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Der Marienkäfer

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Ein kleingewachsener Junge im Blazer kam vorbei. Nanao klappte das Handy zu und steckte es sich in die Gesäßtasche. Ruhig Blut, mahnte er sich. Am Türfenster lehnte – mit gebrochenem Genick – der Wolf. Nanao musste aufpassen, dass der Kerl nicht zur Seite fiel und der Kopf herumschlackerte.

Der Junge blieb stehen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. Auch das noch, dachte Nanao. Das lernen die wahrscheinlich in der Schule. Jeden Tag eine gute Tat.

»Jaja, alles in Ordnung. Dem ist nur schummrig. Hat ein bisschen zu viel getrunken, der Gute«, erwiderte Nanao, darauf bedacht, nicht zu haspeln, und lehnte sich an den Wolf. »Hey, hast du gehört? Wach auf. Du erschreckst die Kinder«, sagte er und stieß die Leiche an.

»Soll ich Ihnen helfen, ihn zu seinem Platz zurückzubringen?«

»Nein, nein, nicht nötig. Alles gut.« Alles gut? Zusammen mit einer Leiche aus dem Fenster zu gucken?

»Oh!« Der Junge richtete den Blick auf den Boden.

Auf dem Boden lag eine Platzkarte. Wahrscheinlich die vom Wolf.

»Entschuldige, aber könntest du die vielleicht für mich aufheben?«, bat Nanao. Er hätte mit der Leiche in die Knie gehen können, auch wenn es nicht ganz einfach gewesen wäre, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es besser wäre, dem Jungen zu seiner »guten Tat« zu verhelfen.

Der Junge hob die Karte sofort auf.

»Vielen Dank«, sagte Nanao und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an.

»Alkohol ist wirklich schlimm. Der Mann, mit dem ich unterwegs bin, kann die Finger auch nicht davon lassen«, sagte der Junge lebhaft und marschierte los, Richtung Wagen 6. »Ist das Ihrer?«, fragte er. Offenbar hatte er den verwaisten Koffer an der Tür gegenüber entdeckt.

Wo in aller Welt gehst du zur Schule? Nanao verdrehte innerlich die Augen. Verschwinde endlich! Aber der Junge verschwand nicht. Irgendetwas schien ihn zu stören. Sag mir, auf welche Schule ich meine Kinder schicken muss, wenn ich irgendwann mal welche haben sollte, damit sie zu so freundlichen Kindern werden wie du, hätte er ihm am liebsten um die Ohren gehauen. Was für ein Pech! Dass ausgerechnet hier und jetzt ein Junge vorbeikommen musste, der unbedingt etwas Gutes tun wollte.

»Den kannst du so stehen lassen«, sagte er, strenger als beabsichtigt, und wieder etwas weicher: »Das ist meiner. Ich kümmere mich nachher darum.«

»Aber so nimmt ihn vielleicht jemand mit«, beharrte der Junge. »Die Leute nehmen, was sie kriegen können.«

»Das überrascht mich jetzt aber«, rutschte es Nanao heraus. »Ich dachte, an deiner Schule würde man lernen, dass der Mensch von Natur aus gut ist.«

»Wieso?«, fragte der Junge. Aber Menzius war ihm offenbar bekannt. Er hatte ihn erst kürzlich durch Maria kennengelernt, dachte Nanao betrübt.

»Tja, wieso?« Weil Schüler mit guten Manieren zu so einer Schule passen, natürlich!

»Ich persönlich glaube, dass der Mensch von Natur aus weder gut noch böse ist.«

»Dass er gut oder böse wird also?«

»Nein, dass es davon abhängt, wie man gut oder böse definiert.«

Das war aber dezidiert, dachte Nanao befremdet. Reden alle Schüler so?

»Ich helfe Ihnen mit dem Koffer.«

»Nicht nötig«, sagte Nanao. Er war kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Das schaffe ich selbst.«

»Was ist denn in dem Koffer?«

»Das weiß ich selber nicht«, rutschte es ihm heraus, was der Junge aber für einen Scherz zu halten schien. Er lachte. Seine ebenmäßigen Zähne glänzten perlweiß.

Er schien noch etwas sagen zu wollen, verabschiedete sich dann aber höflich und verschwand Richtung Wagen 6.

Erleichtert fasste Nanao den Wolf unter und trat zum Koffer. Erst die Leiche, dann der Koffer. Noch hatte sein Besitzer das Verschwinden vielleicht nicht bemerkt, aber wenn er es merkte, würde er den Zug garantiert auf den Kopf stellen, um ihn wiederzufinden. Mitnehmen konnte Nanao ihn also nicht.

Unschlüssig sah er sich um. Vielleicht sollte er den Wolf erst mal irgendwo hinsetzen, überlegte er, als sein Blick auf die Abfallbehälter fiel. Ein runder für Flaschen und Dosen, ein rechteckiger für Zeitschriften und Papier und ein großformatiger mit Klappe für Restmüll.

Aber was war das? Neben dem Rechteck für Zeitschriften und Papier entdeckte er ein in die Wand eingelassenes Plättchen mit einem Loch. Es sah aus wie ein Schlüsselloch, war aber keins. Nanao wunderte sich noch, als seine Finger schon gedrückt hatten. Eine metallene Lasche sprang heraus. Er drehte.

Das, was er für eine Wand gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Paneel, hinter dem sich eine Art Spind verbarg. Am unteren der beiden Fächer hingen verschiedenfarbige Abfallsäcke. In denen landete vermutlich der Abfall, den die Fahrgäste außen einwarfen.

Das obere Fach war zu Nanaos Freude leer. Zum Nachdenken war keine Zeit. Die Leiche im Arm, wuchtete er den Koffer mit einer Hand auf das Regal. Es rummste. Sofort machte Nanao die Tür wieder zu.

Wer hätte gedacht, dass sich hier so ein Versteck findet!, frohlockte er.

Als Nächstes warf er einen Blick auf die Platzkarte, die der Junge vom Boden aufgehoben hatte. Wagen 6, Reihe 1. Mit anderen Worten: Die erste Reihe im nächsten Wagen. Besser ging’s nicht.

Glück gehabt!, dachte er. Und dann: Wirklich?

Sonst klebte ihm das Pech an den Hacken, und heute hatte ihm schon zweimal das Glück gewunken: Er hatte ein gutes Versteck für den Koffer gefunden, und der Sitzplatz vom Wolf befand sich in unmittelbarer Nähe.

Das dicke Ende kommt noch, unkte eine Stimme in seinem Kopf, eine andere rief: Bitte nicht!

Draußen rauschte die Landschaft vorbei. Ein riesiger Kran auf dem Dach eines noch unfertigen Gebäudes, Wohnblöcke, Kondensstreifen am Himmel – alles zog in ein und derselben Geschwindigkeit auf und davon.

Nanao fasste den Wolf um die Hüfte. Ihn über der Schulter zu tragen, wäre zu auffällig. Quasi dreibeinig zu laufen, sah auch nicht natürlich aus, aber was sollte er machen?

Die Tür zu Wagen 6 glitt auf. Nanao tauchte nach links in die erste Zweierreihe ab. Den Wolf platzierte er am Fenster, sich selbst am Gang. Gut, dass auf der rechten Seite niemand saß.

Kaum hatte er aufgeatmet, kippte die Leiche zum Gang hin weg. Hastig richtete Nanao sie wieder auf. An den Anblick lebloser Körper konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Sie waren und blieben ihm unheimlich. Nanao versuchte, die Leiche in eine andere Position zu bringen. Probeweise legte er den linken Arm auf das Fensterbord, aber dafür war der Wolf zu klein, der Arm lag zu hoch und stand unnatürlich ab. Nanao probierte weiter, aber jedes Mal, wenn er dachte, so geht’s, kam die Leiche wie in Zeitlupe wieder auf ihn zu.

Nanao unterdrückte den aufsteigenden Zorn und versuchte es noch einmal. Er lehnte den Wolf so ans Fenster, dass es aussah, als ob er schliefe, und zog ihm die Schiebermütze ins Gesicht.

Im selben Moment rief Maria an. Nanao ging zurück in den Vorraum, stellte sich ans Fenster und hielt sich das Handy ans Ohr.

»In Omiya steigst du aus, hörst du!«

Nanao lächelte gequält. Etwas anderes hatte er nicht vorgehabt.

»Und? Genießt du die Fahrt?«

»Dazu hatte ich noch keine Zeit. Der Wolf sitzt auf seinem Platz und schläft. Und den Koffer habe ich versteckt.«

»Na also!«

»Weißt du jetzt mehr über den Kofferträger?«

»Nur, dass er in Wagen 3 sitzt.«

»Nicht mehr? Es wäre einfacher, wenn ich wüsste, vor wem ich mich in Acht nehmen muss.«

»Ich würd’s dir sagen, wenn ich’s wüsste. Aber ich weiß es nicht.«

»Jungfrau Maria hilf!« An der Tür waren die Fahrgeräusche besonders laut. Das Handy am Ohr, drückte Nanao die Stirn ans Fenster. Die Scheibe war kühl. Er sah den vorbeirasenden Gebäuden hinterher.

Die Tür zum vorderen Wagen glitt auf, Schritte näherten sich. Jemand machte die Tür zur Toilette auf, trat ein, kam sofort wieder heraus und schnalzte ärgerlich mit der Zunge.

Suchte der was?

Nanao warf ihm einen kurzen Blick zu. Es war ein großer, schlanker Mann. Unter seinem Jackett trug er ein graues Hemd. Er hatte eine Sturmfrisur und angriffslustig funkelnde Augen. Den kenne ich doch, dachte Nanao. »Ach du …«, sagte er, die aufsteigende Panik unterdrückend, und drehte sich wie ein unschuldig telefonierender Fahrgast wieder zum Fenster.

»Was ist?«, fragte Maria misstrauisch. Der veränderte Tonfall war ihr nicht entgangen.

»Was ich noch sagen wollte …« Nanao wartete, bis der Mann in Wagen 6 verschwunden war und sagte dann mit normaler Stimme: »Hier kam gerade jemand vorbei, den ich kenne.«

»Wer? Jemand Berühmtes?«

»Einer von diesen Zwillingen. Die aus der Branche. Lemon und Lime, oder wie die heißen.«

Marias Stimme wurde ernst. »Lemon und Tangerine. Das sind aber keine Zwillinge. Man hält sie dafür, weil sie eine ähnliche Ausstrahlung haben, aber de facto sind es keine. Charakterlich sind sie völlig verschieden.«

»Einer der beiden ist jedenfalls gerade an mir vorbeigegangen.«

»Der Leichtsinnige mit dem Faible für Züge und Thomas, die kleine Lokomotive, ist Lemon. Der Ernste mit dem Faible für Literatur ist Tangerine. Blutgruppe A und B in Reinkultur. Wenn sie ein Ehepaar wären, wären sie längst geschieden.«

»Die Blutgruppe konnte ich leider nicht erkennen«, witzelte Nanao, um seine Nervosität zu überspielen. Schade, dass er kein Hemd mit Lokomotivmuster anhatte, dachte er. Eine böse Ahnung befiel ihn. »Könnte es sein, dass die den Koffer transportieren?«, fragte er.

»Ausgeschlossen ist es nicht. Wobei ich nicht weiß, ob die immer zusammenarbeiten. Früher sollen sie solo gewesen sein.«

»Sie wären die Besten, habe ich gehört.«

Das hatte ihm ein bekannter Kontaktmann erzählt, den Nanao irgendwann in einem Mitternachtscafé getroffen hatte. Früher habe er selbst Leute umgebracht und schmutzige Aufträge erledigt, wäre mit zunehmendem Gewicht aber so unbeweglich geworden, dass er die Lust am operativen Geschäft verloren und beschlossen habe, Kontaktmann zu werden. Mit Erfolg, wie es schien. Er war ein ernster, anständiger Kerl, und damals hatte es noch nicht viele Kontaktmänner gegeben. Gute Entscheidung, hatte Nanao angesichts der beträchtlichen Leibesfülle des Kontaktmannes gedacht. ›Ich wusste immer schon, wie man mit Kollegen am besten Kontakt aufnimmt‹, hatte der Kontaktmann selbstzufrieden gesagt, auch wenn Nanao dieser Logik nicht ganz hatte folgen können. Der Mann hatte ihm damals jedenfalls vorgeschlagen, sich die Aufträge nicht mehr von Maria, sondern von ihm vermitteln zu lassen. Und dann seinen Standardspruch abgelassen: Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht.

»Was ist die gute?«

»Ich habe gerade einen sehr lukrativen Auftrag. Wenn du willst, ist es deiner.«

»Und die schlechte?«

»Die Gegner heißen Lemon und Tangerine. Das Beste, Rücksichtsloseste und Furchteinflößendste, das die Branche derzeit zu bieten hat.«

Nanao lehnte sofort ab. Er hätte nichts dagegen gehabt, bei Maria auszusteigen, aber gegen die »Besten der Branche« anzutreten hatte er keine Lust.

»Gegen die anzutreten habe ich keine Lust«, klagte Nanao.

»Aber die vielleicht gegen dich. Wenn sie etwas mit dem Koffer zu tun haben«, erwiderte Maria ungerührt. »Was soll das überhaupt: ›die Besten‹. Für die Oscars sind auch immer ›die Besten‹ nominiert. ›Beste‹ gibt es viele. Denk mal an den Pusher. Den Typen, der die Leute vor Züge oder Autos schubst, und zwar immer so, dass es aussieht wie ein Unfall. Von dem heißt es auch, er sei ›der Beste‹. Oder die Wespe. Die war auch eine Zeit lang in aller Munde.«

Von der Wespe hatte Nanao schon gehört. Die hatte sich vor sechs Jahren in die Firma eines gewissen Terahara eingeschlichen, eines der mächtigsten Männer der Branche, eben diesen umgebracht und damit schlagartig Berühmtheit erlangt. Es hieß, sie töte ihre Opfer mit einem unauffälligen Giftstich in den Hals oder unter den Fingernagel. Sie arbeite allein oder allenfalls zu zweit.

»Und jetzt? Jetzt hörst du gar nichts mehr von ihr. Der Boom ist vorbei. Das war ’ne Eintagsfliege.«

»Meinst du?«

»Das meiste, was du über alte Profis hörst, ist erstunken und erlogen.«

Nanao musste wieder an den dicken Kontaktmann denken. ›Immer, wenn ich einen alten Film sehe‹, hatte der gesagt, ›frage ich mich, wie die das hingekriegt haben, ohne CG oder Spezialeffekte. Die deutschen Stummfilme zum Beispiel. Die sind uralt, und trotzdem strahlen sie.‹

›Sie strahlen vielleicht, weil sie alt sind. Wie Antiquitäten.‹

Der Kontaktmann hatte theatralisch den Kopf geschüttelt. ›Nein. Sie strahlen trotz ihres Alters. Sieh dir Metropolis an. Stark! Und genau so waren die Profis. Wie soll ich sagen – robust, hart, stark, kein Vergleich zu heute‹, hatte der Mann geschwärmt. ›Weißt du, warum die ewig leben? Warum das Legenden sind?‹

›Nein. Warum?‹

›Weil sie entweder gestorben oder in Rente gegangen sind.‹

›Da mag was dran sein.‹

Der Kontaktmann hatte zufrieden genickt und so eifrig von einem legendären Profi erzählt, den er gut gekannt habe, dass der Speichel nur so sprühte.

»Ob ich auch in die Geschichte eingehe, wenn ich mich früh zur Ruhe setze?«, fragte Nanao ins Telefon.

»Als ›der Mann, der in Ueno nicht aussteigen konnte‹?«, erwiderte Maria sofort ironisch.

»Ich steige in Omiya aus.«

»Damit es nicht heißt ›der Mann, der in Omiya nicht aussteigen konnte‹.«

Nanao legte auf und kehrte an seinen ursprünglichen Platz in Wagen 4 zurück.

Bullet Train

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