Читать книгу Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 24
Erfahrung gemeinsamen Menschseins versus Isolation
ОглавлениеSelbstmitgefühl geht eher mit einem Gefühl der Verbundenheit als mit dem Gefühl des Getrenntseins einher. Eines der größten Probleme mit harter Selbstverurteilung besteht darin, dass sie uns normalerweise das Gefühl gibt, isoliert und von anderen abgeschnitten zu sein. Wenn wir scheitern oder uns in irgendeiner Weise unzulänglich fühlen, kommen wir zu dem irrationalen Schluss: »Alle anderen sind in Ordnung. Ich bin der einzige hoffnungslose Versager.« Das ist kein logischer Denkprozess, sondern eine emotionale Reaktion, die unser Denken verengt und die Realität verzerrt. Selbst wenn in unserem Leben Dinge schiefgehen, für die wir uns nicht verantwortlich machen (leider geben wir uns an fast allem die Schuld), neigen wir dazu zu glauben, andere hätten es leichter und unsere eigene Situation sei nicht normal. Wir tun fast so, als hätten wir vor der Geburt einen Vertrag unterschrieben, mit dem zugesagt wird, dass wir perfekt sein werden und dass alles in unserem Leben stets nach Wunsch laufen wird: »Entschuldigung, da muss ein Irrtum vorliegen. Ich habe mich für das Programm ›Alles wird bis zu meinem Todestag perfekt laufen‹ angemeldet. Kann ich bitte mein Geld zurückhaben?« Es ist absurd, und doch glauben die meisten von uns, dass etwas furchtbar schiefgelaufen ist, wenn wir scheitern oder wenn das Leben eine unerwünschte Wendung nimmt. Tara Brach (2003) schreibt: »Das Gefühl, nichts wert zu sein, geht Hand in Hand mit dem Gefühl, von anderen getrennt zu sein, vom Leben getrennt zu sein. Wie können wir überhaupt dazugehören, wenn wir defekt sind?« Das erzeugt erschreckende Gefühle der Isolation und Einsamkeit, die unser Leiden enorm verschlimmern. Mit Selbstmitgefühl erkennen wir jedoch, dass Herausforderungen und persönliches Versagen zum Menschsein gehören; wir alle machen solche Erfahrungen. In Wirklichkeit sind unsere Fehler und Schwächen das, was uns zu Mitgliedern der menschlichen Spezies macht. Dieses Element der gemeinsamen menschlichen Daseinserfahrung hilft uns auch, zwischen Selbstmitgefühl und Selbstakzeptanz oder Selbstliebe zu unterscheiden. Selbstakzeptanz und Selbstliebe sind zwar wichtig, aber sie sind für sich allein unvollständig. Sie lassen einen wesentlichen Faktor aus: andere Menschen. Mitgefühl hat per Definition mit »Beziehung« zu tun. Es impliziert eine grundlegende Gegenseitigkeit in der Erfahrung des Leidens und beruht auf der Anerkennung der Tatsache, dass die menschliche Daseinserfahrung unvollkommen ist. Warum sonst würden wir sagen: »Es ist nur menschlich«, um jemanden zu trösten, der einen Fehler gemacht hat?
Selbstmitgefühl erkennt die Tatsache an, dass alle Menschen fehlbar sind, dass es unvermeidlich zum Leben gehört, »falsch abzubiegen«. (Wie sagt man so schön: »Ein gutes Gewissen weist gewöhnlich auf ein schlechtes Gedächtnis hin.«) Wenn wir in Kontakt mit unserer gemeinsamen Menschlichkeit sind, erinnern wir uns daran, dass jeder und jede von uns Gefühle der Unzulänglichkeit und Enttäuschung kennt. Der Schmerz, den ich in schwierigen Zeiten empfinde, ist der gleiche Schmerz, den du in schwierigen Zeiten empfindest. Die Auslöser, die Umstände und der Grad des Schmerzes mögen sich unterscheiden, aber der Prozess ist derselbe. Mit Selbstmitgefühl ist jeder Moment des Leidens eine Gelegenheit, sich anderen näher und verbundener zu fühlen. Es erinnert uns daran, dass wir nicht allein sind.