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Kimura

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Der Bahnhof Tokio war voll. Ob das normal war, wusste Yuichi Kimura nicht. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Man hätte ihm auch erzählen können, dass es sich um eine Großveranstaltung handelt. Er musste an die Pinguine denken, die er mit Wataru im Fernsehen gesehen hatte. Die hatten sich auch so gedrängelt. Aber das konnte er verstehen. Denen war kalt gewesen.

Kimura nutzte eine Lücke im Gewimmel, ging zwischen einem Souvenirgeschäft und einem Kiosk hindurch und beschleunigte den Schritt.

Er stieg eine kurze Treppe hinauf und passierte die automatische Sperre. Die Befürchtung, dass die Waffe in seiner Innentasche dabei entdeckt, die Schranke sich schließen und er vom Sicherheitspersonal überwältigt werden könnte, erwies sich als unbegründet. Er blieb stehen, sah zur elektronischen Anzeigetafel auf und vergewisserte sich, auf welchem Gleis sein Zug abfuhr, der Shinkansen Hayate. Die uniformierten Wachmänner nahmen keine Notiz von ihm.

Ein kleiner Junge mit Rucksack ging an ihm vorbei, ein Grundschüler wohl. Kimura dachte an Wataru. Sein Herz krampfte sich zusammen. Vor seinen Augen erschien das Bild seines kleinen Sohnes, der im Krankenhaus noch immer im Koma lag. ›Selbst jetzt sieht der Ärmste noch so verständig aus‹, hatte seine Mutter geschluchzt. Jedes Wort hatte sich wie ein Pfeil in seine Eingeweide gebohrt.

Das wird er büßen! Kaum zu glauben, dass jemand, der ein sechsjähriges Kind vom Dach eines Kaufhauses schubst, frei herumlaufen darf. Wut schnürte ihm die Kehle zu, nicht Trauer. Kimura marschierte zur Rolltreppe. Er hatte aufgehört zu trinken. Geradeaus zu gehen war kein Problem. Seine Hände zitterten nicht. Die Papiertüte mit dem Aufdruck TOKYO SOUVENIR in der Hand lief er weiter.

Der Zug war abfahrbereit. Kimura legte einen Schritt zu. An der vorderen Tür von Wagen 3 stieg er ein. Den Informationen eines alten Kollegen zufolge saß die Person, die er suchte, in Wagen 7, Reihe 5. Kimura wollte sich von hier aus anpirschen.

Er betrat den Vorraum. Linker Hand entdeckte er eine Waschnische. Er zog den Vorhang hinter sich zu und besah sich im Spiegel. Sein Haar war lang geworden, in seinen Augenwinkeln klebte Schlaf. Rasiert hatte er sich ewig nicht mehr. Der Anblick seines erschöpften Gesichts tat selbst ihm in den Augen weh. Er wusch sich die Hände. Schrubbte, bis das Wasser aus dem Hahn versiegte. Seine Hände zitterten. Das ist die Aufregung, sagte er sich, nicht der Alkohol.

Seit Watarus Geburt hatte er keine Pistole mehr angefasst. Allenfalls beim Umzug oder beim Putzen. Gut, dass ich sie nicht weggeworfen habe, dachte er. Um dem Burschen eine Lektion zu erteilen, war eine Pistole genau das Richtige.

Sein Spiegelbild verzerrte sich. Das Glas sprang. ›Vorbei ist vorbei. Kannst du mit einer Pistole überhaupt noch umgehen?‹, tönte es ihm aus den Splittern entgegen. ›Du bist ein Säufer. Nicht mehr und nicht weniger. Nicht mal deinen Sohn konntest du beschützen.‹ ›Ich trinke nicht mehr.‹ ›Dein Sohn liegt im Krankenhaus.‹ ›Der Kerl wird dafür büßen.‹ ›Das darfst du nicht zulassen!‹ explodierten die Gedanken in seinem Kopf.

Er zog die Pistole aus dem schwarzen Blouson und schraubte den Zylinder aus der Papiertüte an. Der Schalldämpfer würde den Knall nicht ganz verschlucken, ihn aber immerhin so dämpfen, dass seine 22-Millimeter harmloser klingen würde als eine Spielzeugpistole.

Kimura nickte seinem Spiegelbild zu, ließ die Waffe in der Tüte verschwinden und trat aus der Waschnische.

Fast wäre er dabei mit der Frau vom Bordservice zusammengestoßen, die gerade ihren Trolley bestückte. Du stehst im Weg, hätte er am liebsten gepoltert, räumte aber, als ihm die Bierdosen ins Auge fielen, sofort das Feld.

›Ein Schluck, und du bist wieder da, wo du warst. Merk dir das‹, schossen ihm die Worte seines Vaters durch den Kopf. ›Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker. Ein Schluck, und du hängst wieder an der Flasche.‹

Als Kimura Wagen 4 betrat, schlug der Mann in der ersten Sitzreihe links die Beine übereinander. Kimura blieb mit seiner Tüte hängen. Vorsichtig zog er sie wieder an sich.

Er war so nervös, dass er am liebsten zugeschlagen hätte. Der Mann an der Tür trug eine schwarze Brille und sah angenehm aus. »Verzeihung«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. Kimura schnalzte mit der Zunge. Er wollte gerade weitergehen, als der Mann sagte: »Vorsicht, Ihre Tüte ist gerissen.« Kimura blieb stehen. Die Tüte mit der Waffe hatte tatsächlich einen Riss, aber das musste ihm jetzt egal sein. »Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß«, sagte er und setzte sich wieder in Bewegung.

Er hastete durch Wagen 4, dann weiter durch die Wagen 5 und 6.

»Papa. Warum ist Wagen 1 der letzte?«, hatte Wataru gefragt. Bevor er ins Koma gefallen war, natürlich.

»Weil er von Tokio aus gesehen der erste ist«, hatte Kimuras Mutter die Frage beantwortet.

»Was heißt das, Papa?«

»Die Wagen werden von Tokio aus durchnummeriert. Wenn wir zu Oma und Opa fahren, ist Wagen 1 ganz hinten, und wenn wir zurück nach Hause fahren, ganz vorne.«

»Man fährt doch auch nach Tokio ›hoch‹«, hatte Kimuras Vater gesagt. »Alles ist auf Tokio ausgerichtet.«

»Wenn ihr zu uns kommt, kommt ihr also hoch

»Genau. Um dich zu sehen, schnaufen Oma und Opa den Hügel hinauf.«

»Der Shinkansen schnauft.«

»So ein niedlicher Kerl. Kaum zu glauben, dass er von dir ist«, hatte Kimura Senior gesagt und seinem Sohn einen vielsagenden Blick zugeworfen.

»Der Spruch kommt mir bekannt vor.«

»Das meint man in der Genetik wohl mit dem Überspringen einer Generation«, hatten seine Eltern weitergeplaudert, ohne sich an seiner Ironie zu stören.

Wagen 7. Linker Hand Zweierreihen, rechter Hand Dreierreihen, alle Sitze in Fahrtrichtung. Kimura umfasste die Pistole in der Tüte, zählte die Reihen ab und tat ein, zwei große Schritte nach vorn.

Der Wagen war leerer als gedacht. Fast alle Sitzplätze waren frei. Rechts am Fenster in Reihe 5 saß in aufrechter Haltung ein Jugendlicher in weißem Hemd und Blazer, der gebannt die einfahrenden Züge beobachtete. Man hätte ihn für einen Musterschüler halten können.

Kimura näherte sich vorsichtig. Kann dieses unschuldig aussehende Kind wirklich dermaßen böse sein, fragte er sich. Von hinten sieht er aus wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal allein verreisen darf. In diesem einen Moment war Kimura nicht auf der Hut.

Vor seinen Augen explodierte ein Feuerwerk.

Zuerst dachte er, die Beleuchtung im Shinkansen sei defekt, aber das war es nicht. Nicht die Sicherungen im Shinkansen, sondern die in seinem Hirn waren durchgebrannt. Er sah nur noch schwarz. Der Junge am Fenster hatte sich blitzschnell zu Kimura gedreht und ihm etwas an den Oberschenkel gedrückt, eine Art großformatige Fernbedienung. Als Kimura merkte, dass es der selbst gebastelte Elektroschocker des Schülers war, war es schon zu spät: Die Haare standen ihm zu Berge, und er konnte sich nicht mehr rühren.

Als er wieder zu sich kam, saß er am Fenster, die Hände und Füße mit Klettband gefesselt.

»Du bist wirklich dumm. Dass du so berechenbar bist, hätte ich allerdings nicht gedacht. Selbst Computerprogramme verhalten sich erratischer. Ich wusste, dass du kommst. Und in welcher Branche du mal warst, weiß ich natürlich auch«, sagte der Junge neben ihm leichthin. Sein Gesicht mit den Mandelaugen und der wohlgeformten Nase hatte etwas Feminines. »Siehst du. Alles wie geplant. Wer hätte gedacht, dass das Leben so leicht ist«, sagte der Junge, der Kimuras Sohn zum Spaß vom Kaufhausdach gestoßen hatte, mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der, obwohl er noch zur Schule geht, schon alles gesehen und erlebt hat. »Dabei hast du dir so viel Mühe gegeben. Sogar auf deinen geliebten Alkohol verzichtet.«

Bullet Train

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