Читать книгу Bullet Train - Котаро Исака - Страница 5
Der Marienkäfer
ОглавлениеWas einmal passiert, passiert zweimal. Was zweimal passiert, passiert dreimal und weil, was dreimal passiert, auch ein viertes Mal passiert, kann man sagen, dass das, was einmal passiert, immer wieder passiert, oder nicht?, überlegte Nanao. Wie beim Domino. Vielleicht hätte er nach seinem ersten Job vor fünf Jahren, der sich als wesentlich schwieriger erwiesen hatte als gedacht, nicht denken sollen, dass das, was einmal passiert, auch zweimal passiert, doch weil sein zweiter Job ebenfalls wieder katastrophal verlaufen war, hatte er natürlich auch für den dritten das Schlimmste befürchtet.
»Du denkst zu viel«, hatte Maria gesagt, die Frau, die ihm die Aufträge vermittelte. »Ich sitze am Schalter.« Was für Nanao immer so klang wie Du kochst, ich esse, oder Ich gebe die Anweisungen, du führst sie aus.
»Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal einen Auftrag annehmen würdest«, hatte er gesagt.
»Tue ich doch.«
»Ich meine, praktisch. Wie soll ich sagen, im Feld.«
Pass auf, hatte er erklärt. Du hast zwei Fußballer, der eine begnadet, der andere eine Lusche. Wäre es dann nicht besser, den begnadeten auf den Platz zu stellen anstatt an den Spielfeldrand, wo er sich die Lunge aus dem Leib brüllt, um der Lusche Anweisungen zu erteilen, und sich hinterher nur ärgert, dass die Lusche so schlecht spielt? Wäre es, mit einem Wort, nicht besser, sie, Maria, übernähme den Job? Dann hätten alle weniger Stress, und das Ergebnis stimmte auch.
»Was redest du da? Ich bin eine Frau.«
»Das schon, aber mit deinem Kung Fu erledigst du locker drei Mann. Auf dich ist wahrscheinlich mehr Verlass als auf mich.«
»Darum geht es nicht. Als Frau kann ich mir eine Verletzung im Gesicht nicht leisten.«
»Ich bitte dich, diese Zeiten sind vorbei. Heutzutage wird Wert auf Gleichberechtigung gelegt.«
»Das ist sexuelle Belästigung.«
Nanao gab auf. An den gegebenen Strukturen – Maria gab die Anweisungen, er führte sie aus – war offenbar nicht zu rütteln.
Auch der zweite Job, hatte Maria behauptet, sei »ganz einfach, im Handumdrehen erledigt«, diesmal gebe es »definitiv« keine Probleme. Zu widersprechen lohnte sich nicht.
»Ich weiß nicht, irgendwas passiert bestimmt.«
»Du musst nach vorne schauen, nicht nach hinten. Du bist wie ein Einsiedlerkrebs. Wie jemand, der sich aus Angst vor Erdbeben zu Hause verkriecht.«
»Ich wusste gar nicht, dass Einsiedlerkrebse das machen.«
»Warum sonst schleppen die ihr Haus mit?«
»Um keine Vermögenssteuer zu zahlen«, erwiderte er in seiner Verzweiflung, aber darauf ging sie nicht ein.
»Die meisten unserer Aufträge sind heikel. Es besteht fast immer die Gefahr, dass es Probleme gibt. Probleme gehören praktisch zum Job.«
»Das meine ich nicht«, widersprach Nanao und noch einmal bestimmt: »Diese Art von Problemen meine ich nicht. Erinnerst du dich an den Job im Hotel? Den Politiker, den ich im Bett mit seiner Geliebten fotografieren sollte? ›Ganz einfach‹, hast du gesagt, ›im Handumdrehen erledigt.‹«
»Ja und? War doch einfach. Ein Foto, mehr nicht.«
»Ja, wenn da nicht zufällig jemand Amok gelaufen wäre …«
In der Lobby des Hotels hatte ein Mann im Anzug plötzlich angefangen, wild um sich zu schießen. Vielleicht hatte er sein tristes Leben nicht mehr ertragen. Hinterher stellte sich heraus, dass es ein sehr fähiger Staatsbediensteter gewesen war. Jedenfalls erschoss er mehrere Hotelgäste und verschanzte sich anschließend. Die Sache war reiner Zufall gewesen, mit Nanaos Job hatte sie nicht das Geringste zu tun gehabt.
»Na, hör mal, du warst großartig! Wie viele Leute hast du gerettet? Und dann hast du dem Verrückten auch noch die Kehle durchgeschnitten!«
»So ist es, ich hatte alle Hände voll zu tun! Und dann dieser Job im Fastfood-Restaurant! Ich müsste nur reingehen, in den neuen Burger beißen und sagen: ›Wow, ist der gut! Eine wahre Geschmacksexplosion.‹«
»Ja und? Hat er nicht geschmeckt?«
»Doch, aber dann ist der Laden tatsächlich explodiert.«
Der Anschlag ging auf das Konto eines Angestellten, dem man gekündigt hatte. Obwohl das Restaurant zum Zeitpunkt der Explosion nur spärlich besucht und niemand ums Leben gekommen war, hatte Nanao Mühe und Not gehabt, die wenigen Kunden durch den Qualm und die Flammen nach draußen zu bringen, nur um dort auf einen Auftragskiller zu stoßen, der es, das Gewehr im Anschlag, auf einen berüchtigten Mann abgesehen hatte, der sich im Restaurant versteckt hielt. Ein Heidenaufruhr!
»Und du hast, brav, wie du bist, den Killer gleich miterledigt. Großartig!«
»Der Job, hast du behauptet, wäre auch ›ganz einfach‹ und ›im Handumdrehen erledigt‹.«
»Ich bitte dich. Einen Burger zu essen ist doch nicht schwer.«
»Und der Job neulich? In dem Fastfood-Laden das Geld auf der Toilette deponieren, fertig, hast du gesagt. Und das Ende vom Lied? Nasse Socken und ein Burger voller Senf. Es gibt keine einfachen Jobs auf der Welt. Optimismus kann tödlich sein. Bis jetzt weiß ich außerdem immer noch nicht, was ich tun soll.«
»Ich hab’s dir doch gesagt. Den Koffer nehmen und aussteigen. Weiter nichts.«
»Weiß ich, wo der Koffer steht? Weiß ich, wem er gehört? Nein. ›Steig in den Zug, alles Weitere erfährst du unterwegs.‹ Dieser Job kann nicht einfach sein. Dann soll ich auch noch in Ueno aussteigen. Von Tokio nach Ueno ist es ein Katzensprung. Da muss ich mich beeilen.«
»Du musst das anders sehen. Für einen schwierigen Job braucht man weitere Informationen. Weil man planen, sich vorbereiten oder Vorkehrungen treffen muss für den Fall, dass etwas schiefläuft. Keine weiteren Informationen bedeutet also, dass der Job einfach ist. Stell dir vor, der Job bestünde darin, dreimal auszuatmen. Dafür brauchtest du auch keine weiteren Informationen.«
»Merkwürdige Logik. Ich bleibe dabei: Der Job kann nicht einfach sein. Einfache Jobs gibt es nicht.«
»Doch. Viele sogar.«
»Nenn mir einen.«
»Meinen. Aufträge zu vermitteln ist einfach.«
»Was du nicht sagst!«
Nanao hielt sich das Handy ans Ohr. Aus den Lautsprechern dröhnte eine Männerstimme über den Bahnsteig. »Auf Gleis 20 – fährt ein – der Shinkansen Hayate – Komachi nach Morioka.« Maria war kaum mehr zu verstehen.
»Hörst du mir zu? Hörst du mich überhaupt?«
»Der Zug fährt ein.«
Die Durchsage fegte über den Bahnsteig. Nanao kam es so vor, als hätte sich ein unsichtbares Netz über das Handy gelegt, als wäre der Empfang gestört. Der herbstliche Wind war angenehm, der Himmel, abgesehen von ein paar einsamen Wolken, strahlend blau.
»Sobald ich mehr weiß, melde ich mich. Direkt nach Abfahrt des Zuges wahrscheinlich.«
»Telefonisch oder per Mail?«
»Wahrscheinlich telefonisch. Vergiss jedenfalls nicht, ab und zu dein Handy zu checken. Das kriegst du hin, oder?«
Die schlanke Schnauze des Schnellzugs kam in Sicht. Lange weiße Wagen rollten heran, wurden langsamer und kamen schließlich zum Stehen. Türen öffneten sich, Fahrgäste stiegen aus. Binnen kürzester Zeit wimmelte es auf dem Bahnsteig nur so von Menschen. Sie überschwemmten den Raum wie Wasser, das es auf den letzten Flecken trockener Erde abgesehen hat. Die Warteschlangen zerflossen. Trauben von Menschen versanken im Aufgang. Die, die nicht mit abgeflossen waren, formierten sich automatisch neu. Nanao wunderte sich, dass das funktionierte, obwohl er Teil davon war.
Wider Erwarten gingen die Türen noch einmal zu. Offenbar wurden die Wagen vor der Abfahrt gereinigt. Er hätte das Gespräch mit Maria gar nicht so hastig beenden müssen.
»Warum fahren wir nicht 1. Klasse?«, hörte er eine Stimme nahebei und sah sich um. Eine grell geschminkte Frau und ein kleiner, bärtiger Mann mit Papiertragetasche standen da. Der Mann hatte ein Mondgesicht. Er sah aus wie der Pirat im Fass, die kleine Figur, die man aus ihrem Fass katapultieren kann. Die Frau trug ein leuchtend grünes ärmelloses Kleid. Ihre Oberarme waren muskulös. Der ultrakurze Rock gab so viel von ihren Oberschenkeln preis, dass Nanao sofort wieder wegsah. Peinlich berührt rückte er seine schwarze Brille zurecht.
»Das kannste nicht bezahlen«, sagte der kleine Mann, kratzte sich am Kopf und gab der Frau ihre Platzkarte. »Aber hier, schau mal, Wagen 2, Reihe 2. Wie dein Geburtstag. Zwei, zwei. 2. Februar.«
»Seit wann habe ich am 2. Februar Geburtstag? Ich habe extra mein grünes Kleid angezogen, weil ich dachte, dass wir 1. Klasse fahren, Green Car!«, kreischte die muskulöse Frau und versetzte dem Mann einen wuchtigen Stoß. Die Papiertragetasche fiel zu Boden und erbrach ihren Inhalt auf den Bahnsteig. Eine rote Jacke, ein schwarzes Kleid und mittendrin ein schwarzes haariges Etwas. Nanao zuckte zusammen. Ein Tier? Sofort bekam er eine Gänsehaut. Genervt hob der kleine Mann es auf. Eine Perücke. Nanao stellte fest, dass die Frau in dem ärmellosen Kleid keine Frau war, sondern ein geschminkter Mann. Vorstehender Adamsapfel, breite Schultern. Mit dem Bizeps kann man ja leben, dachte er, aber der Rock …
»Was gibt’s denn da zu gucken?«
Als Nanao merkte, dass der Anpfiff ihm galt, sah er sofort wieder nach vorne.
Der Bartpirat trat einen Schritt vor. »Willste die haben? Die Klamotten? Ich verkauf sie dir. Zehntausend. Komm schon. Lass jucken«, sagte er und hob die Kleidungsstücke auf.
Die wollte ich nicht mal geschenkt, hätte Nanao fast gesagt, hielt sich aber zurück, um nicht noch Öl ins Feuer zu gießen. Ich wusste es ja, dachte er, irgendwas musste ja passieren.
»Lass jucken, Brillenschlange«, quäkte der kleine Mann wie ein Schüler, der einen anderen erpresst. »Willst wohl intelligent aussehen.«
Nanao sah zu, dass er wegkam.
Denk an den Job.
Die Aufgabe war einfach. Koffer nehmen und am nächsten Bahnhof aussteigen. Jetzt würde nichts mehr passieren. Nach diesem Vorfall war sein Pechkonto ausgeglichen. Er hatte sozusagen im Voraus bezahlt.
»Die Wagen sind nun zum Einstieg bereit«, schallte es über den Bahnsteig. Trotz des geschäftsmäßigen Tons wurde es den des Wartens müden Fahrgästen leicht ums Herz, wenigstens Nanao, obwohl er gar nicht lange gewartet hatte. »Sesam, öffne dich«, murmelte er und – siehe da – die Türen gingen auf.
Er warf einen Blick auf seine Platzkarte. Wagen 4, Reihe 1, Platz D. »Ich weiß nicht, ob du dir dessen bewusst bist, aber im Hayate gibt es keine freie Platzwahl, man muss reservieren. Auch wenn man gleich wieder aussteigt«, hatte Maria gesagt. »Ich habe dir einen Platz am Gang reserviert.«
»Und was ist in dem Koffer?«
»Keine Ahnung. Nichts Besonderes bestimmt.«
»Bestimmt? Du weißt es also nicht?«
»Woher soll ich es wissen? Ich habe nicht gefragt. Will ich unseren Auftraggeber verprellen?«
»Und was mache ich, wenn in dem Koffer was Gefährliches ist?«
»Was Gefährliches? Zum Beispiel?«
»Eine Leiche, sehr viel Geld, illegale Substanzen, ein Haufen Insekten.«
»Oh ja. Ein Haufen Insekten wäre furchtbar. Allein der Gedanke lässt mich schaudern.«
»Alles andere wäre nicht weniger furchtbar. Der Koffer ist bestimmt nicht harmlos.«
»Ausschließen kann ich das nicht …«
»Gefährlich also«, sagte Nanao, halb verärgert.
»Selbst wenn. Du musst ihn ja nur transportieren. Das ist ungefährlich.«
»Dann geh du doch!«
»Du weißt doch, dass ich gefährliche Jobs nicht mag.«
Nanao nahm seinen Platz in der ersten Reihe von Wagen 4 ein. Mit einem schnellen Blick stellte er fest, dass die meisten Sitze im Abteil frei waren. Während er darauf wartete, dass der Zug abfuhr, warf er einen Blick auf sein Handy. Maria hatte sich noch nicht gemeldet. Bis Ueno war es ein Katzensprung. Viel Zeit, sich des Koffers zu bemächtigen, hatte er nicht. Hoffentlich geht nichts schief.
Zischend öffnete sich die Tür zu seinem Abteil. Nanao wollte gerade rücksichtsvoll die Beine zur anderen, zur Fensterseite hin übereinanderschlagen, als ihm eine Papiertüte ans Bein stieß. Der Tütenträger funkelte ihn an. Er war blass, hatte einen Dreitagebart, Ringe unter den Augen und machte einen eher ungesunden Eindruck. »Verzeihung«, entschuldigte sich Nanao sofort. Dabei war streng genommen nicht er für den Zusammenstoß verantwortlich, sondern der andere, der Mann mit der Tüte. Eigentlich müsste der sich entschuldigen. Aber Nanao wollte keinen Streit. Um einen Streit zu vermeiden, würde er sich sogar tausend Mal entschuldigen. Grantig setzte sich der Mann wieder in Bewegung.
»Vorsicht, Ihre Tüte ist gerissen.«
»Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß«, sagte der Mann und ging weiter.
Nanao löste seine lederne Hüfttasche vom Gürtel, um sich seiner Fahrkarte zu vergewissern. Die Tasche enthielt alles Mögliche: einen Notizblock mit Kugelschreiber, Draht, ein Feuerzeug, Tabletten, eine Uhr, einen Kompass, einen Magneten in Hufeisenform und extrastarkes Klebeband. Außerdem drei Armbanduhren mit Weckfunktion. Wecker konnte man immer gebrauchen. »Deine Kampfausrüstung«, lachte Maria immer, obwohl man den Kram in jeder Küche oder jedenfalls in jedem Convenience Store fand. Für Verbrennungen oder kleinere Wunden hatte Nanao zudem Steroidsalbe und blutstillende Creme dabei.
Ein vom Glück verlassener Mann musste sich eben so gut wie möglich rüsten.
Die Fahrkarte steckte in dem Fach an der Außenseite. Nanao erschrak. Tokio – Morioka? Wieso Morioka? Im selben Moment klingelte sein Handy. Er meldete sich sofort. »Ich weiß Bescheid«, hörte er Maria sagen. »Der Koffer steht auf der Gepäckablage zwischen Wagen 3 und 4. Er ist schwarz und hat einen Aufkleber am Griff. Der Kofferträger sitzt in Wagen 3. Steig mit dem Koffer also woanders aus, nicht in Wagen 3 oder 4.«
»Alles klar«, erwiderte er. »Sag mal«, fügte er hinzu, »warum habe ich eine Fahrkarte bis Morioka, wenn ich doch schon in Ueno aussteige?«
»Für den Fall, dass unterwegs was passiert. Du weißt doch. Sicher ist sicher.«
»Ha!«, entfuhr es Nanao eine Spur zu laut. »Du fürchtest also auch, dass etwas passiert!«
»Sei nicht so nervös. Das war allgemein gesprochen. Lächel lieber. Du weißt doch: Wer lächelt, dem winkt das Glück.«
»Dann falle ich erst recht auf«, erwiderte Nanao und legte auf. Der Zug war inzwischen abgefahren.
Nanao stand auf und trat in den Vorraum. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Bis Ueno waren es nur fünf Minuten. Die Gepäckablage fand er zum Glück sofort, den schwarzen Koffer auch. Ein nicht besonders großes Exemplar mit Rollen. Hartschale, auch wenn er nicht wusste, aus welchem Material. Am Griff entdeckte er einen Aufkleber. Möglichst geräuschlos nahm er den Koffer von der Ablage. »Ganz einfach«, hörte er Marias verführerische Stimme im Ohr. Das stimmt. Bis hierhin war es einfach. Er sah auf die Uhr. Noch vier Minuten. Schnell ankommen, betete er, schnell ankommen. Er ging in Wagen 4 zurück und so nonchalant wie möglich weiter Richtung Wagen 5. Niemand nahm Notiz von ihm.
Im Vorraum von Wagen 6 atmete er auf. Allen Befürchtungen zum Trotz warteten am Ausstieg keine Hindernisse. Keine Jugendlichen, die vor der Tür saßen und schliefen oder sich schminkten oder ihm den Weg versperrten und ihn anmachten, kein sich zankendes Ehepaar im Gang, das ihn zwang, für sie oder ihn Partei zu ergreifen.
Der Ausstieg war frei. Er musste nur noch warten und aussteigen. Maria konnte er anrufen, sobald er die Sperre hinter sich gelassen hatte. Siehst du, hörte er sie schon feixen, was habe ich dir gesagt? Ganz einfach. Halt, dachte er, noch bin ich nicht da. Es ist definitiv besser, davon auszugehen, dass noch was dazwischenkommt.
Plötzlich wurde es dunkel. Der Wagen tauchte ab. Bis zu den unterirdischen Bahnsteigen des Bahnhofs konnte es nicht mehr weit sein. Nanao verstärkte den Griff um den Koffer und sah sinnloserweise noch einmal auf die Uhr.
Sein Gesicht spiegelte sich im Türfenster. Selbst er fand, dass man ihm das Pech förmlich ansah. Seine Ex-Freundinnen hatten vielleicht nicht ganz unrecht gehabt. »Seit ich mit dir zusammen bin, verliere ich dauernd mein Portemonnaie«, hatten sie gesagt. Oder: »Ich habe vorher nie so viele Fehler gemacht.« Oder: »Jetzt gehen meine Pickel gar nicht mehr weg.« Er hatte immer widersprochen, aber wer weiß, vielleicht war ja doch was dran.
Das Pfeifen des Zuges nahm ab. Der Ausstieg war in Fahrtrichtung links. Jenseits der Tür wurde es wieder hell. Wie aus dem Nichts tauchte der Bahnsteig auf. Fahrgäste zogen vorbei. Treppen, Bänke, Anzeigetafeln.
Nanao, den Blick starr auf die Tür gerichtet, hatte acht, dass sich von hinten niemand näherte. Auf Ärger mit dem Kofferträger konnte er verzichten. Der Zug rollte aus. Einmal in seinem Leben hatte Nanao im Kasino Roulette gespielt. Daran musste er jetzt denken. An das aufreizend langsame Falle-ich-oder-falle-ich-nicht der Kugel. Genau so rollte der Zug. Als könnte er sich nicht entscheiden, wo er zum Halt kommen soll. Schließlich blieb er stehen.
Am Ausstieg wartete ein kleiner Mann mit Schiebermütze. Er sah aus wie ein Privatdetektiv aus dem Krimi. Der Zug stand, aber die Türen blieben zu. Nanao fühlte sich, als müsste er wie unter Wasser den Atem anhalten.
Die missmutige Visage und das Detektivkostüm erinnerten Nanao an jemanden, der, wie er, auf Bestellung arbeitete, also Aufträge erledigte, über die nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Wegen der im Gegensatz zu seinem unspektakulären Namen spektakulären Geschichten, die er überall zum Besten gab, wenig glaubhaften Heldentaten und allerlei Hirngespinsten, wurde er von allen nur ›der Wolf‹ genannt. Nicht im Sinne von ›einsamer Wolf‹, sondern in Anspielung auf den von dem Hirtenjungen aus Äsops Fabel imaginierten Wolf. Der Wolf selbst hatte an seinem unrühmlichen Spitznamen nichts auszusetzen. Den hat Terahara mir gegeben, brüstete er sich immer. Dass ausgerechnet der Doyen der Branche ihm diesen Namen verpasst haben sollte, war schwer vorstellbar, aber der Wolf schwor Stein und Bein, dass es Terahara gewesen sei.
»Es gab doch mal einen Kerl, der Politiker und Ministerialbeamte dazu brachte, sich umzubringen. Den Selbstmordmörder«, hatte er zum Beispiel vor längerer Zeit einmal in einer Kneipe geprahlt, als Nanao ihm dort über den Weg lief. »Du weißt schon, diesen Schrank, den sie Wal oder Killerwal nennen. Hat man lang nicht mehr gesehen, stimmt’s? Kein Wunder. Um den hab ich mich nämlich gekümmert.«
»Gekümmert? Was soll das heißen?«
»Erledigt. Auf Bestellung erledigt. Ich ihn.«
Das plötzliche Verschwinden des Wals hatte in der Branche für Unruhe gesorgt. Es kursierten die wildesten Gerüchte. Die einen behaupteten, ein Kollege habe ihn kaltgemacht, die anderen, er sei in einen Unfall verwickelt worden. Was seine Leiche betraf, wurde es noch wilder. Ein Politiker, der schon immer einen Hass auf ihn gehabt habe, habe sie für viel Geld gekauft und zur Dekoration bei sich zu Hause aufgehängt. Unabhängig davon, was von alldem wahr war oder nicht – für jemanden wie den Wolf, den man allenfalls als Laufbursche oder zur Einschüchterung kleiner Mädchen anheuerte, war diese Nummer zu groß.
Nanao war dem Kerl immer so weit wie möglich aus dem Weg gegangen. Jedes Mal, wenn er ihn sah, war er nämlich versucht, ihm »die Fresse zu polieren«. Einmal hatte er sich tatsächlich nicht mehr beherrschen können.
An dem Abend hatte der Wolf in einer Hintergasse drei Grundschüler in der Mangel gehabt. »Was machst du da?«, hatte Nanao gefragt. »Ihnen Manieren beibringen. Die haben sich über mich lustig gemacht«, hatte der Wolf geantwortet und einem der angststarren Kinder die Faust ins Gesicht geschlagen. Wutentbrannt hatte Nanao ihn daraufhin mit einem Fußtritt an den Kopf zu Boden gestreckt.
»Ein Herz für Kinder«, hatte Maria ihn anschließend aufgezogen.
»Nein«, hatte er erwidert. Vor seinen Augen war das Bild eines Jungen erschienen, der um Hilfe schrie. »Kinder in Not machen mich schwach.«
»Ach ja, die Wunde in deinem Herzen, ich vergaß.«
»So wie du das sagst, klingt es kalt.«
»Trauma ist out«, hatte Maria verächtlich gesagt.
»In oder out spielt keine Rolle«, hatte Nanao erklärt. Kein Mensch streift seine Vergangenheit einfach so ab.
»Kinder, Tiere und Schwächere zu quälen ist jedenfalls das Letzte. Außerdem bringt der Kerl immer Terahara ins Spiel. ›Terahara protegiert mich‹ oder ›Das sage ich Terahara‹.«
»Dabei ist der längst tot.«
»Der Wolf soll Rotz und Wasser geheult haben. Aber wie dem auch sei. Dank dir weiß er jetzt wenigstens, was sich gehört.«
Der Tritt musste den Wolf empfindlich getroffen haben. »Das wirst du büßen«, hatte er gedroht und war verschwunden. Seitdem hatte Nanao ihn nicht mehr gesehen.
Die Tür des Shinkansen öffnete sich. Nanao wollte gerade aussteigen, als der Mann mit der Schiebermütze in sein Blickfeld geriet. Der sieht wirklich aus wie der Wolf, dachte er noch, das muss ein Doppelgänger sein, da zeigte der Mann schon mit dem Finger auf ihn und versperrte ihm den Weg. Sie standen Brust an Brust. Nanao wich zurück.
»Welch glücklicher Zufall!«, sagte der Wolf erfreut. Seine Nasenflügel bebten.
»Warte. Ich muss hier aussteigen«, wisperte Nanao, um möglichst kein Aufsehen zu erregen.
»Glaubst du wirklich, so eine Gelegenheit lasse ich mir entgehen? Ich schulde dir noch was.«
»Später. Ich bin bei der Arbeit. Oder nein, warte, vergiss die Schulden. Ich erlasse sie dir.«
Prima, dachte er, ganz prima. Im selben Moment ging die Tür zu. Gleichgültig setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ganz einfach, lachte Maria in seinem Ohr. Mann!, wollte er schreien. Er hatte es ja gewusst.