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Die Wurzeln des Selbstmitgefühls

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Paul Gilbert (2009), der die Entwicklung des Selbstmitgefühls aus der Perspektive der evolutionären Psychologie betrachtet, vertritt die These, dass unsere Art und Weise, mit uns selbst in Beziehung zu treten, in unsere physiologischen Prozesse eingreift. So aktiviert Selbstkritik beispielsweise unser inneres Bedrohungssystem (das mit Bedrohungsgefühlen und der Erregung des sympathischen Nervensystems assoziiert wird). Die Amygdala ist eine der ältesten Strukturen unseres Gehirns und dient dazu, Gefahren in unserer Umgebung rasch zu erkennen. Wenn wir uns bedroht fühlen, sendet die Amygdala Signale aus, die den Blutdruck und die Adrenalinausschüttung sowie die Ausschüttung des Hormons Cortisol in den Blutstrom erhöhen, und mobilisiert dadurch Kräfte, die wir benötigen, um uns der Bedrohung zu stellen oder ihr auszuweichen. Obwohl dieses System evolutionär darauf ausgelegt war, mit äußeren, physischen Gefahren fertigzuwerden, wird es ebenso leicht aktiviert, wenn unser Selbstbild bedroht wird. Selbstkritik ist eine kontraproduktive Art, gegen innere Herausforderungen anzukämpfen, die unsere Selbstachtung bedrohen. Und da wir, wenn wir Selbstkritik üben, gleichzeitig der Angreifer und der Angegriffene sind, kann das sympathische Nervensystem besonders stark aktiviert werden.

Im Gegensatz dazu wird, wie Gilbert (2009) argumentiert, Selbstmitgefühl oft mit der Fürsorge von Säugetieren assoziiert (­Selbstberuhigung, Gefühle der Zugehörigkeit und Sicherheit und Aktivierung des parasympathischen Nervensystems). Im Vergleich mit Reptilien besteht der evolutionäre Fortschritt der Säugetiere darin, dass deren Junge sehr unreif geboren werden und dadurch eine längere Entwicklungsphase durchmachen müssen, um sich an ihre Umwelt anzupassen. Säugetiere haben die Fähigkeit, Unterstützung, Schutz und Fürsorge zu gewähren und zu empfangen, was bedeutet, dass Eltern ihre Kinder nicht sofort nach der Geburt zurücklassen würden und Kinder sich nicht allein in die gefährliche Wildnis begeben würden (Wang, 2005). Die Fähigkeit, Zuneigung und Verbundenheit zu spüren, ist Teil unserer biologischen Natur. Wir sind darauf ausgelegt, fürsorglich zu sein.

Wir können die verschiedenen Elemente des Selbstmitgefühls im Rahmen eines Gleichgewichtszustandes zwischen dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem sehen (siehe Kapitel 3), die, wie wir wissen, als Gegenspieler ständig interagieren (Porges, 2007). Selbstverurteilung, Isolation und Überidentifikation können als Stressreaktion betrachtet werden, die nach innen gerichtet wird, wenn unser Selbstbild bedroht ist. Selbstverurteilung ist die Kampfreaktion in Form von Selbstkritik und Angriffen gegen das Selbst. Isolation entspricht der Fluchtreaktion – dem Wunsch, vor anderen zu fliehen und sich schamvoll zu verstecken. Überidentifikation kann als die Erstarrungsreaktion betrachtet werden, bei der wir um uns selbst kreisen und in endlosem Grübeln über unsere eigene Unwürdigkeit stecken bleiben. Andererseits können Selbstfreundlichkeit, das Anerkennen der Erfahrung gemeinsamen Menschseins und Achtsamkeit als Faktoren gesehen werden, die angesichts von Bedrohungen ein Gefühl der Sicherheit erzeugen. Freundlichkeit gegenüber uns selbst bedeutet, uns selbst zu schützen, fürsorglich zu behandeln und zu unterstützen, wodurch der selbstkritischen Kampfreaktion entgegengewirkt wird. Das Empfinden einer Erfahrung gemeinsamen Menschseins erzeugt Gefühle der Verbundenheit und Zugehörigkeit und wirkt der trennenden Fluchtreaktion entgegen. Selbstmitgefühl bringt auch Achtsamkeit mit sich, die es uns ermöglicht, die Dinge mit neuen Augen zu sehen und flexibler darauf zu antworten, was wiederum der Erstarrungsreaktion (Überidentifikation) entgegenwirkt (Creswell, 2015; Tirch, Schoendorff und Silberstein, 2014). Natürlich findet eine umfassende Interaktion zwischen allen Elementen des Systems statt, und sicher ist dies ein vereinfachtes Modell. Tatsächlich zeigt die Forschung, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Aspekten des Selbstmitgefühls gibt hinsichtlich der Assoziierung mit Markern einer verringerten Reaktion des Sympathikus (zum Beispiel Alphaamylase, Interleukin-6) nach einer stressigen Situation (Neff, Long et al., 2018) oder mit vagusvermittelter Herzfrequenzvariabilität, einem Marker für eine gesteigerte parasympathische Reaktion (Svendsen et al., 2016). Wie Porges (2003) deutlich macht, interagieren die beiden Elemente des autonomen Nervensystems in ihrem Zusammenspiel als Ganzes.

Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten

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