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11. Kapitel
ОглавлениеWeil Wolfgangs Wunde am Steiß einfach nicht zuheilen wollte, war lange Zeit ungewiss, ob er sein Studium wie geplant fortsetzen könne. Man erwog sogar, ihn wegen des krankheitsbedingten Ausfalls die versäumten Semester wiederholen zu lassen. Aber zu guter Letzt ließ man ihn doch zum großen Schulpraktikum zu.
Frau Doktor Gärtner, die Methodik-Tante in Deutsch, war nämlich der Meinung, dass Wolfgang das Versäumte schnell aufholen könne, wenn er durch seinen Mentor schrittweise und behutsam ans Unterrichten herangeführt werde.
Aber daraus wurde nichts, denn Wolfgangs Mentor war von einem Tag auf den anderen stellvertretender Direktor geworden. Der bisherige Stellvertreter war über Ungarn, wo er Urlaub gemacht hatte, in den Westen abgehauen. Die Aufregung an der Schule war groß, und Wolfgangs Mentor musste binnen kürzester Zeit in die Leitungstätigkeit eingeweiht werden und auf Grund der veränderten Situation einen neuen Stundenplan erstellen.
Er sagte, Wolfgang müsse für ihn die Grammatikstunde in der 6a halten und drückte ihm seine recht knappe Stundenvorbereitung in die Hand, mit der Wolfgang eine ihm fremde Klasse betrat und ganz auf sich allein gestellt seine erste Stunde hielt.
Als Wolfgang nach dieser Stunde ziemlich geschafft aus der Klassenzimmertür trat, stand sein Mentor aufgeregt auf dem Gang und teilte ihm die nächste Hiobsbotschaft mit. Er sei mit dem Stundenplan-Ändern noch immer nicht fertig, sagte er und bat Wolfgang, für ihn den Unterricht in der 8a zu übernehmen.
Wieder drückte er ihm ein paar spärliche Unterlagen in die Hand, und wieder ging Wolfgang völlig unvorbereitet in eine Klasse, die er nicht kannte. Dieses Mal war es Geschichte, was er zu unterrichten hatte. Er musste die Pariser Kommune behandeln, und wenn er Brechts „Tage der Kommune“ nicht so gut gekannt hätte, wäre er total eingebrochen.
Schon am ersten Tag hatte Wolfgang seine Feuerprobe bestanden, denn keine der Stunden, die er plötzlich aus dem Stegreif halten musste, hatte er vor den Baum gefahren.
Zwei Tage vor Weihnachten war das Praktikum zu Ende. Wolfgang wurde ins Direktorenzimmer gerufen, und sein Mentor händigte ihm die Beurteilung aus:
„Vom 26. August bis 30. November 1968 absolvierte Herr Bruckner an unserer Schule in den Fächern Deutsch und Geschichte seine Praktika. Er unterrichtete in den Klassen 6, 8 und 10. In beiden Fächern schloss Herr Bruckner sein Praktikum erfolgreich mit der Examensprobe ab.
Es kann eingeschätzt werden, dass Herr Bruckner die Anforderungen, die die Schule an einen sozialistischen Lehrer stellt, erfüllt hat. Im Praktikum zeichnete er sich durch parteiliche Haltung, Einsatzbereitschaft, fachliches Wissen und Drang zur Selbständigkeit aus.“
Ganz am Schluss der vierseitigen Beurteilung stand, dass Wolfgang auf Grund der gezeigten Leistungen das Prädikat „Sehr gut“ erteilt wird. Darauf war Wolfgang besonders stolz, denn es strafte alle Lügen, die ihn bisher zum Versager abgestempelt hatten.
Als Wolfgang über die Weihnachtsfeiertage nach Arnsbach fuhr, zeigte er Heidi die Beurteilung. „Kompliment“, sagte sie und gratulierte ihm dazu, dass er beide Examensstunden mit „Eins“ gemacht hatte.
„Es war ein großes Glück, dass ich trotz der versäumten zwei Semester zum Großen Schulpraktikum zugelassen wurde“, sagte er. „Ich hatte richtig Glück im letzten halben Jahr.“
„Das kann ich nicht von mir behaupten“, meinte Heidi. „Mein Start ins Lehrersein an der Dorfschule in Höhnberg hätte nicht schlechter sein können.“
Denn zu Beginn des Schuljahres waren alle Lehrer aufgefordert worden, eine Resolution zu unterschreiben, in der der Einmarsch der fünf Bruderländer in die CSSR für gut geheißen wurde.
Heidi jedoch fand, dass es eine große Schweinerei war, was sich da in der Welt tat, und verweigerte ihre Unterschrift.
Auf Grund dieser Tatsache war sie als Querulant verschrien, und der Direktor konnte sie von Anfang an nicht leiden. Er hielt sie vom ersten Tag an für aufmüpfig und arrogant, und er schikanierte sie, wo es nur ging. So ließ er sie nicht in den oberen Klassen unterrichten, obwohl sie die Befähigung dazu hatte, und er gab ihr den miserabelsten Stundenplan, den man sich denken konnte. Vier Mal in der Woche musste sie ihren Englischunterricht am späten Nachmittag geben. Auch bürdete der Direktor ihr Aufgaben auf, die Heidi als pure Schikane empfand.
„Nach den Weihnachtsferien“, erzählte Heidi Wolfgang, „soll ich vor der Schulleitung darüber berichten, wie ich die Arbeiter- und Bauernkinder in meiner Klasse gefördert habe. Dazu hat man mir noch den Losverkauf für eine Tombola anlässlich der Messe der Meister von Morgen aufgebrummt.“
Der Grund dafür liege auf der Hand, sagte Heidi. „Vorige Woche bin ich unfreiwillig Zeuge einer Parteiversammlung gewesen, da ich in einem Nebenraum saß und Arbeiten korrigierte. Man sprach über die CSSR-Angelegenheit und sagte, auch an unserer Schule wären solche ‚Elemente‘. Es handle sich dabei um den Kollegen Konzak und die Kollegin Stillmark.“
„Wenn du so weitermachst“, sagte Wolfgang, „wirst du noch ein richtiger Revolutionär“, und er freute sich, dass Heidi kein braves, biederes Dorfschulmeisterlein war, das seinen unfähigen Vorgesetzten die Füße küsste. „Ich wäre schon froh, wenn ich im nächsten Jahr nichts mehr mit diesen Hinterwäldlern zu tun hätte und mit dir zusammen an einer anderen Schule unterrichten könnte“, sagte Heidi. „Am liebsten würde ich an einen Ort gehen, wo der Lehrer noch nicht der letzte Dreck ist.“
Es war ihr anzumerken, wie sehr sie die Schule in Höhnberg satthatte und wie sehr sie einen Neuanfang herbeisehnte.
Mit Blick auf das kommende Jahr sagte sie: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich auf unsere Hochzeit und unser Leben danach freue.“
„Vorher heißt es aber noch für mich, die Abschlussprüfung im Juni zu bestehen“, sagte Wolfgang. „Und bis März muss ich die Staatsexamensprüfung geschrieben haben.“
„Das dürfte wohl kein Problem sein“, sagte Heidi.
Aber die häuslichen Verhältnisse ließen es nicht zu, dass Wolfgang ungestört an seiner Staatsexamensarbeit schreiben konnte. Denn seine Großmutter war schon so dement, dass sie beaufsichtigt werden musste. Und dieses Beaufsichtigen fiel Wolfgang zu, weil er der Einzige war, der nicht arbeiten ging.
Wolfgangs Großmutter wusste kaum noch, was sie tat. Von Unruhe getrieben, klimperte sie ständig mit dem Schlüsselbund, tappte durch alle Zimmer, und während Wolfgang am Wohnzimmertisch saß und schrieb, hörte er das unruhige Tappen, und er hörte, wie seine Großmutter an der Klinke der Korridortür rüttelte. Auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg schlug Wolfgangs Großmutter mit der Schutzkette rasselnd gegen die Tür.
Wolfgang konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Entnervt unterbrach er sein Schreiben und wandte sich seiner Großmutter zu, die auf ihren Gängen durch den Korridor manchmal Kot verlor. Wolfgang machte es nichts aus, die Scheißeklümpchen vom braunen Linoleum aufzuwischen. Er war nicht so geruchsempfindlich und reagierte nicht so allergisch wie seine Mutter, die nach jedem Malheur, das Meta Larsen passierte, herumschrie und kotzen musste.
Wolfgang wurde erst von seiner Aufsichtspflicht entbunden, wenn seine Mutter am Nachmittag aus dem Kaufhaus kam. Aber da hatte Wolfgang schon so viele Nerven gelassen, dass ihm die Kraft fehlte, zu einem späteren Zeitpunkt an seiner Arbeit weiterschreiben zu können. Auch bedrückte es ihn sehr, wie schnell der geistige Verfall seiner Großmutter voranschritt.
Wolfgangs Großmutter wollte sich nützlich machen, und so ließ sie sich tagelang von ihrer Tochter das Stricken wieder und wieder zeigen. Sie wollte tun, was sie immer getan hatte. Aber die Nadeln und das Garn gehorchten ihr nicht mehr.
Als Wolfgangs Großmutter merkte, dass ihr nicht mehr gelang, was ihr sonst mit Leichtigkeit gelungen war, war sie zu Tode betrübt und wütend über sich. „Ich bin ein altes Kalb“, sagte sie unglücklich. „Schlagt mich doch tot! Ich bin zu nichts mehr nutze.“
Sie sah keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Sie schmiss die Stricknadeln weg und weinte.
Es war zwar schrecklich für Wolfgang, mit ansehen zu müssen, wie verzweifelt seine Großmutter war, als sie merkte, dass sie nicht mehr stricken konnte. Aber den größten Schreck jagte sie ihm ein, als sie auf dem Fensterbrett des dritten Stockes stand.
Wolfgang war gerade auf dem Rückweg von einem Kurzeinkauf, der keine Viertelstunde gedauert hatte, als er von der Straße aus sah, wie seine 78-jährige Großmutter auf dem Fensterbrett stand. Die Fensterflügel waren sperrangelweit offen, und Wolfgang rannte wie um sein eigenes Leben. Er war heilfroh, als er seine Großmutter, die nicht mehr wusste, was sie tat, vom Fensterbrett runter und wieder in der Stube hatte.
Damit seine Großmutter keine Dummheiten mehr machen konnte, schraubten sie ihr die Fenster zu, und am Abend tagte der Familienrat. Jedem war klar, dass Meta Larsen keinen Augenblick mehr aus den Augen gelassen werden konnte und rundum betreut werden musste.
Wolfgangs Vater sagte, dass er sich um einen Pflegeheimplatz kümmern wolle. Obwohl das äußerst schwierig sei und dauern könne. Wolfgangs Mutter erklärte, dass sie so lange zu arbeiten aufhören werde, bis ein Pflegeheimplatz für Meta Larsen gefunden sei. Nachdem sie ihre Stelle im Kaufhaus gekündigt hatte, blieb sie vierzehn Tage später zu Hause, um ihre Mutter fortan ganztägig beaufsichtigen zu können.
Aus diesem Grund brauchte sich Wolfgang tagsüber kaum noch um die Betreuung seiner Großmutter zu kümmern. Aber dafür wurden nachts seine Nerven aufs Ärgste strapaziert. Denn Wolfgangs Großmutter geisterte durch die Zimmer. Urplötzlich stand sie vor Wolfgangs Bett, strich ihm über den Kopf, und wenn er hochschreckte, wich sie zurück. Sie sagte etwas Tröstendes, das Wolfgang nicht verstand, und ging zurück in ihr Zimmer.
Es kam aber auch vor, dass Wolfgangs Großmutter nachts mehrmals aus ihrem Bett fiel und um Hilfe schrie. Sie lag auf dem Bettvorleger aus Ziegenfell, wusste nicht, wo sie war, und Wolfgang und seine Mutter hievten sie zurück in ihr Bett. Auf den Rat ihrer Tochter, nicht alleine in der Nacht aufzustehen, hörte sie nicht, und schon kurze Zeit später war wieder ein Plumpsen und Schreien zu hören. Denn Wolfgangs Großmutter konnte nicht aufhören, ihre Füße immer wieder auf den Bettvorleger zu setzen und aufzustehen, selbst wenn sie schwach und taumelig war.
Nach solchen nächtlichen Aktionen fand Wolfgang kaum in den Schlaf, und wenn er morgens erwachte, fühlte er sich wie gerädert und war zu keiner vernünftigen Arbeit mehr in der Lage.
Es war Ende Januar, und Wolfgang glaubte nicht mehr daran, die Staatsexamensarbeit, die Anfang März abgegeben werden musste, fertig zu kriegen. Verzweiflung suchte ihn heim. Denn von der Staatsexamensarbeit hing sein zukünftiges Leben mit Heidi ab.
Ohne Staatsexamensarbeit keine Zulassung zu den Abschlussprüfungen, ohne Abschlussprüfungen kein Staatsexamen, ohne Staatsexamen kein Einsatz als Absolvent und ohne Absolventeneinsatz kein gemeinsames Unterrichten an einer Landschule.
Wolfgang wusste sich keinen Rat mehr. Er schrieb Heidi, in welch beschissener Lage er sich befinde. Und Heidi, die Verständnis für Wolfgangs Situation hatte, machte ihm das Angebot, seine Arbeit bei ihr in Arnsbach zu Ende zu schreiben. Bis zum Abgabetermin seien es noch vier Wochen, und in vier Wochen Abgeschiedenheit und Ruhe könne man einiges schaffen, sagte Heidi. So kam es zu Wolfgangs zweitem Besuch in Arnsbach.