregten seine Aufmerksamkeit. Wieder ging es um Piratinnen, aber diesmal handelte es sich nicht um wissenschaftlichen Titel, nicht einmal um Populärwissenschaft, sondern um erotische Romane für Frauen. Alle fünf Bücher waren Gerrit völlig unbekannt, sie waren in Verlagen erschienen, die nicht gerade zu denen gehörten, deren literarisches Programm er verfolgte. Dass es einen Spezialverlag für „erotische Romane von Frauen für Frauen“ gab, war an ihm bisher völlig vorüber gegangen.

Mal sehen, sagte er sich, bei solchen Büchern findet man die entscheidenden Stellen meistens, indem man sie in seine linke Hand nimmt und mit dem Daumen seiner rechten Hand geradezu zärtlich die Seiten sich langsam aufblättern lässt. An den Stellen allgemeinen Interesses, das hatte Gerrit schon als Jugendlicher gelernt, öffnet sich ein Buch willig und gibt seinen Text preis.

Das musste er sofort ausprobieren. Werdet wie die Kinder, dachte er grinsend und begann, wie ein unbedarfter Besucher eines Buchladens zuerst nach jenem ausgelegten Buch zu greifen, dessen Umschlagsbild ihm gefiel. Von den erotischen Piratinnen-Romanen sprach ihn am meisten „Der Pirat und die Dirne“ an, ein Buch mit einer blonden Frau auf dem Titel, das er nie in Viktorias Bibliothek vermutet hätte. Und er hatte von Tantes erlesenem Geschmack geschwärmt! Oder sollte er Viktorias freien Geist bewundern? Er ließ die Seiten durch seinen Daumen verlangsamt sich selbst umblättern, konnte aber nicht vermeiden, hier und dort einen Abschnitt zu überfliegen.

Aber das Buch war offenbar ungelesen oder bestenfalls einmal überflogen worden, es gab keine besonderen Stellen preis. Gerrit war enttäuscht. Es ging um eine kluge Kurtisane und ihren Liebhaber, um eine schöne Frau und einen attraktiven Piraten, Abenteuer um eine Schatzkarte. Nach einer Weile fand er doch ein paar deftige erotische Schilderungen. Sagt mir das etwas über meine Tante, überlegte Gerrit? Aber es fiel ihm nichts ein, außer dass sein Freund Georg einmal gemeint hatte, jede Sammelleidenschaft besitze einen erotischen Aspekt, vom „Don-Giovannismus der Objekte“ hatte er gesprochen. Nein, die Geschichte mit der Schatzkarte erinnerte ihn an die Micky-Maus-Hefte. Finden nicht Tick, Trick und Track immerfort Schatzkarten? Nur so viel gevögelt wie in dieser Abenteuer-Liebe-Sex-Story wird bei Donald Ducks Neffen nicht, überlegte er grinsend.

Schatzkarten, Schatztruhen – als Kind hatte ihn dergleichen beeindruckt, die entsprechenden Jugendbücher hatte er verschlungen, ergriffen von mit Tang umrankten Schatztruhen gelesen, die stets zu schwer zu heben waren. Manchmal war der Deckel geöffnet und gab den Blick auf Goldmünzen, Perlenketten und riesige, funkelnde Edelsteine frei. Einem Erwachsenen ist klar, was es damit auf sich hat, dachte er, was anderes spiegelt sich hier als eine naive Gier, die gleiche Gier, die jeden Glücksspieler sein Geld in den Automaten werfen und den Tipper seinen Lottoschein ausfüllen lässt. Ein universales Phänomen, hatte er einmal in einer Abhandlung geschrieben, um das sich allerlei Aberglauben rankt, wie der Topf voll Gold, der am Ende des Regenbogens auf den Finder wartet, die goldgelben Blumen, die dem Wissenden den Ort der Schätze unter der Erde anzeigen, dazu diese ganze Gralssuche, all die kühnen Helden, die echten Männer, die allein dazu auserkoren waren, die Schätze zu finden und zu bergen.

Wieso interessiert sich Viktoria für Piratinnen und Piraten, überlegte er. Wohl nicht wegen der Sex-Szenen? Hatte sie eine heimliche Neigung zu Piraten, zu echten Kerlen? Doch ging es in allen fünf dieser sogenannten erotischen Romane für Frauen um weibliche Piraten, um wilde Frauen? Träumte Viktoria davon, eine Piratin zu sein? Ein Weib, das das geordnete Leben durch Wildheit ersetzt, war das der geheime Traum der wohlerzogenen Tante? Sollte er so die Hauptperson seines Romans entwerfen?

Vielleicht sollte er sich jetzt an den kleinen Damenschreibtisch setzen und einfach drauflos schreiben, völlig spontan. Aber bereits beim ersten Schritt auf den Schreibtisch zu fiel ihm ein, dass er erst seinen Freund Georg anrufen könnte, Georg würde ihm bestimmt einen Tipp geben können.


„Viktoria als Piratin, die ihre geheimen erotischen Fantasien auslebt, naja, damit liebäugele ich zur Zeit“, sagte er, „ich denke an so was wie einen altertümlichen Abenteuerroman, so ähnlich wie Erica Jongs ‚Fanny‘, im Stil des achtzehnten Jahrhunderts“.

Georg kannte „Fanny“ nicht, er konnte sich offenbar keinen Reim auf Gerrits Ideen machen, denn er fragte erstaunt: „Geheime Fantasien? Was für Fantasien soll denn deine Tante gehabt haben? Oder willst du auf diesem Weg eigene unterdrückte Sex-Fantasien loswerden? Nur zu, so was soll therapeutisch sinnvoll sein, sagt man doch so.“

Gerrit, der nicht zugeben wollte, wie unklar ihm selbst die ganze Sache war, antwortete nach einer kleinen Pause, wobei er sich wunderte, wie überzeugend seine Stimme klang: „Das Thema des Romans jedenfalls steht fest.“

„Immerhin etwas. Der erste Schritt zum Reichtum. Aber heiraten musst du doch auch noch, bevor der Geldsegen kommt. Na, hoffentlich passt die Auserwählte zu deinen Sex-Fantasien.“

Gerrit war das Thema peinlich. Nach einer kleinen Pause antwortete er:

„Noch habe ich keinen Satz zu Papier gebracht, aber ich wollte gerade los schreiben, mir juckt es in den Fingern.“

„Klar, solche Fantasien warten nicht gerne, da juckt es einen schon mal. – Nein, im Ernst, einfach drauflos zu schreiben, das wird nichts – Deine Tante als Seeräuberin, willst du meine ehrliche Meinung hören? Das klingt völlig abgehoben, eher nach schlechter Fantasy – na ja, Fantasy soll gerade „in“ sein. Aber du und Fantasy, meinst du, Fantasy ist wirklich dein Ding? Wenn du mich fragst: Lass dir das lieber noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen. Du scheinst es plötzlich mächtig eilig zu haben, täusche ich mich, oder stehst du wirklich unter Dampf wie der feurige Elias?“

Unter Dampf? Ich? Kann sein, dachte Gerrit. Hätte er jetzt das Stichwort „Mary“ fallen lassen, hätte Georg sich bestätigt gefühlt, ein Triumph, den er ihm nicht gönnen wollte. Er brach das Telefonat ziemlich abrupt ab: „Hier passiert so viel, das muss ich dir später ausführlich erzählen. Jetzt knurrt mein Magen, ich melde mich wieder.“


Der Hunger war nicht völlig frei erfunden, tatsächlich hatte er seit dem Frühstück nichts gegessen. Zum Glück stand in der Küche noch ein Rest Spaghetti von gestern, den er sich schnell aufwärmen konnte. Zwei Eier darüber, fertig. Bei seinem einsamen Essen blätterte er in einem reich bebilderten Buch über Eisberge, konnte sich aber nicht konzentrieren.

Er ließ Teller und Besteck stehen, ging zurück zu Viktorias Büchern und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Draußen war es vollständig dunkel geworden, die wenigen Geräusche waren verstummt. Er fühlte sich plötzlich müde. Dieser Unfall und Marys Warnung, die Sache ließ ihn nicht los. Verglichen damit war Viktorias seltsames Faible für unmöglichen Piratinnen-Schmöker völlig harmlos, eher eine lustige Schrulle.

Gerrit starrte auf das Titelbild von „Der Pirat und die Dirne“. Die abgebildete Frau trug sozusagen ihre Berufskleidung, ein altertümliches grünlich gemustertes Korsett mit schwarzen Spitzen. Komisch, in dem Traum letztens hatte Rebecca auch so ein Mieder getragen. Stehe ich eigentlich gar nicht drauf, auf solchen Korsett-Kram, sagte er sich. Welch ein seltsamer Traum das doch gewesen war! Er starrte auf das Buch und hing seinen Gedanken nach. Piratin und Traum-Rebecca gingen ineinander über. Das Bild schien sich zu bewegen, die Frau wurde immer plastischer, endlich trat sie aus dem Buch heraus und reckte sich.

„Was für einen Quatsch sich Männer immer so zusammendenken“, sagte die Gestalt mit einer etwas heiseren, aber durchaus angenehmen Stimme zu Gerrit, „besonders Männer, die lange Zeit nicht bei einer Frau gelegen haben, die neigen zum Spekulieren. Komm, lass uns in dein warmes Bett kriechen, mir ist kalt, seit Jahren schon. Meinst du, es ist angenehm, nichts anderes anziehen zu können als diese Puff-Unterwäsche? Wir Piratinnen sind karibische Sonne gewohnt, hier frieren wir uns zu Tode“, rief sie aus und setzte sich auf Gerrits Schoß. Er spürte ihren kalten Körper, aber bevor er irgendetwas tun konnte, fingen der Schreibtisch und die Bücherregale derart an zu schwanken, dass ihm schwindlig wurde. Er sprang vom Stuhl auf, um sich irgendwo festzuhalten, Stuhl und Schreibtisch fielen mit großem Gepolter um.

Gerrit stand mit klopfendem Herzen da, die Gestalt war weg. „Der Pirat und die Dirne“ war auf den Boden gefallen. Er wollte das Buch zurück an seinen Platz stellen, aber obwohl er der Meinung war, nur in einen kurzen Schlaf gefallen zu sein, zögerte er. Arme Piratin, dachte er, vielleicht würde es helfen, wenn ich das Buch auf die Heizung lege.



Tantes Tod

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