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5. Kapitel

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Kurz vor Weihnachten nahm Hetzel Wolfgang beiseite und sagte ihm, dass er unbedingt eine öffentliche Erklärung abgeben müsse, warum „Der weite Weg“ von Arbusow abgesetzt worden sei. Auf der Fachschaftsversammlung Anfang Januar sei dafür die beste Gelegenheit, meinte Hetzel und drückte Wolfgang eine Rede aufs Auge, die gewissenhaft vorbereitet sein wollte. Denn das Absetzen eines sowjetischen Stücks stellte zu dieser Zeit ein Politikum dar. Als ihm dann noch die Kluin (sprich: Tamara) eröffnete, über die Weihnachtsfeiertage müssten 30 Seiten Russisch übersetzt werden, sonst gäbe es die Teilnahmebestätigung für den Russisch-Kurs nicht, drehte Wolfgang durch. Alles schien ihm über den Kopf zu wachsen. Es sei eine Schikane, über die Weihnachtsfeiertage eine solche Aufgabe aufzugeben, schrie er. „Wer mich sprechen will, findet mich in Alt-Jena“, brüllte er und verließ den Raum.

Nach Wolfgangs Auftritt, der die Russisch-Tante mächtig erbost hatte, kam Wachsmuth ins „Alt-Jena“, setzte sich an Wolfgangs Tisch und sagte: „Saufen ist keine Lösung.“

„Ich werde die Scheiße nicht mitmachen, und wenn ich geext werde“, sagte Wolfgang.

Wachsmuth versuchte, ihn zu beruhigen. Er habe da zwei Slawistinnen an der Hand, die ihnen die 30 Seiten bis nach den Weihnachtsfeiertagen übersetzen würden, sagte er.

„Meinst du, die machen das für uns?“

„Auf jeden Fall“, sagte Wachsmuth. „Von Tamara lassen wir uns doch das Leben nicht vermiesen“, und er bestellte zwei doppelte Wodka.

In der Fachschaftsversammlung des Germanistischen Instituts waren die organisatorischen Fragen, die das Frühjahrssemester betrafen, schnell geklärt und so nahm sich Hetzel als FDJ-Hochschulsekretär das Recht heraus, eine Stunde lang über das Thema „Klassenstolz und Nationalbewusstsein“ zu referieren.

„Junge Leute sprechen nicht gerne über ihre Gefühle“, konstatierte Hetzel. „Aber als wir kürzlich mit der Studentenbühne in Berlin waren, kamen zwei unserer Leute mit Westberlinern ins Gespräch, und am nächsten Tag sprachen sie darüber. Einer sagte, so aktiv und parteilich habe er sich selbst noch nie im Gewi-Seminar erlebt“, Hetzel frohlockte. „Bei solchen Anlässen merkt man eben doch, dass wir uns alle schon als Bürger der DDR fühlen und nicht auf die verlogene Losung ‚Wir sind doch alle Deutsche‘ hereinfallen.“

Das Stichwort „Studentenbühne“ war gefallen, und am Ende seiner äußerst zähen Ausführungen, die niemanden vom Hocker gerissen hatten, erteilte Hetzel Wolfgang das Wort.

Da alle sehnsüchtig darauf warteten, dass bald Schluss war, sagte Wolfgang: Obwohl die Geschichte, die sich mit dem Stück „Der weite Weg“ verbinde, eine endlose sei, wolle er sich kurzfassen, und er erklärte, warum die Studentenbühne das Stück abgesetzt habe.

„Ende November, die erste Durchlaufprobe des ersten Aktes war bereits erfolgt, erfuhren wir, dass wir nicht mehr für die Arbeiterfestspiele nominiert sind“, berichtete er. „Daraufhin setzten wir das Stück ab, obwohl wir schon viel Arbeit in dieses Vorhaben investiert hatten.“ Dass die Stimmung nicht rosig sei und der letzte Optimist sich pessimistisch zu färben beginne, ließe sich wohl denken. Aber vom Auseinanderfallen der Studentenbühne könne nicht gesprochen werden, erklärte Wolfgang.

„Wie nun weiter in dieser misslichen Lage, in die wir unverschuldet gekommen sind?“, Wolfgang versuchte, eine Antwort zu geben: „Im Moment sind wir dabei, ein brauchbares Konzept für unsere künftige Arbeit zu finden. Schade ist, dass die Aufführungen, die auf dem internationalen Studentenbühnentreffen in Zagreb 1966 gezeigt wurden, für uns kein Maßstab sein können.“

Die Studentenbühnen der westlichen Länder würden sich auf die Darstellung sexuell gehemmter Menschen versteifen und ergingen sich in Schilderungen pathologischer Fälle, zitierte Wolfgang aus dem Bericht einer Hallenser Beobachtungskommission. „Die Studentenbühnen versuchten, den primitiven, erotischen Bedürfnissen des Publikums gerecht zu werden, und die Würzburger Studentenbühne ging sogar so weit, auf der Bühne eine vollkommene Striptease-Show aufzuführen, um sich finanziell zu sanieren, wie die Vertreter nach dem skandalösen Abbruch der Veranstaltung bekannt gaben.“

„Aber das, was sich gegenwärtig als Trend abzeichnet, entspricht nicht unseren Intentionen“, fuhr Wolfgang fort, ohne dass er verriet, wie der Spielplan aussehen sollte, der ihm bereits vorschwebte. Die zornigen jungen Männer, die in England für Aufsehen sorgten, wollte Wolfgang auf die Bühne bringen, und er dachte dabei an John Osbornes „Blick zurück im Zorn“.

Wenn er auch noch nicht wisse, welches Stück als Nächstes aufgeführt werde, so wisse er mit Bestimmtheit, dass Ende des Monats das Programm „Oktoberlyrik“ im Studentenkeller Premiere habe, schloss Wolfgang. „Das zeigt doch, wie irrig es ist, uns nach dem Absetzen des Stücks ‚Der weite Weg‘ antisowjetische Tendenzen unterstellen zu wollen.“

Nach der Rede, die Wolfgang vor der Fachschaft gehalten hatte, machte ihn Wachsmuth mit den zwei Studentinnen bekannt, die ihnen die 30 Seiten Russisch übersetzt hatten. Schon während des Vorstellens verknallte sich Wolfgang in die füllige Slawistin mit den prallen Lippen. Sie hieß Judith.

Wolfgang sagte, dass er sich fürs Übersetzen revanchieren wolle. Er wolle einen ausgeben, sagte er, und Wachsmuth, Wolfgang, Judith und ihre unscheinbarere Freundin wechselten vom Hörsaal 13 in die „Sonne“, das erste Haus am Platz.

Sie machten mächtig einen drauf und ließen sich die grünen und blauen Cocktails schmecken, die Wolfgang spendierte.

Judith sagte, dass sie für Jewtuschenko schwärme, und Wolfgang drehte sich ihr zu. An der Bar der „Sonne“ sitzend, rezitierte er: „Du flüsterst, so blass, schwach, schwer. Und was nachher?“

Gegen Mitternacht brachen sie auf, und Wolfgang brachte Judith nach Hause. Das Mädchenwohnheim lag am Rande der Stadt und beim Abschiednehmen küssten sie sich. Wolfgang schob Judith seine Hand unter den mit Seide gefütterten dicken Wollrock und spürte die weiche Innenfläche ihrer Schenkel. Judith konnte herrlich küssen. Ihr Mund saugte sich fest und ließ ihn nicht wieder los. Es machte ihm nichts aus, dass er die letzte Straßenbahn verpasste und nun einen zweieinhalbstündigen Nachhauseweg vor sich hatte, und er hatte auch keine Angst, an dem langen Bretterzaun vorbei gehen zu müssen, hinter dem in tiefster Dunkelheit eine Russenkaserne lag.

„Oktoberlyrik“ war das Programm überschrieben, das bald darauf im Studentenkeller Premiere hatte. Edda hatte es zusammengestellt. Obwohl der Titel einen hausbackenen Eindruck machte, steckte es voller unterschwelliger Botschaften, die pur nicht hätten ausgesprochen werden können, und es hatte nichts mit politisch-plakativen Gedichten zu tun, wie sich das der FDJ-Hochschulsekretär Hetzel vorgestellt hatte.

Da Edda wusste, dass sowjetische Lyrik die Leute nicht von den Sitzen riss, hatte sie einige provokante Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko ausgewählt, die eine Art Chiffre waren und erlaubten, auszusprechen, was in der DDR unter der Decke schwelte. So wurden Bonzen gegeißelt und Apparatschiks karikiert.

Biene, Wolfgang und Mike, die schon beim Heine-Abend erfolgreich zusammengearbeitet hatten, waren jedenfalls froh, dass es den Russen Jewtuschenko gab. Seine Gedichte erlaubten es ihnen, öffentlich zu lesen, was sie fühlten und dachten, ohne sich selbst ins Schussfeld SED-treuer Assistenten oder Dozenten zu bringen. In einer Zeit des Aufbegehrens und des Zorns gegen den politischen Dogmatismus benutzten sie die Gedichte für ihre eigenen Zwecke, und die Verse Jewtuschenkos waren Wolfgang wie auf den Leib geschrieben.

Wolfgang trug Schlaghosen, hatte die Beatles im Ohr und rebellierte gegen die Väter-Welt. Er versuchte, Jewtuschenkos Draufgängertum an den Tag zu legen, und gefiel sich in der Rolle des zornigen jungen Mannes. Es machte ihm Spaß, die Gedichte Jewtuschenkos wirkungsvoll an den Mann zu bringen, in denen persönlichste Gefühle wie Enttäuschung, Einsamkeit und Depression zum Ausdruck kamen und so verstand es sich von selbst, dass er während des Rezitierens den Blick auf Judith gerichtet hatte, die in der ersten Reihe vor dem kleinen, flachen Bühnenpodest saß. „Es findet stets sich eine Frauenhand, / damit sie kühl und leicht und unverwandt, / aus Mitleid mehr als auf der Liebe Wink, / wie einen Bruder dich zur Ruhe bring“, rezitierte Wolfgang und sah dabei Judith in die großen, braunen Augen.

Mike Mutzke sprach die Verse von Andrei Andrejewitsch Wosnessenski, einem kleinen Russen, der in Amerika mit Allen Ginsburg in einem Stadion aufgetreten war und mit seinen Amerika-Gedichten den Wortführer der Beatgeneration an die Wand gespielt hatte.

Am Ende der Veranstaltung ließ Biene einen Hut herumgehen. Die eine Hälfte der Einnahmen kam in die Kasse der Studentenbühne, die andere Hälfte wurde, wie es Sitte war, versoffen.

Nach Veranstaltungsschluss saßen Wolfgang und Mike noch lange auf den unbequemen, kleinen Holzhockern in einer der Kellernischen und klönten. Ab und an griffen sie nach den großen Bierhumpen, die sie neben sich auf dem flachen Bühnenpodest abgestellt hatten.

„Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Programm einen solchen Zuspruch finden würde“, sagte Wolfgang. Mike meinte: „Nach dem Erfolg heute Abend könnten wir doch mal einen Lyrikabend mit eigenen Gedichten machen.“ Bis März sei Zeit genug, sagte er. Gedichte seien genug da, man müsste sie nur geschickt zusammenstellen.

Wolfgang ließ sich auf Mikes Vorschlag ohne großes Nachdenken ein, denn er merkte, dass Judith gehen wollte.

„Abgemacht“, sagte Mike.

„Abgemacht“, sagte Wolfgang, der es äußerst eilig hatte, Judith zu folgen.

Auf der Straße, sie waren auf dem Weg zur Straßenbahn, sagte Judith: „Du warst großartig.“

„Ich bin immer großartig.“ Wolfgang glaubte, dass er Judith an diesem Abend rumkriegen könnte.

Nachdem er Judith vor der Tür des Mädchenwohnheimes lange genug geküsst, ihr ungeniert unter den Rock gegriffen und sie nach allen Regeln der Kunst befummelt hatte, nahm er an, dass sie ihn mit nach oben in ihr Zimmer nehmen würde. Aber Judith löste sich aus seiner Umarmung und stieß ihn weg. Sie habe einen festen Freund, eröffnete sie ihm. Er sei Ingenieur und älter als sie.

Wolfgang ließ von Judith ab. Wieder einmal hatte er das Gefühl, jämmerlich versagt zu haben.

In der Folgezeit entstanden eine Reihe von Weltschmerzgedichten über unglückliche Lieben, die Wolfgang an jenem Lyrikabend vortrug, zu dem Mike ihn überredet hatte.

Eine Stunde lang trugen Wolfgang und Mike ihre Gedichte im überfüllten Studentenkeller vor, und Wolfgangs Gedichte waren allesamt Liebeserklärungen, zu denen er im wirklichen Leben nicht fähig war. Dass Edda und Judith an diesem Abend nicht in den Studentenkeller gekommen waren, enttäuschte ihn maßlos.

Waren nicht fast alle Gedichte ihnen gewidmet?

„Obwohl dieser Abend ein Erfolg war, werde ich keine Gedichte mehr schreiben“, sagte Wolfgang zu Mike. „Und die Weiber können mir gestohlen bleiben.“

Mike sah ihn entgeistert an. Für ihn, der selbst feinfühlige Verse schrieb, war Wolfgang ein begnadeter Lyriker: „Doch nicht, weil ein FDJnik wie Hetzel meint, in einer Gesellschaft, die alle Grundlagen für die Entfremdung des Menschen überwunden habe, sei kein Platz für die Literatur der Einsamkeit?“

„Es hat mit Hetzel, diesem Blödling, der keine Ahnung von Literatur hat, nichts zu tun“, sagte Wolfgang. „Ich habe einfach das Gefühl, mein großes Ziel, Theaterdichter zu werden, aus den Augen verloren zu haben“ In Zukunft werde er sich nur noch aufs Studium und aufs Stückeschreiben konzentrieren, kündigte er an. „Das Bearbeiten und Inszenieren von Stücken, die uns aufoktroyiert werden, führt zu nichts!“ Er habe sich entschlossen, selbst ein Stück zu schreiben. Im vierten Studienjahr komme man nicht mehr zum Theaterspielen, deshalb sei das dritte Studienjahr am geeignetsten, einen solchen Plan umzusetzen. Mit der Uraufführung des Stücks wolle er sich einen würdigen Abgang aus Jena verschaffen und sich als Dramatiker einen Namen machen.

Mike hörte erstaunt zu, als Wolfgang das erste Mal laut über sein Stück nachdachte: „Ich denke, dass ich den Entwurf im Oktober fertig habe und im April 1968 die Uraufführung sein könnte.“

„Und wenn du es bis Oktober nicht schaffst?“

„Auch nicht schlimm.“ Von Schwedt her wisse er, wie es gehe, wenn ein Stück noch während der Proben fertig geschrieben werde. Das Stück heiße „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, verriet Wolfgang. „Es ist ein Fünf-Personen-Stück, und ich werde Autor, Regisseur und Hauptdarsteller sein. Die anderen Rollen werden Doris, Biene, Edda und Wachsmuth spielen.“ Und damit er das nötige Handwerkszeug habe, werde er das Dramenseminar bei Frau Professor Doktor Wertheim belegen.

„Ich denke, du stehst auf Osborne, Araball und den jungen Brecht?“

„Das mag sein, dass ich Osborne verehre, weil ich gerne ein solch zorniger junger Mann wäre wie er, und dass ich nicht genug von Brechts ‚Baal‘ kriegen kann, stimmt auch“, sagte Wolfgang. „Und für Fernando Araball begeistere ich mich so, weil ich mal einen Filmbericht über ihn gesehen habe. Er saß in einer Badewanne und vor ihm, auf einem Brett, stand eine Schreibmaschine, auf die er mit zwei Fingern eindrosch. Während er, an seinem Stück schreibend, in der Wanne saß, sprangen zwei schöne Weiber um ihn herum und gossen warmes Wasser nach. Und wenn ihm nicht gefiel, was er geschrieben hatte, zog er das Blatt aus der Maschine, zerknüllte es zu einer Papierkugel und fraß sie auf.“

„Im Seminar ‚Klassisches Drama‘ wird das nicht gefragt sein“, stellte Mike belustigt fest.

„Aber das schließt doch nicht aus, dass man sich fit machen kann fürs Stückeschreiben. Von Schiller, glaube ich jedenfalls, kann man eine Menge lernen.“

„Das mag sein“, sagte Mike. „Und du willst wirklich keine Gedichte mehr schreiben?“

„Nein“, sagte Wolfgang. „Und von den Weibern habe ich auch die Schnauze gestrichen voll.“

Leben ohne Maske

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