Читать книгу Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 39
Selbstmitgefühl versus Selbstwertgefühl
ОглавлениеForschungsergebnisse legen nahe, dass sich Selbstmitgefühl ähnlich positiv auf die psychische Gesundheit auswirkt wie Selbstwertgefühl, aber nicht dieselben Fallstricke mit sich bringt. Bei einer Umfrage in den Niederlanden, an der eine große Bevölkerungsstichprobe teilnahm (Neff und Vonk, 2009), waren höhere Scores auf der SCS mit einer größeren Stabilität des Selbstwertgefühls als Zustand (über einen Zeitraum von acht Monaten, zu zwölf unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben) verbunden als eines Selbstwertgefühls, das von bestimmten Eigenschaften abhängt. Das mag damit zusammenhängen, dass Selbstmitgefühl weniger von persönlichen Eigenschaften wie körperlicher Attraktivität oder Leistung und Erfolg abhängt als Selbstwertgefühl. Die Forschungsergebnisse deuteten darauf hin, dass Selbstmitgefühl in geringerem Maß mit dem Hang einhergeht, sich mit anderen zu vergleichen, mit weniger Befangenheit in der Öffentlichkeit sowie mit weniger Grübelei, Wut und mentaler Verschlossenheit als Selbstwertgefühl. Selbstwertgefühl hatte außerdem eine starke Verbindung zum Narzissmus, während Selbstmitgefühl überhaupt nicht mit Narzissmus assoziiert wurde. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass selbstmitfühlende Menschen im Gegensatz zu Menschen mit hohem Selbstwertgefühl weniger darauf fokussiert sind, sich selbst zu bewerten, sich anderen überlegen zu fühlen, ihre Standpunkte zu verteidigen oder mit Wut auf Menschen zu reagieren, die nicht ihrer Meinung sind. Selbstmitgefühl scheint Menschen auch eher zu befähigen, mit Stress umzugehen, als Selbstwertgefühl. In einer Studie wurden die Teilnehmer aufgefordert, ihren Stresspegel und ihre Stimmung über einen Zeitraum von vierzehn Tagen zweimal täglich über ihr Smartphone zu melden (Krieger, Hermann, Zimmermann und Holtforth, 2015). Man stellte fest, dass ihr allgemeiner Selbstmitgefühls-Level, nicht aber ihr allgemeines Selbstwertgefühl weniger negative Gefühle in stressigen Situationen prognostizierte. Selbstmitgefühl kann auch die Auswirkungen eines geringen Selbstwertgefühls auf das Wohlbefinden abpuffern. So fand man im Rahmen einer Längsschnittstudie mit Jugendlichen heraus, dass Neuntklässler mit geringem Selbstwertgefühl, aber viel Selbstmitgefühl ein Jahr später psychisch gesünder waren als diejenigen, die auch wenig Selbstmitgefühl hatten (Marshall et al., 2015).
Leary und Kollegen (2007) führten eine Studie durch, bei der Selbstmitgefühl und Selbstwertgefühl im Hinblick auf die Akzeptanz von Feedback verglichen wurden. Die Teilnehmenden wurden gebeten, ein Video zu erstellen, in dem sie sich vorstellten und ihre Persönlichkeit beschrieben. Dann wurde ihnen gesagt, dass jemand ihr Video anschauen und ihnen Feedback darüber geben würde, wie warmherzig, freundlich, intelligent, sympathisch und reif sie wirkten (das Feedback wurde von einem anderen Teilnehmenden gegeben). Eine Hälfte der Teilnehmenden bekam positive Rückmeldungen, die andere neutrale. Selbstmitfühlende Personen blieben relativ unbeeindruckt, unabhängig davon, ob das Feedback positiv oder neutral war, und waren bereit, es so oder so als Beschreibung ihrer eigenen Persönlichkeit anzunehmen. Menschen mit hohem Selbstwertgefühl neigten jedoch dazu, sich aufzuregen, wenn sie ein neutrales Feedback erhielten. (»Wie bitte, ich bin nur Durchschnitt?«)
Sie leugneten auch eher, dass das neutrale Feedback ihrer Persönlichkeit entsprach, und neigten dazu, es Faktoren wie der Stimmung des jeweiligen Beobachters zuzuschreiben. Das deutet darauf hin, dass selbstmitfühlende Menschen eher in der Lage sind zu akzeptieren, wer sie sind, unabhängig davon, in welchem Maße sie von anderen gelobt werden. Selbstwertgefühl blüht dagegen nur auf, wenn die Bewertungen gut sind, und kann zu Vermeidungsstrategien führen, wenn die Möglichkeit besteht, mit unangenehmen Wahrheiten über sich selbst konfrontiert zu werden (Swann, 1996).