Читать книгу Bullet Train - Котаро Исака - Страница 10
Die Zitrusfrüchte
ОглавлениеLemon steuerte zuerst den vorderen Wagen an, Wagen 4. Er versuchte sich zu erinnern, wie der Koffer ausgesehen hatte.
›Ihr Enkel merkt sich nur das, was ihn interessiert‹, hatte sein Klassenlehrer in der Grundschule seinen Großeltern geklagt. ›Er kann einem genau sagen, in welcher Folge von Doraemon welches Zauberutensil vorkommt, aber den Namen unseres Direktors, den hat er sich immer noch nicht gemerkt!‹ Warum sich sein Lehrer darüber beschwert hatte, war Lemon schleierhaft gewesen. Dass es wichtiger war, sich zu merken, wann und wo Doraemons Utensilien zum Einsatz kamen, lag doch auf der Hand!
Der Koffer war ungefähr sechzig Zentimeter hoch und vierzig Zentimeter breit gewesen. Er hatte einen Griff gehabt. Und Rollen. Schwarz. Das robuste Material hatte sich kühl angefühlt. Zum Öffnen musste man die Kombination des vierstelligen Zahlenschlosses kennen. Lemon und Tangerine kannten sie nicht. ›Wie sollen wir mit den Kidnappern verhandeln, wenn ihr uns die Nummer nicht gebt? Auf Treu und Glauben, oder was?‹, hatte er sich nicht verkneifen können zu fragen, als Minegishis Leute ihnen den Koffer übergaben.
›Sie trauen uns nicht. Sie denken, wir nehmen die Kohle und hauen ab‹, sagte Tangerine, der am schnellsten geschaltet hatte.
›Der hat se wohl nicht mehr alle‹, hatte Lemon später gesagt. ›Ich will nicht für jemanden arbeiten, der uns nicht traut.‹
›Halb so wild. Wenn du die Nummer wüsstest, würdest du bloß reingucken‹, hatte Tangerine gesagt und danach: ›Lass uns ein Erkennungszeichen dranmachen‹, einen Sticker aus der Tasche gezogen und neben das Zahlenschloss geklebt.
Stimmt, dachte Lemon, auf dem Koffer müsste eine kleine Mandarine kleben.
Kurz vor Wagen 4 traf er auf die Dame vom Bordservice. Sie hatte den Trolley angehalten und tippte etwas in ihre mobile Kasse, vielleicht um den Warenbestand zu prüfen.
»Du hast nicht zufällig jemanden mit ’nem Koffer gesehen? Einem so großen etwa«, fragte er.
Entgeistert sah sie ihn an, erholte sich aber sofort von ihrem Schreck und fragte zurück: »Mit was für einem Koffer?« Unter der dunkelblauen Schürze war sie leger gekleidet.
»Einem Reisekoffer. Schwarz. Ich hatte ihn auf die Gepäckablage gestellt, und jetzt ist er weg.«
»Das tut mir leid, da bin ich überfragt«, antwortete die Frau und verschwand hinter den Trolley, wie um seinem Blick zu entkommen.
»Überfragt? Aha«, sagte Lemon und ging weiter in Wagen 4.
Die Tür glitt so geräuschlos auf wie die in dem Raumschiff, das er mal im Film gesehen hatte.
Das Abteil war relativ leer. Lemon schritt durch den Gang und begutachtete die rechts und links in den Ablagen oder unter den Sitzen verstauten Gepäckstücke. Es waren nicht viele, das machte die Sache einfach. Ein schwarzer Koffer war nicht dabei. Dafür entdeckte er ein paar Reihen weiter vorn eine ominöse Papiertragetasche. Was sie enthielt, konnte er nicht sehen, aber es könnte ein schwarzer Koffer sein. Ohne zu zögern, marschierte er vor. Am Fenster saß ein Mann, die beiden anderen Plätze waren frei.
Lemon ließ sich auf dem Gangplatz nieder und musterte den Mann.
Um die dreißig, würde er schätzen. Etwas älter als er selbst. Könnte ein Student sein, trug aber einen Anzug. Las ein Buch, das mit einer Buchhülle versehen war.
»Hey!«, lehnte sich Lemon hinüber. »Was is’n das? Das da oben«, fragte er und zeigte auf die Papiertüte.
Es dauerte einen Moment, bis der Mann merkte, dass die Frage ihm galt. Sein Blick ging von Lemon zur Tüte. »Das? Das ist eine Papiertüte.«
»Das sehe ich. Was da drin ist, will ich wissen.«
»Bitte?«
»Mein Koffer ist weg. Und da er sich nicht in Luft aufgelöst haben kann, such ich ihn jetzt.«
»Viel Erfolg«, sagte der Mann verwirrt. Dann fiel der Groschen. »Ach so. Nein, das ist nicht Ihr Koffer. In der Tüte ist Gebäck.«
»In der Größe?«
»Es sind mehrere Schachteln.«
Merkwürdigerweise schien der Mann nicht die geringste Angst vor ihm zu haben. Dabei hätte Lemon ihn eher für einen Feigling gehalten.
»Lass mal sehen«, sagte er, machte sich lang und griff nach der Tüte. Der Mann widmete sich mit einem feinen Lächeln wieder seinem Buch. Diese Seelenruhe war Lemon nicht ganz geheuer.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie anschließend wieder zurückstellen würden.«
Lemon stellte die Tüte auf den Sitz und sah hinein. Lauter Schachteln mit verschiedenen Sorten von Gebäck, wahrscheinlich am Bahnhof Tokio gekauft. »Mitbringsel? Das sind aber viele …«
»Ich konnte mich einfach nicht entscheiden.«
»So genau kommt’s bei Mitbringseln wohl kaum drauf an.«
»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht behilflich sein kann«, lächelte der Mann leise. »Darf ich Sie bitten, die Tüte wieder zurückzustellen?«
Lemon stopfte die Tüte zurück in die Ablage und setzte sich wieder, diesmal direkt neben den Mann. Er nickte. »Du weißt genau, wo mein Koffer ist, hab ich recht?«
Der Mann sah ihn an.
»Jeder normale Mensch hätte sich aufgeregt oder vor Angst in die Hosen gemacht, aber du. Du bist völlig ruhig geblieben. Als hättest du nur darauf gewartet, dass plötzlich einer kommt und deine Tüte sehen will. Als wolltest du dir ein Alibi verschaffen. Die Masche kenn ich. Der Täter verschafft sich ein Alibi, damit er hinterher, wenn er von der Polizei nach seinem Alibi gefragt wird, sagen kann: ›Zu der und der Zeit war ich in dem und dem Geschäft.‹ Du hast das geplant. Stimmt’s?«
»Ich bitte Sie!« Der Mann lachte. Dabei rutschte die Hülle von seinem Buch und gab den Titel frei: Hotelbuffets. Der Band war illustriert. »Das ist ja wie bei der Hexenjagd. Da hieß es auch, ›wenn eine leugnet, ist es der Beweis, dass sie eine ist‹. Zu behaupten, dass ich verdächtig sei, nur weil ich keine Angst habe …«, sagte er und klappte sein Buch zu. »Ich war erschrocken. Sie haben sich da hingesetzt und wollten meine Tüte sehen. Ich war so erschrocken, dass ich nicht reagieren konnte.«
Von wegen, dachte Lemon. »Was arbeitest du?«
»Ich unterrichte an einer Nachhilfeschule. Einer kleinen Schule allerdings.«
»Du bist Lehrer? Mit Lehrern bin ich nie klargekommen. Alle, die ich kenne, hatten Angst vor mir. Keiner von denen war so entspannt wie du. Du bist Rowdies wohl gewohnt.«
»Soll ich Angst vor Ihnen haben?«
»Nee, das nun auch wieder nicht.«
»Ich versuche, normal zu sein, nicht unbedingt furchtlos. Wenn es Ihnen allerdings so vorkommt, dann liegt das vielleicht daran …« Der Mann zögerte, dann fuhr er fort: »… dass ich einmal in einer nicht ganz ungefährlichen Lage war. Seitdem bin ich nicht mehr ganz ich selbst. Ich bin gewissermaßen blockiert.«
In einer nicht ganz ungefährlichen Lage? Lemon runzelte die Stirn. »Einer deiner Schüler ist auf dich losgegangen?«
Das Gesicht des Mannes verzog sich wieder zu einem jugendlichen Lachen. »Nein, nein. Meine Frau ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, ich bin einigen gefährlichen Leuten begegnet, und so weiter und so fort«, sagte er. »Aber«, fuhr er in anderem Ton fort, »was soll ich mich grämen? Das bringt nichts. Ich lebe lieber mein Leben.«
»Das tut doch jeder. Verstehe ich nicht.«
»Weit gefehlt. Die meisten leben nicht. Sie reden natürlich, amüsieren sich, aber sie …«
»Heulen den Mond an …«
»Heulen den Mond an, das ist gut«, nickte der Mann erfreut. »Das gehört auch dazu. Und gutes Essen«, sagte er, klappte sein Buch auf und zeigte Lemon ein paar Bilder.
Lemon stand auf. Zum einen wusste er nicht, was er noch sagen sollte, zum anderen musste er weiter. »Du erinnerst mich an Edward.«
»Edward? Wer ist Edward?«
»Einer von Thomas und seinen Freunden. ›Edward ist die Lokomotive mit der Nummer 2. Er ist gutmütig und allen ein guter Freund. Gordon hat er den Berg hinaufgeschoben und Trevor vorm Verschrotten gerettet. Alle auf der Insel Sodor haben großes Vertrauen zu ihm.‹« Ehe er sich versah, hatte Lemon die Erklärung aufgesagt.
»Wow. Haben Sie das auswendig gelernt?«
»Wenn es bei der Aufnahmeprüfung das Fach Thomas und seine Freunde gäbe, wäre ich längst an der Uni«, sagte er und ging.
Die Gepäckablage im Vorraum war leer.
Dem Jungen begegnete er in Wagen 6.
Wie aus dem Nichts stand er in der Mitte des Wagens plötzlich da. Wie er dahin gekommen war, war Lemon schleierhaft. Mittelschüler vielleicht. Dass die Burschis neuerdings so glatt aussehen, dachte er verwundert, der Kleine ist ja richtig puppenhaft.
»Was willst du?«, fragte er, unschlüssig, wie bedrohlich oder eben nicht bedrohlich er einem Kind gegenüber klingen sollte. Nette Jungs erinnerten ihn an Percy, die grüne Lok.
»Ich … nichts. Suchen Sie etwas?«, fragte der Junge. »Sie haben eben einen Blick in die Toilette geworfen.«
Das Musterknabenhafte gefiel Lemon nicht. Mit Besserwissern hatte er sich noch nie gut verstanden.
»Einen Koffer. Schwarz, ungefähr so groß. Glaube kaum, dass du den gesehen hast.«
»Doch.«
»Doch?« Abrupt trat Lemon einen Schritt näher.
Der Junge fühlte sich eindeutig bedrängt, zeigte aber keine Angst. »Ich habe eben jemanden mit einem Koffer gesehen. So groß etwa«, sagte er und zeichnete mit den Händen Höhe und Breite des Koffers nach. »Schwarz«, fügte er hinzu und ließ seinen Finger in Fahrtrichtung wippen. Als wollte er sich diesem Wippen anpassen, legte der Zug an Geschwindigkeit zu. Lemon schwankte.
»Und der Typ? Wie sah der aus?«
Der Junge tippte sich ans Kinn, sah zur Decke hoch und dachte scheinbar angestrengt nach. Die Pose hatte etwas Mädchenhaftes. »Hm. Er trug eine nichtssagende Hose und eine Art Windjacke aus Jeansstoff, glaube ich.«
»’ne Jeansjacke? Wie alt war der Typ?«
»Ende zwanzig oder Anfang dreißig vielleicht. Ach ja, und er trug eine schwarze Brille. Sah cool aus.«
»Alles klar, danke.«
Nicht doch, ich bitte Sie, wedelte der Junge mit der Hand und setzte sein strahlendstes Lächeln auf.
»Hör mal«, sagte Lemon und grinste gequält. »Willst du mich auf den Arm nehmen oder bist du wirklich so ein Unschuldslamm?«
»Weder noch«, entgegnete der Junge wie aus der Pistole geschossen. »Ich sehe einfach so aus.«
»Kinder, die Shinkansen fahren, sollten leuchtende Augen haben.«
»Mögen Sie den Shinkansen?«
»Wer nicht? Die 500er mochte ich allerdings noch lieber. Nicht, dass mir der Hayate nicht gefallen würde. Noch lieber ist mir allerdings die private Lokomotive des Herzogs von Boxford.«
Irritiert sah der Junge ihn an.
»Hey, sag nicht, du kennst Spencer nicht? Aus Thomas und seine Freunde. Guckst du kein Fernsehen?«
»Als ich klein war vielleicht.«
»Du bist immer noch klein. Guck dich an, Percy«, schnaubte Lemon. Er wollte gerade weiter, als ihm der Nachrichtenticker über der Tür ins Auge fiel. Unwillkürlich blieb er stehen. SCHLANGE AUS STÄDTISCHER TIERHANDLUNG GESTOHLEN, las er. Offenbar ein seltenes Exemplar. Das Motiv des Täters sei noch unklar, las er weiter. »Der will die verscherbeln natürlich«, murmelte Lemon gleichgültig. Doch die nächste Nachricht weckte sein Interesse.
13 TOTE BEI SCHIESSEREI IN FUJISAWA-KONGOCHO. ÜBERWACHUNGSKAMERA MUTWILLIG ZERSTÖRT.
Dreizehn, dachte Lemon leidenschaftslos. Er hatte nicht mitgezählt, als sie im Dunklen einen nach dem anderen abgeknallt hatten. Gelesen kommt es einem irgendwie anorganisch vor. Dabei ist es das reinste Blutbad gewesen.
»Wow.« Der Junge hatte die Nachricht offenbar auch gelesen. »13 Tote!«
»Sechs davon gehen auf mein Konto. Die anderen hat Tangerine plattgemacht.«
»Was?«, sagte der Junge.
Das war überflüssig, dachte Lemon zerknirscht. »Wusstest du eigentlich, dass das ›Fahrgastinformationsanzeige‹ heißt«, versuchte er abzulenken.
»Was?«
»Das Ding da oben.«
»Ach das«, nickte der Junge. »Von wo werden die Informationen gesendet?«
Lemon blähte die Nasenflügel. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. »Zwei Möglichkeiten: entweder aus dem ersten Wagen oder von der Zentralen Leitstelle in Tokio. Nachrichten wie ›Der Zug passiert gerade die Station so und so‹ werden automatisch aus dem ersten Wagen gesendet. Alle übrigen Informationen, Nachrichten oder Werbung, kommen von der Zentralen Leitstelle. Wenn der Fahrplan durcheinandergerät, weil es irgendwo einen Unfall gegeben hat und so weiter. Solche Echtzeitnachrichten werden in der Zentralen Leitstelle eingetippt und poppen im Zug auf. Weißt du, was noch interessant ist? Die Nachrichten kommen abwechselnd von den sechs großen Tageszeitungen. Mal von der, mal von der, und – »
»Wir stehen im Weg.« Die resolute Bemerkung des Jungen holte Lemon auf den Boden der Tatsachen zurück.
Der Trolley stand direkt hinter ihnen. Die Frau vom Bordservice hatte das Gesicht verzogen, als wollte sie sagen: ›Nicht der schon wieder.‹
»Schade. Dabei hätte ich noch mehr gute Geschichten auf Lager …«
»Gute Geschichten«, sagte der Junge, als wollte er fragen: ›Wo war die denn bitte gut?‹
»Fandest du die nicht gut? Die Geschichte von der Fahrgastinformationsanzeige? Ist dir dabei nicht das Herz aufgegangen?«, fragte Lemon mit ernstem Gesicht. »Is’ ja auch egal. Danke jedenfalls. Kriegst’n Bonbon, wenn ich den Koffer finde.«