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4. Kapitel

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Die Aufführung der „Lederköpfe“ war ein großer Erfolg, und auf der Premierenfeier, die feucht-fröhlich bis in die frühen Morgenstunden andauerte, gab jeder irgendetwas zum Besten. Doris und Bröml sangen bis zum Erbrechen „Wenn die Igel in der Abendstunde“, und Wolfgang erzählte, wie das Arbeitertheater Schwedt zu seiner Goldmedaille gekommen war.

„Weil das Stück noch nicht fertig geschrieben war, sollten wir nicht für die Arbeiterfestspiele nominiert werden“, erzählte Wolfgang. „Aber da erschien plötzlich Hans-Peter Minetti, den ich als Achtjähriger im Thälmann-Film bewundert hatte, auf einer der Abendproben.“

Minetti war in der Programmkommission der Arbeiterfestspiele, und er war nach Schwedt gekommen, weil ihn sein Freund Gerhard Winterlich, der Leiter des Arbeitertheaters, darum gebeten hatte. Winterlich kannte Minetti vom Schauspielstudium in Weimar her, und er wollte wissen, ob sein Stück für eine Teilnahme an den Arbeiterfestspielen tauge.

„Minetti, der Mitglied des ZK der SED war, zeigte sich nach der Probe beeindruckt und versprach, sich dafür einzusetzen, dass wir ins Festprogramm aufgenommen würden“, erzählte Wolfgang. „Minetti sagte, dass er auf der nächsten ZK-Tagung darüber sprechen wolle, wie ökonomische Probleme, die in Wirklichkeit noch nicht gelöst seien, auf der Bühne bereits gelöst würden. Und als Beispiel dafür werde er ‚Menschen in Bewährung‘ anführen. Nach Minettis Rede auf dem 9. Plenum des ZK der SED waren wir aus dem Schatten des Kulturhaussaales ins Licht der Öffentlichkeit getreten, und Minetti sorgte dafür, dass wir für die Arbeiterfestspiele nachnominiert wurden.“

„Freunde im ZK muss man haben“, sagte Kuhnert, und der Stadträtin für Kultur, die Wolfgangs Rede vergnügt zugehört hatte, kam ein Gedanke. „Was hältst du davon“, sagte sie zu Kuhnert, „wenn wir euch zu den nächsten Arbeiterfestspielen delegieren würden?“

Kuhnert war begeistert: „Wir müssten nur ein passendes Stück finden.“

„Das dürfte doch keine große Schwierigkeit sein“, sagte die Stadträtin für Kultur mit ihrer verrauchten Stimme.

Bei der nächsten Aufführung der „Lederköpfe“ in der Mensa saß die Stadträtin mit zwei Mitarbeitern der Gewerkschaft Kunst im ausverkauften Zuschauerraum. Nach der Vorstellung bat Kuhnert alle Darsteller, sich im Saal einzufinden. Die Stadträtin für Kultur eröffnete allen Anwesenden, dass die Studiobühne, auf Grund ihrer gezeigten Leistungen, für die Arbeiterfestspiele vorgesehen sei. Sie sagte, mit Blick auf die zwei Herren, die sie mitgebracht hatte, dass im Vorfeld die Wahl auf Alexej Nikolajewitsch Arbusows „Der weite Weg“ gefallen sei.

Bei Arbeiterfestspielen seien Uraufführungen gefragt und Arbusows Stücke würden derzeit von fast jedem Theater gespielt, gab Wolfgang zu bedenken. Kuhnert hingegen war begeistert. Für die Studentenbühne sei es ungemein wichtig, eine große Inszenierung zu machen, die zudem noch großzügig gefördert würde. Allerdings sehe er ein, dass man das Stück nicht so spielen könne, wie es vorliege. Er denke da an eine eigene Bearbeitung.

Hetzel erklärte, das sei eine gute Möglichkeit, sich mal einem breiten Publikum zu präsentieren, und die Mehrheit stimmte dem Vorschlag der Stadträtin für Kultur zu.

Doch Edda und Wolfgang waren nur schwer davon zu überzeugen, dass „Der weite Weg“ das richtige Stück sei. Es spielte 1935, als in Moskau die Metro gebaut wurde.

Verärgert über das Abstimmungsergebnis vom Vorabend saß Wolfgang am nächsten Morgen in der Kaffeestube der Uni, als plötzlich Edda hereinschneite und ihm zu seinem großen Erfolg gratulierte. Als sie Wolfgangs verdutztes Gesicht sah, musste sie lachen. „Du erhältst den Lyrikpreis der Friedrich-Schiller-Universität in diesem Jahr“, sagte sie. „Hier ist der Beweis.“

Sie reichte ihm die druckfrische Uni-Zeitung über den Tisch:„Auf den Innenseiten in der Mitte.“

Auf der rechten Seite war die Ehrentafel der Preisträger abgedruckt, auf der Wolfgang seinen Namen las. Auf der linken Seite standen zwei Gedichte von ihm: „Mahnung“ und „Alltäglich“. Thema des einen war der Vietnam-Krieg, Thema des anderen der Atomtod.

„Schade, dass man nur deine politischen Gedichte abgedruckt hat“, sagte Edda.

Mitte Juni war die Auszeichnungsveranstaltung, die sich Edda nicht entgehen ließ. Die Veranstaltung fand im kleinen Kreis statt, und der Clubraum des Kulturbundes mit seinen wenigen Plätzen war völlig ausreichend.

Nachdem jeder Preisträger drei seiner Gedichte vorgetragen hatte, überreichte Doktor Schütt die Preise. Wolfgang erhielt ein Medaillon, auf dem der junge Schiller zu sehen war.

„Als Ansporn für die weitere literarische Arbeit“, sagte Schütt, den Wolfgang von seiner Aufnahmeprüfung her kannte.

Nach dem offiziellen Teil saßen Wolfgang und Edda mit den anderen Preisträgern zusammen. Es wurde viel geredet und gesoffen. Von einem Jurymitglied habe er erfahren, dass Doktor Schütt das Zünglein an der Waage gewesen sei, sagte Lüttke, für den es nur zum zweiten Preis gereicht hatte. „Wenn er nicht für dich gestimmt hätte, hätte ich die Nase vorn gehabt“, konstatierte er etwas beleidigt.

„Doktor Schütt scheint mein Glücksbringer zu sein“, sagte Wolfgang. Nach seinem Reinfall an der Schauspielschule in Schöneweide hatte er sich in einem Anflug von Verzweiflung und Größenwahn an der Uni in Jena beworben und war im April 1967 zu seiner Überraschung zur Eignungsprüfung eingeladen worden.

Für Wolfgang war es ein Glücksfall, dass Doktor Schütt der Hauptprüfer war. Schütt war Sprachwissenschaftler, gab Seminare in Mittelhochdeutsch, hielt Vorlesungen in Wortbildung, und ein Steckenpferd von ihm war das Theater.

Bevor er mit dem Prüfungsgespräch begann, blätterte Doktor Schütt in den Bewerbungsunterlagen, und die Vier in Geschichte schien ihn zu irritieren.

„Sie wissen, dass es nicht einfach werden wird, mit diesem Zeugnis Geschichte zu studieren“, schickte er voraus, und der Regionalgeschichtler Doktor Brunnengräber, der als Zweitprüfer neben Schütt saß, nickte bestätigend.

„Ich weiß.“ Auf Schütts Frage, wo er jetzt arbeite, antwortete Wolfgang:

„Im Erdölverarbeitungswerk Schwedt. Da bin ich Motorenschlosser, und in meiner Freizeit spiele ich Theater.“

Wolfgang erzählte begeistert, wie Gerhard Winterlich, Schauspieler und Regisseur aus Dresden, auf die Großbaustelle Schwedt gegangen sei und ein Stück über das Erdölverarbeitungswerk schreibe, in dem Wolfgang mitspiele.

„Da wissen Sie ja besser über den Bitterfelder Weg Bescheid als ich“, Doktor Schütt lächelte und zog genüsslich an seiner Zigarre. Anscheinend mochte er Proleten, die Theater spielten und Schriftsteller, die den Bitterfelder Weg beschritten. Doktor Brunnengräber war mit Wolfgangs Antworten, die für einen Zweitfächler in Geschichte ausreichend zu sein schienen, zufrieden. Wolfgang hatte seine Aufnahmeprüfung bestanden.

„Doktor Schütt scheint auf Autoschlosser wie mich zu stehen“, sagte Wolfgang zu Lüttke. Mit seinen 34 Jahren studierte Lüttke Philosophie.

Davor war er Baggerfahrer im Braunkohlentagebau gewesen und hielt sich, wenn er besoffen war, für den größten Lyriker der Jetzt-Zeit. Ständig versuchte er, Edda anzumachen, und wurde nicht müde, ihr sein Gedicht „Schenkel, geworfen ins All“ ins Ohr zu blasen.

So auch jetzt. Edda fand Lüttkes Annäherungsversuche widerlich und bat Wolfgang: „Lass uns gehen.“

„Jetzt schon?“ Wolfgang unterhielt sich gerade angeregt mit dem Chefredakteur der Universitätszeitung, der sich der Landschaftslyrik verschrieben hatte.

„Jetzt schon!“, wiederholte Edda dringlich und entschieden. Vor der Tür änderte sie ihre Meinung. „Ich habe keine Lust, jetzt schon nach Hause zu gehen.“

„Ich auch nicht“, sagte Wolfgang. „Wie wär‘s mit dem Fuchsturm bei Nacht?“

„Auf jeden Fall aufregend.“

Manchmal war es gruselig und beschwerlich, auf nächtlichen Wegen durch den Wald oder dicht am Abhang entlang zu laufen. Als sie den „Fuchsturm“ erreichten, war die Gaststätte geschlossen. Dennoch bedauerten sie nicht, den langen Weg gemacht zu haben.

Sie genossen den warmen Sommerabend, und sie fanden es unheimlich romantisch, von der alten Mauerbrüstung aus auf die Lichter der Stadt zu sehen, die tief unten im Tal lag.

Der nachtdunkle Wald umgab sie. Als im nahen Gehölz ein Hase aufsprang, schrak Edda zusammen. Wolfgang nahm ihr die Angst, indem er sie fest umarmte, und sie küssten sich. Wolfgang spürte Eddas weiche Lippen und ihren feuchten Mund.

Während er nicht müde wurde, Edda zu streicheln und zu küssen, machte sie den Reißverschluss ihrer Männerjeans auf. Doch da er in seiner Unerfahrenheit nicht tat, was Edda anscheinend von ihm erwartete, konnte sie nicht ahnen, wie stark er nach ihrem Körper verlangte, und da er Edda aus falscher Scham nicht offen sagte, was er für sie empfand, konnte sie auch nicht wissen, wie sehr Wolfgang sie liebte. Und so musste sie zu dem Schluss kommen, dass Wolfgangs Liebe zu ihr rein platonischer Natur war.

Weder Wolfgang noch Edda konnten sich erklären, weshalb Kuhnert mitten in der Prüfungszeit eine außerordentliche Mitgliederversammlung der Studentenbühne einberufen hatte. Kuhnert gehörte zu den wenigen Diplomanden des Germanistischen Instituts und lenkte seit drei Jahren erfolgreich die Geschicke der Studentenbühne. Für alle unerwartet erklärte Kuhnert, dass sich für ihn kurzfristig eine Regieassistenz am Theater in Gera ergeben habe und er deshalb die Leitung der Studentenbühne von heute auf morgen abgeben müsse. Auch könne er nicht, wie beabsichtigt, die Regie für den „Weiten Weg“ übernehmen.

Alle dachten, Bröml, der als Stadthauptmann in den „Lederköpfen“ geglänzt hatte, würde Kuhnerts Nachfolge antreten. Aber der erklärte: „Mit Beginn des vierten Studienjahres beginnt für mich das ‚Große Schulpraktikum‘. Das geht bis Dezember. Dann habe ich meine Staatsexamensarbeit zu schreiben. Dann kommen die Abschlussprüfungen. Viel Zeit fürs Theaterspielen bleibt mir da nicht.“

Damit war Bröml aus dem Rennen, und alle sahen sich verwundert und ratlos an. Der einzige, der eine Antwort zu haben schien, war Kuhnert. Er meinte, es sei zwar ungewöhnlich, wenn die Leitung der Studentenbühne in die Hände eines Mannes aus dem ersten Studienjahr gelegt würde. Aber er sehe in Wolfgang einen geeigneten Nachfolger. Erst gestern sei Wolfgang mit dem Lyrikpreis ausgezeichnet worden, und so traue er ihm zu, das Stück „Der weite Weg“, wie vorgesehen zu bearbeiten. „Auch zweifle ich nicht daran, dass Wolfgang Regie führen kann“, erklärte Kuhnert. Und was die Arbeiterfestspiele betreffe, habe Wolfgang die meisten Erfahrungen. Er sei also der richtige Mann für die Aufgaben, die ab Herbst anstehen würden, und so wurde Wolfgang von einem Tag auf den anderen Leiter der Studentenbühne.

Die Mitglieder der Studentenbühne waren vom Ernteeinsatz befreit, und so hatten sie bis Mitte Oktober Zeit, sechs Wochen lang ungestört zu proben.

Schneller als gedacht waren die Leseproben zu Arbusows „Der weite Weg“ abgeschlossen, und Wolfgang konnte mit dem Proben der einzelnen Szenen beginnen, die er bereits umgeschrieben hatte. Aber mit der Euphorie des Probens war es vorbei, als die Stadträtin für Kultur Wolfgang brieflich mitteilte, es sei nicht mehr daran gedacht, die Studiobühne zu den Arbeiterfestspielen zu delegieren. Am Telefon sagte sie ihm, die Kommission, die die Studentenbühne für die Arbeiterfestspiele vorgeschlagen habe, sei zu dem Schluss gekommen, dass Arbusows Stück nur geringe Erfolgsaussichten habe.

Mit dieser Hiobsbotschaft hatte niemand gerechnet. Aber alle Beteiligten waren Wolfgangs Meinung: „Es wird nicht weiter probiert. Wir setzen das Stück ab.“

Leben ohne Maske

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