Читать книгу Bullet Train - Котаро Исака - Страница 6
Der Prinz
ОглавлениеEr klappte das in die Rückseite des Vordersitzes eingelassene Tablett herunter und stellte eine Plastikflasche darauf. Riss eine Tafel Schokolade auf und steckte sich ein Stück in den Mund. Hinter Ueno fuhr der Zug wieder oberirdisch. Trotz ein paar Wolken war der Himmel strahlend blau. So fühle ich mich, dachte er, strahlend. Eine Driving Range kam in Sicht. Das wie ein überdimensionales Moskitonetz aussehende grüne Netz bauschte sich. Kurz darauf sah er eine Schule. Hinter den Fenstern der Betonwürfel tummelten sich uniformierte Schüler. Mittelstufe? Oberstufe?, überlegte Satoshi Oji für einen Moment. Wie auch immer. Es machte keinen Unterschied. Alle waren sie gleich, egal, ob es Mittelstufenschüler waren, so wie er, Oberstufenschüler oder Erwachsene. Jeder war berechenbar. Der Mann neben ihm war das beste Beispiel dafür. Wie langweilig!
Weil Kimura sich trotz der Fesseln zu wehren versuchte, drückte Oji ihm die entwendete Pistole in die Seite: »Bleib ruhig und hör zu. Alles andere würdest du bereuen.« Dann sagte er: »Kam dir das nicht komisch vor? Ein Mittelstufenschüler, ganz allein im Zug? Und du weißt auch noch, wo er sitzt! Nie daran gedacht, dass es sich um eine Falle handeln könnte?«
»Du hast die Information lanciert?«
»Nachdem ich erfahren hatte, dass du mich suchst …«
»Ich dachte, du hältst dich versteckt. In der Schule warst du nicht.«
»Ich verstecke mich nicht. Wir haben keinen Unterricht.« Das war nicht gelogen. Wegen eines Infekts, der sich noch vor dem Winter plötzlich ausgebreitet hatte, war die ganze Klasse erst eine und dann, weil die Lage sich nicht entspannte, eine weitere Woche beurlaubt worden. Dass man wegen ein paar fehlender Schüler gleich den Unterricht für die ganze Klasse aussetzte, ohne Infektionsgeschehen, die Inkubationszeit oder die Zahl schwerer Verläufe zu berücksichtigen, konnte Oji nicht verstehen. Bevor man ein Risiko einging, für das man anschließend die Verantwortung übernehmen musste, folgte man lieber dem Protokoll. Grundsätzlich war dagegen natürlich nichts einzuwenden, aber nicht einmal darüber nachzudenken, ob es wirklich nötig war, den Unterricht komplett ausfallen zu lassen, ließ ihn am Verstand der Lehrer zweifeln. Ihre Fähigkeit, zu prüfen, zu analysieren und zu beurteilen war gleich null.
»Weißt du, was ich in der Zeit gemacht habe?«, fragte Oji.
»Woher sollte ich?«
»Erkundigungen über dich eingezogen. Du bist böse auf mich, stimmt’s?«
»Nee.«
»Nicht?«
»Böse ist kein Ausdruck.« Kimuras Worte troffen vor Hass. Ojis Miene wurde weich. Menschen, die ihre Gefühle nicht kontrollieren konnten, waren leicht zu manipulieren.
»Ich dachte mir schon, dass du mir eine Lektion erteilen willst. Mich finden und zuschlagen. Deshalb konnte ich nicht zu Hause herumsitzen, sondern habe die Gelegenheit genutzt, Erkundigungen einzuziehen. Das Erste, was man macht, wenn man jemanden attackieren, ins Verderben stürzen oder für die eigenen Zwecke benutzen will, ist, Informationen zu sammeln. Familie, Arbeit, sexuelle Orientierung, Hobbys und so weiter. Man macht es wie das Finanzamt.«
»Es gibt nichts Schlimmeres als Kinder, die vom Finanzamt faseln.« Kimura lächelte gequält. »Wie will so ein Bengel wie du überhaupt Erkundigungen einziehen?«
Oji runzelte die Stirn. Dieser Mann nahm ihn tatsächlich nicht ernst, dachte er enttäuscht. Unterschätzte ihn wegen seines Aussehens und seines Alters. »Informationen kann man kaufen.«
»Hast du dein Sparschwein geplündert?«
Oji machte seiner Enttäuschung hörbar Luft. »Nehmen wir einmal an, es gäbe einen Mann, der eine Schwäche für kleine Mädchen hat. Nur hypothetisch. Ich sage nicht, dass es ihn gibt. Und dass er für eine Nacht mit einem Schulmädchen detektivisch tätig würde. Um herauszufinden, zum Beispiel, dass deine Frau irgendwann die Faxen dicke hatte und die Scheidung einreichte, dass du dich jetzt allein um euer Kind kümmerst und Alkoholiker geworden bist. Freundinnen, die sich für mich ausziehen, habe ich genug.«
»Willst du mir erzählen, dass du erwachsenen Männern Schulmädchen vermittelst? Erpresst du die Mädchen, oder was?«
»Hypothetisch, habe ich gesagt. Reg dich nicht auf. Menschen lassen sich nicht nur mit Geld locken, es gibt noch andere Wünsche oder Bedürfnisse. Noch nie was vom Hebelprinzip gehört? Wenn er weiß, wo er den Hebel ansetzen muss, kann selbst ein Schüler einen Menschen steuern. Wusstest du das nicht? Bei sexuellem Verlangen kann man vergleichsweise gut ansetzen«, sagte Oji absichtlich provokant. Je emotionaler jemand wurde, desto einfacher ließ er sich kontrollieren. »Aber hey, ich hätte nicht gedacht, dass du mal in der Branche warst. Krass. Schon mal jemanden umgebracht?« Er sah auf die Waffe in seiner Hand. »Sonst hättest du die wohl nicht. Wahnsinn. Sogar mit Schalldämpfer. Das ist doch ein Schalldämpfer, oder?«, sagte er und hielt Kimura den abgeschraubten Zylinder hin. »Ich hätte vor Angst fast geheult«, sagte er im Falsett. Das war natürlich gelogen. De facto hatte er das Lachen kaum unterdrücken können.
»Du hast mir aufgelauert?«
»Du hast mich gesucht, also habe ich dafür gesorgt, dass du mich findest. Du hast doch jemanden beauftragt? Mich zu suchen, meine ich.«
»Einen alten Bekannten, ja.«
»Aus der Branche. Hat der sich nicht gewundert, dass du einen Schüler suchst?«
»Zuerst schon. Hätte nicht gedacht, dass du auf kleine Jungs stehst, hat er gesagt. Aber ich brauchte ihm nur von Wataru zu erzählen, das hat ihn überzeugt. Er hatte sofort Mitleid. Das soll der Kerl büßen, hat er gesagt.«
»Trotzdem hat er dich verraten. Sobald ich erfuhr, dass du ihn auf mich angesetzt hast, habe ich ihn angesprochen und gebeten, gewisse Informationen an dich weiterzugeben.«
»Du kannst mir viel erzählen.«
»Als er hörte, was er dafür kriegt, war er sofort Feuer und Flamme. Sind alle Erwachsenen so?«, fragte Oji. Es gefiel ihm, an den Gefühlen anderer zu kratzen. Einen Körper konnte man stählen, die Psyche zu trainieren – so zu tun, als ob einem der Stachel des Bösen nichts anhaben könnte –, war nicht so einfach.
»Ich wusste nicht, dass er ein Faible für Schulmädchen hat.«
»Auf alte Bekannte darf man sich nicht verlassen. Selbst wenn sie einem etwas schuldig sind. Schulden vergisst man. Die Zeiten, in denen der eine sich auf den anderen verlassen kann, sind längst vorbei. Womöglich hat es sie nie gegeben. Ich hätte trotzdem nicht gedacht, dass du kommst. Was für eine Überraschung. Du bist einfach zu vertrauensselig. Ach, übrigens, wie geht es deinem Sohn? Gut?«
»Wohl kaum!«
»Nicht so laut. Wir wollen doch kein Aufsehen erregen. Stell dir vor, da kommt einer und sieht die Waffe«, flüsterte er mit gespielter Aufregung. »Das wollen wir nicht.«
»Du hast die Waffe in der Hand, du hättest ein Problem.«
Kimuras einfallslose Reaktion frustrierte Oji. »Ich hätte so große Angst gehabt, dass es mir gelungen sei, sie dir zu entwenden, würde ich behaupten.«
»Und wie erklärst du die Fesseln?«
»Was glaubst du? Mit wem hätte man mehr Mitleid? Mit einem ethanolabhängigen Ex-Wachmann ohne Anstellung oder einem Schüler?«
»Ethanol? Du meinst wohl Alkohol?«
»Ethanol ist Alkohol. Aber davon abgesehen: Dass du so einfach aufgehört hast, Hut ab. Im Ernst. Das hat mich echt beeindruckt. Gab’s ’n Anlass? Dass dein Sohn fast gestorben wäre vielleicht?«
Kimuras Gesicht verzog sich zu einer Fratze.
»Ich frage noch einmal. Wie geht es deinem Sohn? Gut? Wie hieß er doch gleich? Der Kleine mit seiner Vorliebe für Höhen«, fragte Oji provokant. »Ich habe ihn extra noch gewarnt. Wenn du nicht aufpasst, fällst du runter. Wer weiß, wie viel Gewicht so ein Dachzaun aushält! Aber Kinder mögen Abenteuer.«
Bevor Kimura aus der Haut fahren konnte, sagte Oji: »Wir fallen auf, wenn du nicht ruhig bleibst«, und sah aus dem Fenster. In entgegengesetzter Richtung raste ein Shinkansen vorbei. Das Abteil vibrierte. Der Zug war so schnell, dass er mit dem Auge nicht zu erfassen war. Diese Geschwindigkeit berauschte Oji. Gegen mehr als 200 Kilometer pro Stunde war ein Mensch machtlos. Egal, wen man aufs Gleis stellte – er würde pulverisiert. Diese absolute Überlegenheit faszinierte den Jungen. Ich kann das auch, dachte er. Ich kann Leute auch pulverisieren, obwohl ich keine 200 Kilometer pro Stunde schaffe. Wie von selbst erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Oji und seine Bande hatten Kimuras Sohn auf das Dach des Kaufhauses gelotst. Genauer gesagt, Oji und die Mitschüler, die seinen Befehlen gehorchten. Der Sechsjährige hatte Angst gehabt. Angst, aber noch keine Erfahrung mit dem Bösen.
Guck mal da runter. Du brauchst keine Angst zu haben. Da ist doch ein Zaun. Da passiert nichts. Hatten sie lächelnd gesagt, und wegen des Lächelns hatte Wataru kein Misstrauen gehegt.
»Wirklich? Kann ich da nicht runterfallen?«
Das zögernde Kind zu belügen und hinabzustoßen war ein Leichtes gewesen.
»Hattest du keine Angst, hier im Zug auf mich zu warten?«, fragte Kimura und runzelte die Stirn.
»Angst?«
»Du weißt doch, womit ich früher mein Geld verdient habe. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine Waffe dabeihabe, war hoch. Einen Moment später, und du wärst jetzt tot.«
»Meinst du?«, fragte Oji und überlegte einen Moment. Angst hatte er keine verspürt. Eine gewisse Nervosität, ja. Aufregung, ob der Coup gelingen würde. »Ich war mir sicher, dass du nicht direkt schießen oder mich abstechen würdest.«
»Warum?«
»Weil das deine Wut nicht besänftigen würde«, sagte Oji und zuckte mit den Achseln. »Mich einfach zu erschießen hätte dich nicht befriedigt. Nein, du hättest mir erst gedroht, mir Angst gemacht, mich zum Heulen gebracht, mir eine Entschuldigung abgepresst, und dann geschossen, oder?«
Kimura sagte nichts. Wenn Erwachsene schweigen, hat man meistens ins Schwarze getroffen.
»Ich musste dir nur zuvorkommen«, fuhr Oji fort und zog den selbst gebastelten Elektroschocker aus dem Rucksack.
»Du solltest Elektriker werden, wenn du so auf Strom stehst.«
»Wie viele Leute hast du umgebracht? In deinem alten Job«, wandte Oji sich wieder Kimura zu, nachdem er den Nachhall des vorbeigerasten Shinkansen ausgekostet hatte.
Kimura hatte die blutunterlaufenen Augen so weit aufgerissen, als wollte er mit den bloßen Lidern nach ihm schnappen. Bald ist er so weit, dass er sich trotz der Fesseln auf mich stürzt.
»Ich habe auch Menschen umgebracht«, sagte Oji. »Den ersten, als ich zehn war. Neun weitere in den drei Jahren danach. Insgesamt zehn. Ist das viel? Oder eher wenig?«
Kimura sah ihn erstaunt an. Oh bitte, dachte Oji erneut enttäuscht, da gibt es doch nichts zu staunen. »Nicht, dass wir uns missverstehen. Hand angelegt habe ich nur bei einem.«
»Was soll das heißen?«
»Dass ich nicht für dumm gehalten werden möchte. Selber Hand anzulegen ist dumm. Stimmt doch, oder?«
»Ich kann nicht folgen.« Kimura verzog das Gesicht.
Eines Tages, er sei in der vierten Klasse gewesen, erzählte Oji, sei er nach der Schule nach Hause gegangen und von dort mit dem Fahrrad einkaufen gefahren. Auf dem Heimweg von der riesigen Buchhandlung, in der er das Buch, das er hatte haben wollen, gekauft habe, sei er an eine große Kreuzung gekommen. Weil die Fußgängerampel Rot gewesen sei, habe er angehalten und gewartet. Neben ihm habe ein Mann in einem Pullover gestanden, der Walkman gehört und dabei in sein Handy gestarrt habe, sonst niemand. Wegen des spärlichen Verkehrs sei es so still gewesen, dass er sogar die Musik aus den Kopfhörern habe hören können.
»Ich habe mir nichts dabei gedacht, die Ampel zu missachten. Habe mich nur gefragt, warum soll ich warten, bis es grün wird, es fahren sowieso kaum Autos. Ich trat in die Pedale und überquerte die Straße. Im nächsten Moment kreischten hinter mir Bremsen. Das heißt, erst hörte ich einen dumpfen Aufprall und dann das Kreischen der Bremsen. Ich drehte mich um. Der schwarze Minivan war offenbar gerade zum Stehen gekommen, der bärtige Fahrer im Begriff, hastig auszusteigen. Auf dem Zebrastreifen lag ein Mann. Neben ihm sein Walkman.
Aber wieso …? Ich brauchte nur einen Moment, um zu verstehen, was passiert war. Der Mann hatte wahrscheinlich gedacht, die Ampel sei grün geworden. Er hatte aus dem Augenwinkel gesehen, dass sich neben ihm etwas bewegt, und war losmarschiert. Im selben Moment war der Minivan herangerauscht und hatte ihn erwischt. Mich wunderte nicht, dass der Mann einfach losgegangen war, sondern dass in dem Moment tatsächlich ein Auto gekommen war. Jedenfalls war der Mann tot. Das war selbst von der anderen Straßenseite aus zu sehen. Das Kabel des Walkmans war wie eine Blutspur.
In dem Moment habe ich zwei Dinge gelernt.«
»An der nächsten Ampel besser aufzupassen?«, fragte Kimura.
»Erstens, dass man jemanden umbringen kann, ohne dafür bestraft zu werden. Man muss es nur geschickt anstellen. Dieser Unfall ist tatsächlich als reiner Verkehrsunfall behandelt worden, um mich hat sich niemand geschert.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Und zweitens. Es macht mir nichts aus, wenn jemand durch mich zu Tode kommt.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Es kommt noch besser. Ich habe mein Interesse am Töten entdeckt. Jemandem das Leben zu nehmen, zu sehen, wie jemand reagiert, bevor man ihm das Leben nimmt.«
»Wolltest du das perfekte Verbrechen begehen? Dachtest, du seist was Besonderes? So nach dem Motto: Ich kann grausamer sein als ihr alle zusammen? Aber das denkt jeder einmal. Genauso wie man sich fragt ›Warum darf man niemanden umbringen?‹, oder wie man sagt ›Ihr werdet alle sterben! Wie könnt ihr da noch so ruhig sein? Alles ist sinnlos‹. Das nennt man Pubertät. Diese Phase macht jeder durch.«
»Warum darf man eigentlich niemanden umbringen?«, fragte Oji. Nicht aus Boshaftigkeit oder Spaß, sondern aus Interesse. Er würde wirklich gerne jemanden kennenlernen, der ihm eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben konnte. Von Kimura war das nicht zu erwarten. Kimura würde wahrscheinlich sagen: ›Von mir aus kannst du so viele Leute umbringen, wie du willst. Solange du die Finger von meiner Familie lässt.‹
Kimura reckte sein Kinn mit den Dreitagestoppeln und sagte: »Mir ist egal, wie viele Leute du umbringst.« Er grinste. »Mich oder meine Familie anzurühren, würde ich dir allerdings nicht empfehlen. Aber sonst. Tob dich aus. Bring um, komm um.«
Oji seufzte.
»Beeindruckt?«
»Enttäuscht. Das war exakt die Antwort, die ich erwartet hatte«, erwiderte Oji wahrheitsgemäß. »Aber gut, um noch einmal auf das Gespräch von eben zurückzukommen. Danach habe ich jedenfalls angefangen, Verschiedenes auszuprobieren. Als Erstes jemanden nicht indirekt, sondern direkt umzubringen.«
»Selbst Hand anzulegen.«
»Genau, genau.«
»Willst du etwa sagen, dass Wataru eines deiner Jugend-forscht-Experimente war?«, presste Kimura heraus.
»Nein. Der wollte nur mit uns spielen, glaube ich. Der ist einfach mitgekommen. Ich habe ihm gesagt, er soll wegbleiben. Er hat uns auf dem Dach Karten tauschen sehen. Bleib stehen, habe ich gesagt, das ist gefährlich, aber er ist zur Treppe gelaufen, und als ich wieder hinsah, war er schon abgestürzt.«
»Von wegen! Du – ihr – habt ihn da runtergestoßen!«
»Vom Dach? Ein sechsjähriges Kind?« Oji schlug sich mit gespieltem Entsetzen die Hände vor den Mund. »So etwas Schreckliches würden wir nie tun. Nicht einmal denken! Also, Erwachsene können einem wirklich Angst machen.«
»Ich bring dich um!« Obwohl seine Füße gefesselt waren, stand Kimura auf und versuchte zu beißen.
Oji hob die Hände. »Stopp!«, sagte er ganz ruhig. »Hör mir zu. Hör zu. Ich habe etwas sehr Wichtiges zu sagen. Es hat mit deinem Sohn zu tun. Also. Benimm dich.«
Kimura schäumte, aber die Worte »dein Sohn« verfehlten ihre Wirkung nicht. Er setzte sich wieder hin.
Im selben Moment ging hinter ihnen die Tür des Abteils auf. Es schien die Frau mit dem Trolley zu sein. Jemand hielt sie an, um etwas zu kaufen. Kimura verrenkte den Hals, um besser sehen zu können.
»Wehe, du sagst etwas Komisches zu der Frau.«
»Etwas Komisches? ›Willst du mit mir gehen‹ oder so?«
»›Hilfe!‹ oder so.«
»Dann stopf mir doch den Mund.«
»Das wäre witzlos.«
»Witzlos? Was soll das heißen?«
»Der Witz ist, dass du nicht um Hilfe bitten kannst, obwohl du es – theoretisch – könntest. Du sollst dich machtlos fühlen. Dir den Mund zu stopfen, wäre also witzlos. Ich will deine Hilflosigkeit sehen, dieses Können und gleichzeitig Nichtkönnen.«
Zum ersten Mal nahmen Kimuras Augen einen anderen Ausdruck an. Eine Mischung aus Verachtung und Furcht, als hätte er ein unheimliches, giftiges Insekt entdeckt. Er lachte gezwungen. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Kleiner, aber jetzt habe ich erst recht Lust bekommen, mich der Lady an den Hals zu werfen und um Hilfe zu flehen. ›Hilfe, Hilfe, rette mich vor diesem bösen Buben.‹«
Woher nahm dieser Mann seinen Mut? Obwohl er an Händen und Füßen gefesselt und seiner Waffe beraubt war, das Kräfteverhältnis also eindeutig zu seinen Ungunsten stand, benahm er sich immer noch so, als hätte er es mit einem unwürdigen Gegner zu tun. Es musste am Alter liegen. An der Tatsache, dass er schon Jahrzehnte länger lebte. Ein Gefühl von Mitleid stieg in Oji auf. Was brachten einem Jahre oder Jahrzehnte ungenutzter Zeit?
»Okay. Ich werde es dir in ein paar einfachen Worten erklären. Wenn du nicht tust, was ich dir sage, oder mir etwas zustößt, ist dein Sohn in Gefahr.«
Kimura schwieg.
Genugtuung und Enttäuschung durchfluteten Oji. Jemanden mit sich kämpfen zu sehen, fühlte sich immer gut an.
»Ich habe in der Nähe des Krankenhauses jemanden auf Abruf postiert. Das Krankenhaus, in dem dein Sohn liegt, wohlgemerkt.«
»In der Nähe? Wo?«
»Vielleicht sogar im Krankenhaus. Jedenfalls so, dass er sich sofort an die Arbeit machen kann.«
»An die Arbeit?«
»Wenn er mich nicht mehr erreicht, macht er sich an die Arbeit.«
Der Abscheu stand Kimura ins Gesicht geschrieben. »Wenn er dich nicht mehr erreicht. Aha. Soll heißen?«
»Wir haben vereinbart, dass er mich bei jedem planmäßigen Halt anruft, Omiya, Sendai, Morioka, und sich vergewissert, dass es mir gut geht. Wenn ich nicht ans Telefon gehe oder er den Verdacht hat, dass etwas nicht stimmt …«
»Wer? Einer deiner Kumpel?«
»Nein. Ich sagte es bereits, Menschen haben die verschiedensten Wünsche und Bedürfnisse. Manche mögen Frauen, andere wollen Geld. Es gibt erstaunlicherweise sogar Erwachsene, die alles tun.«
»Was kann dein Wasserträger schon tun?«
»Er hat mal bei einem Hersteller von Medizingeräten gearbeitet. Er könnte ins Krankenhaus gehen und die Geräte deines Sohnes manipulieren.«
»Wohl kaum!«
»Wohl doch. Ich brauche nur anzurufen und zu sagen, ›an die Arbeit‹. Wie gesagt, er hält sich in der Nähe des Krankenhauses bereit. Wartet nur auf mein Zeichen. Ach ja, wenn er mich außerhalb der verabredeten Zeiten anruft und ich nach dem zehnten Klingeln immer noch nicht ans Telefon gegangen bin, macht er sich auch an die Arbeit. Dann geht er ins Krankenhaus und fummelt am Sauerstoffgerät deines Sohnes herum.«
»Das glaube ich nicht. Gibt’s noch mehr ›Zeichen‹? Was machst du, wenn du unterwegs keinen Empfang hast?«
»Ich gehe davon aus, dass ich überall Netz habe. Neuerdings sind auch die Tunnel mit Antennen ausgestattet. Aber du kannst ja vorsichtshalber schon mal anfangen zu beten. Falls du dich jetzt gleich komisch benehmen solltest, werde ich den Anruf jedenfalls ignorieren. An der nächsten Station aussteigen, ins Kino gehen und mir die Zeit vertreiben. Wenn der Film nach etwa zwei Stunden endet, dürfte man im Krankenhaus schon in heller Aufregung sein.«
»Damit spaßt man nicht!« Kimura fixierte ihn.
»Ich spaße nicht. Alles, was ich tue, nehme ich immer sehr ernst. Wenn hier einer spaßt, dann du.«
Kimura war kurz davor zu explodieren. Machtlos ließ er sich zurück in den Sitz fallen. Als die Frau mit dem Trolley vorbeikam, ließ Oji es sich nicht nehmen, sie anzuhalten und eine Tafel Schokolade zu kaufen. Der Anblick von Kimura, der hochrot vor Zorn die Lippen aufeinanderpresste, bereitete ihm ungeheures Vergnügen.
»Pass bitte mit auf, dass wir mein Handy nicht überhören. Du weißt ja, spätestens beim zehnten Klingeln muss ich rangehen.«