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10. Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Morgen fuhr Wolfgang mit dem Bus von Birkenhall aus zurück nach Erfurt. Auf der Rückfahrt musste er an den ersten Abend in Arnsbach denken: August Stillmark war in Erzähllaune gewesen und hatte sich im Herbeten seiner Vorfahren, die bis ins vierte Glied zurückreichten, gefallen. Die breiten Hüften, die alle Büchnerschen Frauen hätten, seien auf die Urgroßmutter seiner Mutter zurückzuführen. Die habe Maria Barbara geheißen. Und Heidi schlage in diese Linie.
August Stillmark war versessen auf Familiengeschichte, und es interessierte ihn brennend, wo Wolfgang geboren worden war. „In Hausdorf“, sagte Wolfgang. Aber er wusste nicht, wo das lag. Er kannte den polnischen Namen seines Heimatdorfes nicht, und er wusste auch nicht, wo er die ersten beiden Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Wolfgangs Auskunft, dass er nicht wisse, wo sein Geburtsort sei, quittierte August Stillmark mit einem Kopfschütteln. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, dass jemand seinen Geburtsort nicht kannte und nichts über seine Vorfahren wusste.
Als Wolfgang sagte, dass er aus Schlesien stamme und in Sachsen aufgewachsen war, meinte August Stillmark: „Also bist du ein Evakuierter“, und ausladend breit erklärte er, dass die Leute in Arnsbach in Hiesige, Unhiesige, Zugezogene, Fremde und Evakuierte eingeteilt würden.
„Ich als Einheimischer bin ein Hiesiger, weil ich in Arnsbach geboren bin“, dozierte er. „Meine Frau ist eine Unhiesige, weil sie aus einem der umliegenden Dörfer stammt. Und wer in Arnsbach wohnt, ohne in eine hiesige Familie eingeheiratet zu haben, ist ein Zugezogener. Und wer von weiter her ist – zum Beispiel aus Berlin – ist ein Fremder. Und Evakuierte sind Leute, die nach dem zweiten Weltkrieg aus Schlesien, Pommern oder Ostpreußen kamen und hier hängengeblieben sind.“
Auf der Stufenleiter der gesellschaftlichen Anerkennung standen die Evakuierten, zu denen Wolfgang zählte, auf der untersten Sprosse der Dorfhierarchie.
„Für kurze Zeit hatten wir auch mal Evakuierte im Haus. Zwangseinquartierung“, sagte August Stillmark. „Butzke hießen die Leute und wohnten oben in der Mansarde.“ Sie seien aus Schlesien, aus der Nähe von Breslau, gekommen und Anfang der 50er-Jahre nach Hessen gegangen, wo ihr Sohn bei einem Bauern untergekommen war.
„Wir waren heilfroh, als sie endlich auszogen und wir wieder das Haus für uns alleine hatten“, sagte August Stillmark.
Wenn Wolfgang daran dachte, welch großen Wert August Stillmark auf Herkunft, Heimat und all den Kram gelegt hatte, kam ihm die Welt, in der Heidi lebte, bizarr und unendlich fremd vor, und er konnte sich beileibe nicht vorstellen, irgendwann einmal in Arnsbach leben zu müssen. Großstädte hatten etwas Inspirierendes für ihn, und er war froh, wieder zu Hause in Erfurt zu sein.
Wolfgang saß im Wohnzimmer und hämmerte von morgens bis mittags auf seine alte Reiseschreibmaschine ein, und mit Riesenschritten schrieb er sich auf das Ende des Stücks zu, dessen Inhalt schnell erzählt ist: André, die Hauptfigur, hat die Schnauze gestrichen voll von der Schule, dem Lehrmeister und seinem Vater. Von Abenteuerlust getrieben, geht er auf eine Großbaustelle. Als er sich in die sieben Jahre ältere Kellnerin Irene verliebt, gibt sie ihren zwielichtigen Lebenswandel und er sein Frust-Saufen auf. Er versucht ernsthaft, seinen Platz im Leben zu finden. Er geißelt die Scheinmoral und versucht, die Gesellschaft zu ändern. Am Ende des Stücks gibt Irene ihr verruchtes Kellnerinnen-Dasein auf und beschließt, in einer neu erbauten Kaufhalle als Verkäuferin zu arbeiten. Sie glaubt, dass Andrés Liebe so groß sei, dass er bei ihr bleibe. Aber André sieht ein, dass die Großbaustelle nicht seine Endstation sein kann. Er verlässt Schwedt und lässt Irene, die mit ihm ein neues Leben beginnen wollte, enttäuscht zurück und beginnt im Herbst 1965 mit dem Studium.
Die Geschichte, an der Wolfgang schrieb, nahm ihn so gefangen, dass es ihm nichts ausmachte, wenn seine Großmutter, von einer unbändigen Unruhe getrieben, in der Wohnung herumgeisterte. Während er schrieb, ging sie in der Stube unruhig umher, packte Sachen und hantierte an der Schutzkette der Korridortür herum. Nach Hause wollte sie, wenn man sie fragte.
Wolfgang ging äußerst liebevoll mit seiner Großmutter um, selbst wenn das Herumhantieren an der Schutzkette ungeheuer nerven konnte, flippte er nie aus. Vielleicht war ihm deshalb die Anfangsszene so gelungen, in der der alte Linke, etwas vergesslich schon, ständig nach der Zeitung fragt, die noch nicht gekommen ist.
Bis seine Mutter, die halbe Tage im Kaufhaus arbeitete, nach Hause kam, kümmerte sich Wolfgang um seine Großmutter. Sie war leicht dement und konnte nicht mehr alleine auf die Straße gelassen werden. Denn in einem herannahenden Auto sah sie keine Gefahr. So nahm Wolfgang sich oft Zeit und ging mit seiner Großmutter in den Anlagen entlang des Flutgrabens spazieren. Und er hatte sich daran gewöhnt, dass sie ihn mit ihrem Sohn verwechselte und ihn Heinrich nannte. Onkel Heinrich war Theatermaler in Berlin gewesen und 1942 in Russland gefallen.
Sobald seine Mutter die Wohnung betrat, verließ Wolfgang das Haus und erholte sich vom Schreiben und dem Aufpassen auf seine Großmutter, indem er Nachmittage lang die Stadt durchstreifte.
Auf einem seiner Streifzüge begegnete er Trebing, den er seit seiner Oberschulzeit kannte und urig lange nicht gesehen hatte.
Trebing, auf Kurzbesuch bei seinen Eltern, erzählte Wolfgang, dass er sein Studium an der TU Dresden nach drei Jahren geschmissen habe und jetzt Volontär beim Fernsehen sei. „Ich habe riesiges Glück gehabt, dass ich zu den 20 Volontären für Regie gehört habe“, meinte Trebing.
„Schon ab diesem Jahr wurde keiner mehr angenommen.“
Wie sie früher in der Mitropa gesessen hatten, saßen sie jetzt in der Bodega, bestellten in schneller Folge Bier, das ihnen die resolute Wirtin mit der verrauchten Stimme und den dicken Oberarmen auf die blank gescheuerte Tischplatte stellte.
„Wir Volontäre haben uns sehr schnell angefreundet“, sagte Trebing, und trank den Schaum ab, bevor er am beschlagenen Bierglas herunterlaufen konnte. „Jeden Abend treffen wir uns irgendwo und diskutieren, und in einem Punkt sind wir uns alle einig: Im Suff hat man die besten Ideen.“
Daher seien sie selten nüchtern, meinte Trebing lächelnd, bestellte sich einen doppelten Weinbrand und kam mächtig in Fahrt. Wolfgang, der an allem interessiert war, was Trebing über‘s Fernsehen zu berichten wusste, unterbrach den Dicken, wie Trebing auch genannt wurde, kein ein einziges Mal in seinem Redefluss.
Gleich am ersten Tag habe man ihnen gesagt, dass der Fernsehfunk nicht die Aufgabe hat, Kunst zu produzieren, sondern ein Propaganda- und Agitationsinstrument der SED sei, erzählte Trebing.
„Ziemlich hart“, sagte Wolfgang. Er wusste zwar, dass die Fernsehproduktionen nicht viel mit Kunst zu tun hatten, aber dass man das so offen zugab, erstaunte ihn schon.
„Das Beste, was wir haben, ist unser Berufsausweis“, sagte Trebing. „Damit kommt man praktisch in jede Veranstaltung. Man zeigt nur den Ausweis vor und sagt ‚Deutscher Fernsehfunk‘, da machen alle sofort eine tiefe Verbeugung und lassen dich hinein.“
Die Wirtin beugte sich über den Tisch, griff nach den leeren Biergläsern und fragte: „Noch’ne Runde?“
„Na, klar“, sagte Trebing, und Wolfgang nickte.
„Zum Fernsehen bin ich nur gegangen, damit ich an der Filmhochschule Babelsberg mal Regie studieren kann“, sagte Trebing. Zurzeit beschäftige er sich hauptsächlich mit regietechnischen Arbeiten für den Filmzirkel, erzählte Trebing. Daneben schreibe er auch Lieder und lyrische Prosa, und er zeigte Wolfgang ein Vietnamgedicht, das er in der letzten Zeit geschrieben hatte:
Vietnam
Die Blume
Zertreten im Staub
Verstummt das Lachen
Die Stadt ist wie tot
Und vor den Palästen der Kaiserzeit
Stehn feindliche Söldner, das Volk ist in Not
Da tönt der Ruf – FNL – durchs Land
Und eh‘ sich der Morgen im Flusse spiegelt
Ist die Stadt in ihrer Hand
Es weht eine Fahne über HUE
Geschmückt von Blumen
Die Fahne des Sieges
Es kam eine neue Zeit nach Hue
Mit Menschen, die schwören: Was auch gescheh –
Immer lebe Hue
„Vietnamgedichte sind eine schwierige Kiste“, sagte Wolfgang. „Ich hab mich noch nicht dran versucht.“
„Aber du könntest es“, sagte Trebing. „Du bist der größere Lyriker von uns beiden.“
„Im Moment jedoch“, sagte Wolfgang, „habe ich der Lyrik abgeschworen und schreibe gerade an einem Stück.“
„Thema?“
„Großbaustelle.“
„War ja auch nicht anders zu erwarten“, sagte Trebing und erinnerte sich daran, wie er und Wolfgang nach der Premiere der „Irkutsker Geschichte“ in der nächtlichen Mitropa gesessen hatten und, der Oberschule und der Lehrer überdrüssig, bis in den frühen Morgen Aufbruchspläne geschmiedet hatten. Sie hatten Brühe mit Ei gelöffelt und viel zu kaltes, schales Bier getrunken, und sie hatten durchs schmutzige Fenster der verräucherten Mitropa gesehen, wie sowjetische Soldaten, die Heimaturlaub bekommen hatten, auf dem Bahnsteig standen und mit ihrem schweren Gepäck in den Zug nach Brest stiegen.
„Sobald du fertig bist mit dem Stück, musst du mir unbedingt ein Exemplar schicken“, sagte Trebing.
„Versprochen“, sagte Wolfgang, als er mit Trebing die Bodega verließ.
Wenn Wolfgang über den Anger ging, traf er immer Freunde, mit denen er übers Theater und das Gedichteschreiben sprechen konnte. Meistens liefen ihm Meyer, ein Volontär bei der „Thüringischen Landeszeitung“, oder Jungschauspieler Pollatschek, der gerade probenfrei hatte, über den Weg. Meyer war zwei Jahre jünger als Wolfgang. Er war rothaarig und hatte mächtig viel Pomade in seine Haare geklitscht. Wie er sie am Morgen gekämmt und gescheitelt hatte, lagen sie noch am Nachmittag.
Meyer war immer in Eile und hatte eine komische Art, sich die Werke der Weltliteratur anzueignen. „Im Moment lese ich nur Stücke, weil mir die Zeit zum Romanelesen fehlt“, sagte er. „Strindberg steht auf meinem Programm. Den solltest du lesen“, riet er Wolfgang.
„Wie ich dich kenne, wirst du dich für ‚Fräulein Julie‘ begeistern“, sagte Meyer, der auf dem Sprung zum nächsten Pressetermin war.
Wesentlich mehr Zeit für ein Gespräch nahm sich Pollatschek. Unter der großen Angeruhr stehend, erzählte er Wolfgang von Claus Hammels „Morgen kommt der Schornsteinfeger“, einem Gegenwartsstück, das am Erfurter Schauspielhaus erfolgreich uraufgeführt worden war. Bei der Premiere habe es drei Mal Zwischenapplaus gegeben, einen davon habe er als Lyriker bekommen, sagte er. Dass man jetzt erwäge, die Rolle des Lyrikers aus Zeitgründen zu streichen, konnte er nicht verstehen und fühlte sich in seiner Ehre gekränkt.
Die Literaturwissenschaft, die von Hammel kaum Notiz nehme, sollte sich mal näher mit diesem Autor befassen, meinte Pollatschek und brachte Wolfgang auf die Idee, die Staatsexamensarbeit über Claus Hammels „Morgen kommt der Schornsteinfeger“ zu schreiben.
Aber vorerst schrieb Wolfgang an seinem Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, das Mitte September schon in seiner Gesamtheit vorlag, und es schien, als könne es, wie geplant, im April 1968 von der Studentenbühne aufgeführt werden.
Aber diesen Plan durchkreuzte eine Fisteloperation, der sich Wolfgang kurzzeitig unterziehen musste. Zuerst hatte er einen Furunkel am Hintern gehabt, dann war der Furunkel aufgegangen, aber eine stecknadelkopfgroße Öffnung war geblieben, aus der es ständig nässte. Obwohl es Wolfgang ziemlich peinlich war, ging er deshalb zum Arzt. „Eine Steißbeinfistel“, sagte der Arzt. „Keine große Sache. Das ist schnell gemacht“, und für Wolfgang war es beruhigend zu hören, dass mit einem längeren Studienausfall nicht zu rechnen sei.
Anfang Oktober sollte die OP sein, und so fuhr Wolfgang Ende September nach Jena, übergab Birgit Hielscher die Geschäfte der Studentenbühne und vervielfältigte mit ihr zusammen das Stück. Da nicht sicher war, ob Wolfgang zur Spielplanbesprechung Mitte Oktober schon wieder fit sein würde, instruierte er die Hielschern.
Er sagte ihr, wie sie beim Vorstellen des Stücks vorgehen solle und welche Besonderheiten sie unbedingt erwähnen müsse. Die erste Besonderheit sei, dass ein Student ein Stück für Studenten geschrieben habe, das in der Gegenwart spiele, sagte Wolfgang. Die zweite Besonderheit sei, dass er den Hauptdarstellern die Rollen buchstäblich auf den Leib geschrieben habe. Und drittens liege der besondere Reiz der Inszenierung darin, dass die Endfassung des Stücks während der Proben erarbeitet werde.
„Und was muss unbedingt gesagt werden, wenn es um den Inhalt des Stücks geht?“, wollte die Hielschern wissen. „Dass die Frage nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen wird, die jede Generation neu für sich beantworten muss“, meinte Wolfgang. Schon der Titel „Der Gast oder Der Versuch zu leben“ weise unmissverständlich auf diese Problematik hin.
Vier Wochen nach seiner Operation lag Wolfgang noch immer im Krankenhaus und hatte keine Kunde, wie die Spielplan-Diskussion Mitte Oktober ausgegangen war, und seine telefonischen Versuche, Birgit Hielscher zu erreichen, waren gescheitert. Vielleicht wurde der Termin verschoben, dachte Wolfgang, den das Schweigen der Hielschern arg beunruhigte. Erst Ende Oktober ließ sich Birgit Hielscher blicken. Sie kam laut lachend ins Krankenzimmer geschneit, und an der übertriebenen Freundlichkeit, die sie zur Schau stellte, spürte Wolfgang sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Ich habe eine traurige Nachricht für dich“, sagte sie. „Dein Stück ist abgelehnt worden.“
Dass es zu dieser Entscheidung gekommen sei, habe zum größten Teil an Hetzel gelegen, dem es mit seiner demagogisch plumpen Art gelungen sei, die Mehrheit der Leute hinter sich zu bringen, erzählte Birgit. „Zuerst machte sich Hetzel lustig über die grammatischen Fehler im Text, die eines Germanisten unwürdig seien. Dann bezeichnete er es als Größenwahn, wenn jemand wie du Autor, Hauptfigur und Regisseur in einer Person sein wolle“, berichtete sie. „Und meinen Einwand, dass wir uns schon am Nationaltheater Weimar nach einem jungen Schauspieler umgesehen hätten, der Regie führen könnte, ignorierte er mit einer nicht zu überbietenden Überheblichkeit.“
Hetzel habe den Oberassistenten heraushängen lassen, sagte Birgit Hielscher. Dann habe er mit seinem Verriss losgelegt, ohne dass jemand versucht hätte, ihn zu stoppen.
Hetzel, für den die Lehrstücke Brechts das hohe C der Theaterkunst waren, nahm Wolfgangs Stück wie einen faulen Fisch auseinander. Abgesehen davon, dass die Großbaustellen-Romantik eines Abiturienten kaum jemanden interessiere, war Hetzel der Meinung, dass dem Stück etwas sehr Wesentliches fehle, nämlich die dramatische Substanz. Das Stück habe keine Fabel und drehe sich nur um den Helden, der nichts weiter sei als ein Medium der Selbstverständigung. André, die Hauptfigur, wolle zwar anders sein als die anderen, aber dieses Anderssein würde nicht einleuchtend erklärt. Wie ein Messias käme André daher, wie ein passiver Wanderer aus Strindbergs „Damaskus“ gehe er durch die Welt und versteige sich in existenzialistische Formulierungen. Dies sei politisch untragbar, giftete Hetzel. Auch Mike Mutzke habe nicht mit herber Kritik gespart. Dass ein 18-jähriger Abiturient sich in eine sieben Jahre ältere Kellnerin verliebt, möge noch angehen. Aber dass ein 18-Jähriger und eine nuttige Kellnerin die Welt retten wollten, sei einfach lachhaft, meinte er. Im Übrigen sei die Weltsicht der Kellnerin Irene pessimistisch und menschenfeindlich, was durch nichts zu rechtfertigen sei.
Und Wachsmuth, der große Glattscheißer vor dem Herrn, fühlte sich bemüßigt zu erklären, dass er es ablehne, die Rolle des Karrieristen Frank zu spielen. „So sind unsere Menschen nicht“, habe er gesagt.
„Mit Hetzels Verriss hätte ich noch gerechnet“, sagte Wolfgang. „Aber nicht mit den Reaktionen von Mutzke und Wachsmuth.“
Aufs Schlimmste gefasst, fragte er die Hielschern, mit der er auf dem Krankenhaus-Balkon stand: „Und was haben Doris, Biene und Edda gesagt?“
„Edda hat geschwiegen, den ganzen Abend“, sagte Birgit. Aber Doris und Biene bliesen in Wachsmuths Horn. Biene meinte, sie habe keine Lust, eine Unterhaltungsschriftstellerin zu spielen, der es nur um Geld und Wohlstand gehe. Auch Doris erklärte, dass sie es ablehne, eine junge Journalistin zu spielen, die dem Autor nur als Beweis für die Scheinmoral der Gesellschaft diene, ansonsten aber völlig blutlos sei, und ihr kurzes Statement gipfelte in dem Satz: „Auch ich halte den jetzigen Stückentwurf für nicht spielbar.“
Nunweiler, der sich nur am Versmaß klassischer Dramen berauschen konnte, ging noch einen Schritt weiter. Mit einer unverhohlenen Dreistigkeit habe er am Schluss der Veranstaltung erklärt, dass es vielleicht besser wäre, Wolfgang würde ein neues Stück schreiben und seinen jetzigen „Versuch zu leben“ vergessen.
„Alle meine Versuche zu erklären, warum wir das Stück spielen sollten, fanden kein Gehör“, sagte Birgit Hielscher. „Wenn du dabei gewesen wärst, wäre das nicht passiert“, und ihr war anzumerken, dass sie sich irgendwie schuldig fühlte.
Für Wolfgang war es ein herber Rückschlag. Denn mit der Uraufführung seines Stücks „Der Gast oder Der Versuch zu leben“ verband er die große Hoffnung, als Theaterdichter (sprich: Dramatiker, sprich: Stückeschreiber) Furore zu machen.
Einen Tag später schon musste er einen weiteren Rückschlag hinnehmen: Er bekam Fieber, und die primär verschlossene Wunde wurde aufgemacht. „Die Wunde muss aufbleiben und von unten herauf heilen“, sagte der Stationsarzt. Da die Wunde, in die bequem sechs große Tupfer hineingingen, sehr tief sei, könne das einige Wochen oder gar Monate dauern, prophezeite er Wolfgang.