Читать книгу Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 49
Selbstmitgefühl und frühe Kindheit
ОглавлениеForschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass frühe Kindheitserfahrungen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Selbstmitgefühl spielen. So scheint beispielsweise die Bindungsentwicklung mit Selbstmitgefühl in Verbindung zu stehen: Unsichere Bindung wurde mit einem geringeren Maß an Selbstmitgefühl assoziiert als sichere Bindung (zum Beispiel Joeng et al., 2017; Mackintosh, Power, Schwannauer und Chan, 2018; Raque-Bogdan, Ericson, Jackson, Martin und Bryan, 2011; Wie, Liao, Ku und Shaffer, 2011). Obwohl der größte Teil dieser Forschung korreliert, stellte man fest, dass experimentell herbeigeführte Bindungssicherheit (zum Beispiel Personen bitten, einen bestimmten Menschen zu visualisieren, mit dem sie sich wohl und sicher fühlen und an den sie sich bei emotionalen Problemen wenden können) das Selbstmitgefühl stärkt, was auf einen kausalen Zusammenhang hindeutet (Pepping, Davis, O’Donovan und Pal, 2015). Auf ähnliche Weise sind frühe Erinnerungen an Warmherzigkeit und Sicherheit positiv mit Selbstmitgefühl verbunden (Kearney und Hicks, 2016; Marta-Simões, Ferreira und Mendes, 2018), während ablehnendes Verhalten der Eltern, Kritik, Überbehütung und stressige familiäre Beziehungen in negativem Verhältnis zum Selbstmitgefühl stehen (Neff und McGehee, 2010; Pepping, Davis, O’Donovan und Pal, 2015).
Es überrascht nicht, dass emotionaler Missbrauch in der Kindheit mit einem niedrigen Maß an Selbstmitgefühl verbunden ist (Barlow, Turow und Gerhart, 2017) und dass Menschen mit einer traumatischen Vergangenheit, die wenig Selbstmitgefühl haben, mehr emotionale Not erfahren und eher dazu neigen, Alkohol zu missbrauchen oder einen ernsthaften Suizidversuch zu unternehmen (Tanaka, Wekerle, Schmuck, Paglia-Boak und das MAP-Forscherteam, 2011). Die Forschung legt nahe, dass mangelndes Selbstmitgefühl ein wichtiger Angriffspunkt ist, über den frühe Traumata spätere Dysfunktion hervorrufen. So wurde beispielsweise festgestellt, dass Selbstmitgefühl eine Rolle beim Zusammenhang zwischen Misshandlungen im Kindesalter und späterer emotionaler Dysregulation (Vettese, Dyer, Li und Wekerle, 2011) sowie PTBS-Symptomen spielt (Barlow, Turow und Gerhart, 2017). Ein ähnlicher Einfluss von Selbstmitgefühl auf die Verbindung zwischen wahrgenommener elterlicher Misshandlung (Missbrauch oder Vernachlässigung) und der Schwere der psychischen Symptome wurde bei Erwachsenen festgestellt, die sich einer Psychotherapie unterzogen (Westphal, Leahy, Pala und Wupperman, 2016). Dies kann darauf hindeuten, dass Menschen mit Trauma-Erfahrungen, die lernen, Mitgefühl mit sich selbst zu haben, möglicherweise auf konstruktivere Weise mit ihrer Vergangenheit umgehen können. Tatsächlich verbessert Selbstmitgefühl die Aussicht auf posttraumatisches Wachstum und Heilung (Wong und Yeung, 2017). Überlebende von Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit haben jedoch oft größere Angst vor Selbstmitgefühl (Boykin et al., 2018), was mit »Backdraft« zusammenhängt (wie in MSC definiert; siehe Kapitel 11). Das kann ein erhebliches Hindernis für die Entwicklung dieser inneren Ressource sein.