Читать книгу Bullet Train - Котаро Исака - Страница 8
Der Marienkäfer
ОглавлениеDer Wolf stieß Nanao mit der Brust vor sich her, bis der mit dem Rücken an die Tür auf der anderen Seite des Vorraums prallte. Seine Augen funkelten vor Freude über das unerwartete Wiedersehen.
Sobald der Shinkansen aus den Tiefen des Bahnhofs in Ueno wieder aufgetaucht war, nahm er Fahrt auf. Die Landschaft flog nur so vorbei.
Jetzt warte doch mal. Ich hätte in Ueno aussteigen müssen, wollte Nanao sagen, aber er konnte nicht. Der Wolf drückte ihm den Ellenbogen ans Kinn.
Den Koffer hatte er nicht mehr in der Hand. Er stand da, wo er ihn abgestellt hatte, an der Tür gegenüber. Nanao machte sich Sorgen, dass er bei dem Geschaukel umfallen könnte.
»Wegen dir fehlt mir ein Backenzahn«, schäumte der Wolf. »Du bist schuld, du!«
Ich wusste es, dachte Nanao. Ich wusste, dass noch was passiert. Der Kinnhaken, den er kassiert hatte, schmerzte weit weniger als die Enttäuschung. Warum konnte nicht einmal, ein einziges Mal alles glattgehen? Jetzt musste er bis Omiya fahren. Gut möglich, dass er bis dahin dem Kofferträger begegnete. Angewidert blickte er auf das schuppige Haar des Wolfs, der unentwegt Verwünschungen ausstieß.
Der Zug schwankte. Der Wolf verlor das Gleichgewicht. »Ich entschuldige mich, ich entschuldige mich«, sagte Nanao schnell, als der Ellbogen sein Kinn freigab, und hob die Hände. »Peace, peace. Wir erregen nur Aufsehen. Lass uns in Omiya aussteigen und die Sache da klären«, schlug er vor, obwohl er bereits ahnte, dass die Sache ein ungutes Ende nehmen würde.
»Spiel dich nicht auf, Käfer.«
Missmutig verzog Nanao das Gesicht. Schlagartig stieg ihm das Blut in den Kopf. Nicht wenige in der Branche nannten ihn Käfer oder Marienkäfer. Das Insekt war ihm gar nicht zuwider. Im Gegenteil, er fand die kleinen roten Körper niedlich, und die schwarzen Punkte darauf erschienen ihm wie kleine Universen. Noch dazu waren es sieben. Lucky Seven. Der Traum eines jeden, der vom Pech verfolgt wird. Aber wenn ihn jemand mit diesem Namen aufzog und hämisch grinsend durchblicken ließ, dass er ihn für ein kleines, schwaches Insekt hielt, wurde er wütend.
»Lass mich los. Was willst du überhaupt?«, brauste er auf. Im selben Moment zückte der Wolf ein Messer.
»Langsam«, versuchte Nanao, ihn zu beschwichtigen. »Bist du verrückt? Hier so ein Ding zu ziehen. Was willst du damit? Das gibt nur Ärger.«
»Keine Bewegung. Und jetzt ab ins Klo. Da schlitz ich dich auf. Ich mach’s kurz, keine Sorge. Eigentlich würde ich mir gerne Zeit lassen, bis du mich anflehst, dich endlich abzustechen, aber das geht heut leider nicht, ich hab noch was zu erledigen. Hast Glück gehabt.«
»Zugtoiletten mag ich nicht.«
»Umso besser«, sagte der Wolf. Seine Augen unter der Schiebermütze funkelten.
»Ich habe einen Auftrag zu erledigen.«
»Ich auch. Und was für einen! Einen Großauftrag. Ich hab doch gesagt, ich hab keine Zeit.«
»Einen Großauftrag? Du? Dass ich nicht lache!«
»Sehr groß sogar!«, spielte der Wolf sich auf und fischte mit der freien Hand ein Foto aus der Innentasche seines Blousons. Das Porträt einer Frau. »Kennste die?«
»Woher sollte ich.« Nanao schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Der Wolf hatte immer Fotos dabei. Fotos, die er von seinen Auftraggebern bekam, und solche, die er selbst schoss und mit denen er sich brüstete. »Vor der Mangel, nach der Mangel!« Oder: »Vorher, nachher.« Oder: »Vor dem Tod, nach dem Tod.« Das war auch ein Punkt, der Nanao missfiel. »Wer soll das sein? Rotkäppchen?«
»Sag nicht, die kennst du nicht.«
»Wer soll das sein?«
»Hier geht’s um Rache. Blutrache. Und ich habe sie gefunden.«
»Du willst dich an ihr rächen, weil sie dich hat abblitzen lassen?«
Der Wolf schnitt eine Grimasse. »Das musst du gerade sagen.«
»Das ist doch alles, was du kannst. Frauen quälen.«
»Denk, was du willst. Betrachte mich als Toyotomi Hideyoshi auf seinem Weg, Akechi Mitsuhide aus dem Weg zu räumen. Mehr sage ich nicht. Sonst kommst du mir am Ende noch zuvor«, sagte er und steckte das Foto wieder weg.
Warum sich der Wolf immer mit historischen Figuren vergleichen musste, war Nanao ein Rätsel.
»Ich muss mich beeilen. Ich mach’s kurz«, sagte er und hielt Nanao das Messer an die Kehle. »Angst?«
»Ja.« Nanao sah keinen Grund, sich zu verstellen. »Steck das Messer weg.«
»Bitte. Steck bitte das Messer weg.«
»Steck bitte das Messer weg, lieber Wolf.«
Wenn jemand käme, hätten sie ein Problem. Jeder, der sie sähe, würde sich fragen, was sie da so eng beieinander machten. Selbst wenn das Messer nicht zu sehen wäre. Nanaos Hirn arbeitete auf Hochtouren. Der Wolf konnte jeden Moment zustechen. Die Klinge an seinem Hals zwickte.
So gut es ging, taxierte er seinen Widersacher. Der Wolf war kleiner als er. Um ihm das Messer an den Hals zu halten, musste er sich strecken. Deswegen stand er nicht stabil. Völlig offene Deckung, dachte Nanao, schlängelte sich um den Wolf herum, schob ihm von hinten die Arme unter den Achseln hindurch, verschränkte sie, als sollte der Wolf ihn hochleben lassen, und setzte ihm das Kinn auf den Kopf. In Sekundenschnelle hatte sich das Blatt gewendet. »Stopp, Stopp.« Jetzt war es der Wolf, der um sein Leben bettelte.
»Ich will keinen Ärger. Du gehst jetzt zu deinem Platz und setzt dich hin«, flüsterte Nanao ihm ins Ohr. Jemandem das Genick zu brechen, war für ihn ein Leichtes. Als er noch jünger gewesen war, hatte er das geübt wie ein Fußballer das Ballhochhalten. Die Technik war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Man musste den Kopf nur packen und einmal kräftig drehen. Dem Wolf wollte er das Genick natürlich nicht brechen. Auf noch mehr Ärger konnte er verzichten. Es reichte, seinen Kopf zu fixieren und so zu tun, als ob.
»Okay. Lass«, sagte der Wolf schnell.
Im selben Moment schwankte es. Nicht stark, aber stark genug, um Nanao aus dem Gleichgewicht zu bringen. Entweder hatte er mit dem zusätzlichen Gewicht nicht stabil gestanden, oder der Wolf war mit den Sohlen weggerutscht. Jedenfalls landete Nanao auf dem Hintern. Schamesröte schoss ihm ins Gesicht. Dann fiel ihm auf, dass er den Wolf noch am Schopf hatte. Der Wolf saß ebenfalls auf dem Hintern. Der wird sich doch jetzt nicht selbst abgestochen haben, dachte Nanao entsetzt, stellte jedoch erleichtert fest, dass das Messer sauber war.
»Steh auf«, sagte er und gab dem Wolf einen Schubs. Der Kopf des Kerls schlackerte wie der einer kaputten Puppe.
Erschrocken beugte Nanao sich vor, um dem Wolf ins Gesicht zu sehen. Das Gesicht sah merkwürdig aus. Die Augen waren nach oben verdreht, und der Mund stand offen. Am meisten irritierte ihn jedoch der unnatürlich gebogene Hals. Das darf doch nicht wahr sein! Er musste dem Kerl versehentlich das Genick gebrochen haben.
Nanaos Handy vibrierte. Ohne einen Blick aufs Display hielt er es sich ans Ohr. Es konnte nur Maria sein.
»Auf dieser Welt gibt’s keine einfachen Jobs«, sagte er, stand auf, zog den Wolf auf die Füße und nahm ihn wie eine überdimensionale Puppe in den Arm. Dabei die Balance zu halten war gar nicht so einfach.
»Warum rufst du nicht an, Mensch?« Maria klang ärgerlich. »Wo bist du? Du müsstest doch längst ausgestiegen sein. Wo ist der Koffer?«
»Ich bin im Zug. Der Koffer ist bei mir«, erwiderte Nanao so unbefangen wie möglich, den Blick auf dem Koffer, der an die Tür gerutscht war. »Ueno habe ich verpasst.«
»Wie bitte?«, kreischte sie. »Was soll das heißen? Du bist nicht in der Lage, in einen Zug zu steigen und eine Station weiter wieder auszusteigen?« Dann fuhr sie leiser fort: »Okay. Was kannst du eigentlich? Im Supermarkt an der Kasse sitzen? Nein, da muss man flexibel sein, das wär nichts für dich. Du kannst nur in einen Zug steigen. Einsteigen und nicht wieder aussteigen. In Zukunft suche ich nach solchen Jobs.«
Am liebsten hätte Nanao das Handy auf den Boden gefeuert.
»Ich wollte in Ueno ja aussteigen. Ich stand sogar schon in der Tür. Aber genau da, wo ich aussteigen wollte, ist der eingestiegen. An meiner Tür«, sagte er und warf einen Blick auf den Wolf in seinem Arm. »Der hier, meine ich.«
»Der hier! Wer? Der liebe Gott? Und was hat er gesagt? Wir müssen noch an Bord bleiben, mein Junge. Oder was?«
Nanao überhörte den Spott und senkte die Stimme: »Der Wolf. Dieser widerliche Kerl, der Tiere und kleine Mädchen quält.«
»Der Wolf? Ach der?« Ihre Stimme nahm endlich einen anderen Klang an. »Ich nehme an, er hat sich mächtig gefreut. Bei dem Hass, den er auf dich hat«, sagte sie vorsichtig, nicht aus Sorge um Nanao allerdings.
»Er ist mir vor Freude um den Hals gefallen.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Nanao nutzte die Gelegenheit, sich das Handy mit der Schulter ans Ohr zu klemmen. Wohin mit dem Kerl, überlegte er. In die Toilette? Hat er selbst vorgeschlagen. Geht nicht, verwarf er den Gedanken. Die Leiche in die Toilette zu schaffen, wäre nicht das Problem. Das Problem wäre, dass er selbst, aus Angst, dass man sie dort entdecken könnte, nicht mehr stillsitzen würde und so oft nachsehen ginge, dass er auffiele.
»Und … dann?«, forschte Maria.
»Ich überlege gerade, wo ich seine Leiche verstecke.«
Am anderen Ende herrschte wieder Schweigen. »Der Wolf steigt ein, fällt dir um den Hals, und jetzt ist er tot«, konstatierte sie einen Moment später. »Kannst du mir bitte verraten, was dazwischen passiert ist?«
»Nichts. Nicht viel. Er hat mir ein Messer an den Hals gehalten und gedroht, mich aufzuschlitzen.«
»Warum?«
»Weil er mich nicht leiden kann, nehme ich an. Dann haben wir die Positionen getauscht, und ich habe so getan, so getan, wohlgemerkt, als ob ich ihm das Genick brechen wollte. Dann hat der Zug geschwankt.«
»Das haben Züge so an sich. Und dann?«
»Was hatte der da überhaupt zu suchen, dieser Idiot!«, rutschte es Nanao heraus.
»Über Tote spricht man nicht schlecht«, sagte Maria ernst. »Du hättest ihn nicht gleich umbringen müssen.«
»Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich hab das Gleichgewicht verloren, und im nächsten Moment sehe ich, dass der sich das Genick gebrochen hat. Das war kein Fehler, das war höhere Gewalt.«
»Das klingt nach einer sehr faulen Ausrede …«
»Über Lebende spricht man nicht schlecht«, versuchte Nanao zu scherzen, obwohl ihm nicht nach Scherzen zumute war. »Jetzt hab ich ihn jedenfalls im Arm und muss irgendwas mit ihm machen.«
»Stellt euch in die Ecke und knutscht.« Marias Stimme klang verzweifelt.
»Zwei Typen, die bis Omiya kuscheln? Nicht sehr realistisch.«
»Dann setz ihn irgendwo hin. Aber pass auf, dass nicht auffällt, dass er tot ist. Setz ihn auf deinen Platz, oder noch besser, sieh auf seiner Karte nach, wo er sitzt, und setz ihn da hin.«
Das ist die Idee, dachte Nanao und nickte. »Danke. So mach ich’s.«
Aus der Innentasche des billigen Blousons, den der Wolf trug, ragte ein Handy. Wer weiß, wozu ich das noch gebrauchen kann, dachte Nanao, zog es heraus und verstaute es in seiner Cargohose.
»Vergiss den Koffer nicht«, sagte Maria.
»Gut, dass du mich daran erinnerst.«
Maria seufzte. »Mach’s kurz, ja. Sonst schlafe ich ein.«
»Du gehst doch sonst nicht so früh ins Bett.«
»Ich gucke seit gestern Abend Star Wars, Episoden 1 bis 6.«
»Ich ruf wieder an.«