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Suji fragte sich, warum ihre Knie so schlotterten, als sie in der langen Schlange vor dem improvisierten Büro des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge stand. War das auch nur wieder eine der vielen Nebenwirkungen der Medikamente gegen Schizophrenie? Diese Pillen hatten sie die letzten zwei Monate völlig ausgeknockt. Sie war zu nichts mehr in der Lage gewesen und hätte sich eigentlich direkt der Lethargie ihrer Mutter anschließen können. Den ganzen Tag hockte sie zuhause herum und sah Nachrichten. Einmal die Woche holte sie etwas Essen von der Tafel und ansonsten verbarrikadierten sie die Tür, damit der Vermieter nicht hereinkam. Glücklicherweise wurde ihnen der Strom noch nicht abgestellt, obwohl sie die Rechnung seit Monaten nicht bezahlt hatten.

Vielleicht schlotterten ihre Knie aber auch, weil gleich über ihr Schicksal entschieden werden sollte. In den Nachrichten kündigte der Bundeskanzler an, dass wegen des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft und der darauf folgenden Armut, eben »nicht mehr genug für alle da sei« und man müsse »Prioritäten setzen«. Das war natürlich nur eine freundliche Umschreibung dafür, dass man die Schwächsten der Gesellschaft fallen lassen wollte. Das Sozialsystem brach zusammen, die Obdachlosigkeit wurde immer schlimmer und – was Suji die meiste Angst machte – es wurden so gut wie keine Asylanträge mehr akzeptiert. Im Pazifik gab es immer mehr Zusammenstöße zwischen den USA, China und Russland. Viele sprachen schon davon, dass ein dritter Weltkrieg nun wahrscheinlicher war, als zur Zeit der Kuba-Krise.

Das Gute an den Medikamenten war, dass sie Sujis Sorgen betäubten. Auch wenn alles am Arsch war, war es ihr herzlich egal. Auch, als sie heute Morgen das Graffiti an ihrer Wohnungstür bemerkte. Jemand hatte ein riesiges Hakenkreuz und den Spruch »Japsen verpisst euch!« an ihre Tür gesprüht.

»Nächster!«, rief eine Männerstimme sie herein. Suji betrat ein Büro von der Größe eines kleinen Kiosk, in dem ein älterer dicker Mann in einem hellblauen Hemd an einem Laptop saß. Ein Schreibtisch, ein paar Stühle und ein paar Aktenschränke waren die gesamte Ausstattung. Der Koreanerin kam ein Mann mit Bart und südländischem Aussehen, wahrscheinlich ein Türke, Syrer oder Afghane entgegen. Seine Augen waren leer. Als Suji sich zu ihm umdrehte, sah sie draußen zwei Polizisten auftauchen, die auf den Mann zugingen und ihn an beiden Armen packten, obwohl er überhaupt keinen Widerstand leistete.

Fuck.

Jetzt bekam die junge Frau trotz der Medikamente doch etwas Angst.

»Name?« Suji setzte sich dem Mann gegenüber und öffnete ihre Umhängetasche mit den vielen Dokumenten.

»Suji Kim«, antwortete sie und legte eine Menge Formulare und Urkunden auf den Tisch. Der Mann nahm sich ihren Studierendenausweis und tippte Namen und Adresse in seine Datenbank ein.

»Frau Kim, Sie sind illegal in Deutschland!« Suji rutschte das Herz in die Hose.

»Meine Mutter und ich werden geduldet!«

»Hier steht, Sie hätten sich vor Jahren schon der Abschiebung widersetzt.«

»Meine ganze Schule hat sich vor mich gestellt und mich beschützt, weil mich Polizisten aus dem Unterricht zerren wollten!«

»Und seitdem hat der Fall geruht«, fügte der Mann hinzu. »Sie kommen aus Korea?«

»Meine Mutter hat als Nachrichtensprecherin für das Regime in Nordkorea gearbeitet. Als ich zwei Wochen alt war, hat sie die Erlaubnis bekommen, in Wien zu studieren. Mich hat sie als Baby im Flugzeuggepäck versteckt. Als sie in Europa angekommen ist, ist sie sofort nach Deutschland gefahren und hat dort politisches Asyl beantragt.«

»Asyl gibt es nicht mehr. Der provisorische Bundestag in Hamburg hat das Recht auf Asyl ausgesetzt, bis die Weltwirtschaftskrise überstanden ist.«

»Aber Nordkorea ist kein sicheres Herkunftsland!«

»Wenn Sie beweisen können, dass Sie wirklich politisch verfolgt werden. Aber ihre Mutter hat laut Unterlagen nie solche Beweise vorgelegt.«

Suji gestikulierte wild mit den Händen. »Wir reden hier von Nordkorea! Es gibt dort Arbeitslager. Meine Mutter gilt als Verräterin und würde vermutlich sofort hingerichtet werden.«

»Und Sie?«

Die junge Frau schüttelte hilflos den Kopf. »I-ich habe mein ganzes Leben in München gewohnt. Ich spreche kein Wort Koreanisch … Vermutlich würden sie mich einfach auch …«

»Wir arbeiten leider nicht mit Vermutungen!«

Suji wurde ganz blass. Der Mann sah sie nur wartend an und die junge Frau verstand, dass sie für ihn nur eine Nummer von vielen war. Sie war arbeitslos, belegte eine Wohnung, verbrauchte kostbaren Strom und konsumierte Essen von der Tafel. Wie viele dieser Urteile hatte dieser Kerl wohl an diesem Tag schon getroffen? Suji dachte an die Polizisten vor der Tür und stand auf.

»I-ich …«

»Bleiben Sie hier!«

Aber Suji rannte sofort hinaus. »Hey!!«, brüllte einer der Beamten und verfolgte sie. Die junge Koreanerin lief wie ein geölter Blitz an der Warteschlange vorbei und bemerkte, wie alle sie anstarrten. All diese Menschen, die Deutschland aufgenommen hatte und die jetzt das gleiche Schicksal ereilen konnte. Die Menge wurde sofort unruhig und laute Rufe hallten den Polizisten entgegen. Die Leute machten Suji Platz. Gleichzeitig stellten sich einige den Beamten in den Weg. Schließlich stürzten sich mehrere Männer auf die Polizisten und warfen diese zu Boden. Suji hörte eine Trillerpfeife und kurz darauf ein lautes Martinshorn. Da fand gerade eine Prügelei statt. Die Lage eskalierte, als die Koreanerin um die Ecke bog und die Straße verließ.

Ohne zurückzublicken, rannte sie weiter in Richtung zuhause. Sie musste ihre Mutter warnen und mit ihr abhauen. Irgendwohin. Egal wohin!

Tränen stiegen in ihr auf. Fuck. Das war ein einziger Albtraum! Als sie um noch eine Ecke bog, kam ihr ein Streifenwagen mit Blaulicht entgegen. Erschrocken schrie Suji auf und bog in eine Seitengasse ein, die für das Auto zu eng war. Dann kletterte sie über einen Zaun und rannte durch eine Kleingartensiedlung.

»Fuck! Fuck! Fuck!«, fluchte sie und lief weiter. Jetzt war alles vorbei. Wie konnte es nur so weit kommen? Wenn die Zeiten mal schwer waren, warum trat man dann immer zuerst auf denen herum, die es sowieso am schwersten hatten?

Das Handy ihrer Mutter hatte Suji selbst in Benutzung, darum konnte sie sie nicht anrufen. Sie musste so schnell wie möglich zu ihr und sie holen. Endlich hatte sie die Gartensiedlung verlassen und war wieder auf der Straße. Nur noch zwei Blocks musste sie rennen!

Die Zeit verflog unheimlich schnell. Sujis Kopf war völlig leer und ehe sie sich versah, stand sie vor der offenen Tür ihrer kleinen Wohnung. Sie sah in den kleinen Flur. Jemand hatte die Bilder von der Wand gerissen. Ihr Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer lag umgeworfen zur Hälfte in der Diele, die Klamotten – darunter vor allem ihre Unterwäsche – lagen überall auf dem Boden verteilt. Suji blieb vor diesem Anblick stehen. Ihre Knie schlotterten wieder. Nur ganz langsam konnte sie durch die Tür gehen und bemerkte das neue Hakenkreuz-Graffiti, das an der Wand neben der Küchentür erschienen war.

Zitternd warf sie einen Blick in das Badezimmer und sank bei dem Anblick dann mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Ihr ganzer Körper fühlte sich nun taub an. Um nicht laut loszuschreien, hielt sie sich die Hand vor den Mund, während ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen waren.

Suji blickte auf den Körper ihrer Mutter, der an einem Kabel aufgebunden von der Decke baumelte. Um ihren Hals hing ein Pappschild, wo etwas drauf geschrieben stand, das sie ganz bestimmt nicht lesen wollte. Jemand hatte sie ermordet. Das Graffiti von heute Morgen war eine Warnung gewesen und das hier die Bestrafung, weil die Warnung nicht erhört wurde.

Die junge Frau konnte den Blick nicht von ihrer Mama wenden. Ein Strom aus Tränen floss aus ihren Augen, die sie einfach nicht mehr schließen konnte. Ihre Mama, die schon so wenig Lebenskraft noch hatte, war einfach tot.

Suji verlor jegliches Zeitgefühl. Auch sie verlor langsam die Lebensenergie. Was sollte sie auch noch tun? Was hatte es jetzt noch für einen Sinn, von hier zu verschwinden?

Von draußen hörte sie schon die Sirenen der Polizei.

Es war vorbei.

»Es tut mir so leid«, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. Trotz der Medikamente war sie nie komplett verstummt gewesen. »Es tut mir so unendlich leid. Ich will dir helfen. Ich komme zu dir.«

Suji schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war so voller Tränen und Rotz, dass sie nicht richtig sprechen konnte. Doch irgendwie wusste sie insgeheim, dass sie die Worte nicht sprechen musste. Wer immer das war, mit dem sie da sprach, verstand sie auch, wenn sie die Worte nur dachte.

»Wie willst du mir jetzt noch helfen?«, sendete sie in Gedanken an ihren unsichtbaren Freund.

»Ich kann dich erst einmal zu mir holen. Auf der anderen Seite des Kraters bist du vorerst sicher.«

Grandiose Idee. Und wie sollte sie über den Krater kommen?

»Komm zu der Straßensperre«, antwortete die Flüsterstimme. »Dann zeige ich es dir.«

»Wozu denn noch?«, dachte Suji kopfschüttelnd. Die Stimme antwortete nicht sofort. Es wirkte, als würde das fremde Wesen darüber nachdenken, was es jetzt am besten sagen konnte.

»Ich habe dir unsere Verbindung aufgezwungen und dir damit Kummer bereitet. Das tut mir so leid. Ich wollte dir nie schaden. Ich würde gerne für dich da sein.«

Mit einem Mal wurde die junge Frau ganz ruhig. Das Weinen und Zittern hörte auf, so als hätte sich in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt. Suji stand auf und warf einen Blick in den Spiegel im Flur. Er hatte einen Riss in der Mitte, aber sie konnte immer noch das Spiegelbild ihres Gesichtes erkennen.

Da erkannte Suji, dass ihre Augen pechschwarz geworden waren. Hatte sie vorher dunkelbraune Augen, sahen sie nun unnatürlich und nicht mehr menschlich aus.

Ohne weiter darüber nachzudenken ließ sie die neue Kraft in ihren Körper strömen und lief los, die Treppen hinunter und dann durch den Hinterausgang. Sie hörte bereits die Beamten, die an der Vordertür standen.

Am Hinterausgang ging es eine kleine Treppe hinunter in einen Gemeinschaftsgarten. Dort kletterte Suji über einen Zaun und gelangte so auf die Straße dahinter. So schnell sie konnte, rannte sie über den Bürgersteig, wich einer alten Frau mit Rollator aus und bog um die Ecke. Nicht mehr weit entfernt sah sie die Straßensperre vor dem Krater. An einem so klaren Tag wie diesen konnte sie bis zur anderen Seite sehen. Der Canyon war etwa einen Kilometer breit. Je näher sie dem Abgrund kam, desto mehr Zweifel plagten sie, was sie hier eigentlich tat. Sie folgte den Stimmen in ihrem Kopf, obwohl ihr Psychiater sie ausdrücklich davor gewarnt hatte. Und die Stimme sagte ihr, sie solle zu einem Abgrund gehen.

Und genau das war das Gefährlichste, was sie tun konnte. Sie vertraute darauf, dass diese Stimme mehr war, als eine psychische Krankheit. Doch andererseits war es ihr auch egal. Alles war Suji egal.

Kurz vor der Absperrung hielt sie an. Hinter ihr bog ein Polizeiauto in die Straße ein und fuhr direkt auf sie zu. Erschrocken drehte Suji sich um und fasste dann den Entschluss, über die weiß-rote Absperrung zu klettern. Jetzt stand sie direkt am Abgrund. Hier hatte sie nur noch einen halben Meter Platz.

Und jetzt? Sollte sie wirklich springen und alles beenden?

»Siehst du meine Schuhe?«, fragte die Stimme und Suji lachte hysterisch auf. Na klar! Schuhe würden sie jetzt retten!

Doch dann sah sie tatsächlich ein paar Schuhe aus einem silbernen Metall. Was war das? Halluzinierte sie jetzt?

»Zieh sie an!«, befahl die Stimme. »Damit kannst du über den Abgrund.«

Vor Stimmen, die einem befahlen, sich in den Tod zu stürzen, wurde sie gewarnt. Aber Stimmen, die wollten, dass man dabei auch die richtigen Schuhe trug waren neu. Was auch immer. Suji bückte sich runter und zog sich ihrer kaputten Billig-Treter aus, die sowieso schon zu viele Löcher hatten.

Hinter sich hörte sie Autotüren zuknallen. Die Beamten waren fast bei ihr. Schnell sprang sie in die metallischen Schuhe, die sich so gar nicht der Form ihrer Füße anpassten und sowohl viel zu groß als auch überaus unangenehm zu tragen waren.

Ängstlich warf sie noch einen Blick über die Schulter und sah zwei Streifenwagen und vier Polizisten. Es war sowieso vorbei. Suji wollte es sich nicht nehmen lassen, den Pennern noch einmal beide Mittelfinger zu zeigen, und sprang dann in die Tiefe.

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