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15. Kapitel

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Nach dem Begräbnis von Meta Larsen hatten es Wolfgang und Heidi unheimlich eilig, mit der Straßenbahn vom Erfurter Hauptfriedhof auf den Busbahnhof zu kommen. Am frühen Nachmittag nämlich waren sie mit dem Direktor der Schule, an der sie ab September unterrichten würden, verabredet, und der Mittagsbus war die einzige Möglichkeit, um diese Zeit nach Oberneusitz zu kommen. Denn nur morgens, mittags und abends war dieses weltabgeschiedene Nest in Erfurt-Land mit dem Bus zu erreichen.

Es war schweineheiß, als sie an einer kaum befahrenen, staubigen Kreuzung, die einen Kilometer von Oberneusitz entfernt war, den stickigen Überlandbus verließen und das erste Mal auf das Dorf zuliefen. Sie gingen auf einer langen, schmalen Chaussee auf Oberneusitz zu: ihren künftigen Einsatzort.

Heidi hatte einen schwarzen Kostümrock und eine weiße Rüschenbluse an, und Wolfgang trug seinen schwarzen Hochzeitsanzug und hatte ein weißes Dederonhemd an und einen schwarzen Binder um.

Rechts und links der Straße: Pflaumenbäume und freies Feld, und über den ersten Häusern des Dorfes, die man in der Ferne sehen konnte, eine wolkenlose Bläue.

Die Hitze war mörderisch, und der aufgeweichte Asphalt roch stark nach Teer, und wenn die Schatten der Chausseebäume nicht gewesen wären, wäre der Weg nach Oberneusitz zu einer noch größeren Tortur geworden. Das Dorf, das sie anvisierten, war für Wolfgang und Heidi eine unbekannte Größe, und die Menschen, die in diesem 210-Seelen-Dorf wohnten, waren ihnen allesamt unbekannt. Aber lange würde es nicht dauern, und sie stünden vor den Klassen, die sie heute noch nicht kannten, und es hieß, auf die Fragen der Schüler die richtigen Antworten zu geben.

Wolfgang und Heidi schraken ein wenig zusammen, als plötzlich ein Pferdefuhrwerk rasant vom Feld auf die Straße bog. Auf dem Kutschbock saß ein glatzköpfiger alter Mann, einen Stumpen im Mund, und auf der Ladefläche hockten die LPG-Frauen, die vom Rübenhacken kamen. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Pferde galoppierten, und die Frauen auf der Ladefläche lachten, winkten und kreischten.

„Die sind schneller da als wir“, sagte Wolfgang. „Ich beneide sie nicht“, sagte Heidi, die ans Rübenhacken in dieser Gluthitze dachte.

Nach einer Weile erreichten Wolfgang und Heidi endlich das gelbe, rostig lädierte Ortsschild „Oberneusitz“.

Aus dem Schweinestall rechts neben der Straße war das tausendstimmige Quieken und Schreien der Schweine zu hören und die Entlüftungsventilatoren der Schweinemastanlage surrten auffallend laut. Die Stallfrauen in ihren blauen Kitteln hatten roterhitzte Gesichter und karrten Mist.

Links drüben, nicht unberührt vom Gestank der Schweinemastanlage und dem lauten Quieken der Schweine, lag der kleine Dorffriedhof im Schatten großer Bäume. Über den Wipfeln schwirrten die Schwalben. Wie Pfeile durchschossen sie die Luft, die das Land heiß umschloss.

Wie in einer Dunstglocke kamen sich Wolfgang und Heidi vor, in der es schwerfiel zu atmen, und vor Wolfgangs Augen verschwamm für Augenblicke der Dorffriedhof mit seinen riesigen Bäumen und den funkelnden Grabsteinen dazwischen. „Nicht weinen, nicht weinen, wenn ich sterbe“, hörte er seine Großmutter sagen.

„Meine Großmutter war eine tapfere Frau. Ich habe sie geliebt“, sagte Wolfgang. „Davon hat man aber wenig gemerkt“, sagte Heidi. Die Leute seien über sein Verhalten am Grab verwundert gewesen. Sie habe gehört, wie jemand gesagt habe: „Ihr Leben lang hat sie sich um ihn gesorgt, und jetzt hat er nicht mal Tränen für sie.“

„Ich hab‘ mich doch nur an das Versprechen gehalten, dass ich ihr gegeben habe“, sagte Wolfgang, und er hörte die Bitte seiner Großmutter: „Nicht weinen, nicht weinen, wenn ich sterbe.“ Sollte Wolfgang dadurch härter und männlicher werden, weil seine Großmutter glaubte, er sei zu weich für die Welt?

Zwischen dem Friedhof unweit der Straße und den ersten Häusern des Dorfes war eine Pferdekoppel, in der zwei Fohlen ungezügelt ungelenke Luftsprünge machten.

In der Mitte des Dorfes, das still und staubig in der Mittagshitze döste, standen auf dem Dorfplatz, genau gegenüber der Kneipe, zwei große Mähdrescher. Die Traktoristen ließen sich ihre Bockwurst-Brause-Mahlzeit schmecken, und ein Schäfer band seine Hunde an den Holzlatten eines Vorgartenzauns fest. Bevor er die Straße überquerte, blieb er einen Moment stehen und sah Wolfgang und Heidi erstaunt und misstrauisch an. Dann verschwand er in der Kneipentür und die beiden Hunde am Zaun bellten.

Daraufhin traten die zwei Traktoristen ins gleißende Mittagslicht, dessen Helle kaum zu ertragen war, und bestiegen die höllisch heiße Kanzel ihrer Mähdrescher. Höllenlärm verursachend, stürzten sie sich fluchend in die Ernteschlacht. Hupend und grinsend fuhren sie an Heidi und Wolfgang vorbei, die gerade die Schule am Ende des Dorfes erreicht hatten.

Die Schule war ein barackenähnlicher Flachbau. Der Direktor stand auf den Stufen vor der Eingangstür. Er hieß Sandruschek und erwartete sie zum ersten Gespräch.

„Ist etwas passiert?“, fragte er verwundert und etwas unbeholfen, als er Wolfgang und Heidi in ihren schwarzen Trauerklamotten sah. „Meine Großmutter ist gestorben“, sagte Wolfgang. „Heute Vormittag war das Begräbnis.“

„Das tut mir leid“, sagte der Direktor. „Es hat sich ja hoffentlich an ihrem Einsatz nichts geändert“, fügte er etwas verunsichert hinzu.

„Nein“, sagte Wolfgang. „Alles bleibt wie abgesprochen.“

„Dann ist es ja gut“, der Direktor zeigte ihnen die Schule. Er führte sie ins Lehrerzimmer, ins Sprachkabinett, auf das er mächtig stolz war, und in den Biologie-Raum.

Auf dem Lehrertisch lag ein heller Sommerhut, und ein alter Mann etikettierte gerade eine Reihe von Spiritus-Gläsern, in denen Embryos in den verschiedensten Entwicklungsstadien zu sehen waren.

„So sieht menschliches Leben aus“, sagte er schmunzelnd und sah Heidi an, als wolle er feststellen, ob sie schon schwanger sei.

Der Direktor sagte: „Herr Rechn, mein Stellvertreter, 63 Jahre alt, der keine Ferien kennt.“

Der alte Rechn gab Wolfgang und Heidi, vor der er sich sogar etwas verbeugte, die Hand und Sandruschek sagte: „Bruckners. Die neuen Absolventen.“

„Wir sind Nachbarn“, sagte der alte Rechn. „Ich wohne mit meiner Frau in dem alten Lehmgemäuer am Schulplatz. Früher habe ich sogar in der Kirche die Orgel gespielt.“

Nachdem sie den Bio-Raum verlassen hatten, warfen sie einen kurzen Blick ins Geschichtskabinett. „Ihr Heiligtum“, sagte Sandruschek zu Wolfgang, in dem er anscheinend mehr den Geschichts- als den Deutschlehrer sah.

Das Direktorenzimmer, in das er Wolfgang und Heidi bat, war pomphaft eingerichtet: dicke Teppiche, protzige Besuchersessel, ein großer Repräsentativ-Schreibtisch und eine Zweit-Stundentafel, ein Veranstaltungs- und Organisationsplan, der stabsfeldmäßig durchgestellt war. Der Direktor steckte Fähnchen und hängte verschiedenfarbige Metallplättchen an eine große Tafel. Er kam sich wohl wie ein großer Feldherr vor. „Die roten bekommen Sie“, sagte er zu Heidi. „Und Sie kriegen die blauen“, zu Wolfgang. Er redete von unterrichtsarmen Tagen und vom Hort und AG-Stunden und von einem Stundenpolster, das für einen variablen Einsatz sehr wichtig sei.

Sandruschek machte auf Wolfgang einen autoritären Eindruck, und er dachte an seinen Vater, nach dessen Willen alles immer gehen musste. Auch Sandruschek hatte seine festen Vorstellungen vom Leben auf dem Dorfe und vom Unterrichten an einer Landschule, und mit Wolfgang und Heidi glaubte er, seine Pläne an der Schule und im Dorf durchbringen zu können.

Nachdem der Direktor ihnen gesagt hatte, in welchen Klassen sie unterrichten würden, meinte er am Schluss des Gesprächs: „Auch mit Ihrer Wohnung geht alles klar.“

Wenig später trafen sie sich mit dem Bürgermeister, einem großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit klobigen Händen. Er stand vor einem Haus, das schräg gegenüber von der Kirche und der alten Schule lag. Äußerst schroff begrüßte er den Direktor. Aber wesentlich freundlicher verhielt er sich Heidi und Wolfgang gegenüber.

Der Bürgermeister schloss die Haustür auf und der Blick fiel in einen dunklen Flur, der gelb ausgefliest war, und auf eine enge, steile Holztreppe, die nach oben führte.

Oben angekommen, es gab nur ein Stockwerk in diesem Haus, machte der Bürgermeister die Türen zur Toilette, zum Wohnzimmer, zur Schlafstube und der Küche auf. „Das ist die Wohnung“, sagte er. „Einen Dachboden gibt es nicht, und der ehemalige Giftraum unten kann als Abstellraum für die Aschekübel genutzt werden.“

Wolfgang und Heidi besahen sich die Räume genau, die ihr künftiges Zuhause sein sollten. Die Küche war unheimlich lang. Sie wirkte wie ein schmaler Tanzsaal, und Sandruschek sagte zu Heidi, wie er die Küche einrichten würde.

Wolfgang stand am Küchenfenster, und sein Blick glitt über den Garten der Nachbarin bis zur Mühlenrampe und zu Rosas Kneipe. Der Direktor machte Heidi noch immer Vorschläge, wie die Küche am besten abzuteilen wäre. „Durch ein geschicktes Abtrennen könnte hier ein Kinderzimmer gewonnen werden“, er schritt ein Drittel der Küche ab.

Alle Zimmer, außer der Toilette, hatten eine schräge Wand, und die meisten Fenster zeigten zur Dorfstraße. Wolfgang fand, dass das Wohnzimmer wenig einladend aussah: In der leeren Ofenecke lag ein Stück Blech, und wo das Ofenrohr in den Schornstein gegangen war, war die Tapete voller Ruß.

„Für einen neuen Ofen sorgen wir“, sagte der Bürgermeister. „Bei den dünnen Wänden kann es auch mal ganz schön kalt werden.“

„Früher war das Standesamt hier drin“, sagte der Direktor. Und mit Blick auf die geölten, schwarzen Dielen meinte Sandruschek: „Darauf würde ich Linoleum oder Auslegeware legen.“

Die weitere Diskussion über Bodenbelag und Ofengröße überließ Heidi den Männern. Sie stand am Fenster, sah auf die klein gepflasterte Dorfstraße hinunter und auf das Haus gegenüber mit dem violetten Putzanstrich.

Ein Traktor mit einem schweren Anhänger voll Getreide fuhr hupend am Haus vorbei. Das Hupen galt der Nachbarin aus dem Haus von gegenüber. Trotz der Hitze trug sie Gummistiefel, als sie aus dem Hoftor trat und die Dorfstraße hoch bis zum Wiegehäuschen ging, und Heidi musste darüber ein wenig lächeln. Aber ein trauriges Bild gab die Telefonzelle ab, die sich gleich neben dem Wiegehäuschen befand. Die Tür stand offen, die Scheiben waren demoliert, und der Hörer war abgerissen. Die Verbindung zur Welt war gekappt.

„Mehr haben wir nicht zu bieten“, sagte der Bürgermeister und drückte Wolfgang die Wohnungsschlüssel in die Hand.

Leben ohne Maske

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