Читать книгу Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 51
Die Neurophysiologie des Selbstmitgefühls
ОглавлениеSelbstmitgefühl scheint das körperliche und emotionale Wohlbefinden zu fördern. So berichten Patienten mit höheren Selbstmitgefühlswerten seltener von Gesundheitsproblemen wie Bauchschmerzen, Hautausschlägen, Ohrenschmerzen oder Atembeschwerden (Dunne, Sheffield und Chilcot, 2018; Hall, Row, Wuensch und Godley, 2013). Höhere Werte auf der Selbstmitgefühlsskala wurden bei Personen mit der Autoimmunerkrankung Sklerodermie mit einem niedrigeren Übererregbarkeits-Level assoziiert, der im Zusammenhang mit einer Immunfunktionsstörung angesichts stressiger Ereignisse steht (Kearney und Hicks, 2016), sowie bei Frauen mit der Diagnose Brustkrebs (Kearney und Hicks, 2017). Diese letztgenannte Studie ergab außerdem, dass Selbstmitgefühl mit einem höheren Alter bei Ausbruch des Krebses korrelierte, was die Autoren vermuten lässt, dass dies auf eine verbesserte Immunfunktion bei selbstmitfühlenden Personen zurückzuführen ist. Tatsächlich fanden die Forscher bestätigt, dass eine Intervention, bei der Selbstmitgefühl vermittelt wird, die Immunfunktion verbesserte (anhand der gemessenen Werte des Immunglobulins A [IgA]).
Immer mehr Forschungsergebnisse legen nahe, dass Selbstmitgefühl auf das autonome Nervensystem einwirkt, wobei Selbstmitgefühl zu einer stärkeren Aktivierung des Beruhigungssystems und einer geringeren Aktivierung des Bedrohungssystems führt (Kirschner et al., 2019), wie von Gilbert (2009) dargelegt. Anders ausgedrückt: Selbstmitgefühl scheint die Reaktion des Bedrohungssystems auf Stress zu reduzieren, indem es die Aktivität des sympathischen Nervensystems unterdrückt und die parasympathische Aktivität durch die Stimulation des Vagusnervs erhöht (Porges, 2003). So baten beispielsweise Rockliff, Gilbert, McEwan, Lightman und Glover (2008) die Teilnehmenden, sich vorzustellen, Mitgefühl zu empfangen und es in ihrem Körper zu spüren, und stellten fest, dass dadurch der Cortisolspiegel im Speichel (ein Indikator für die Aktivität des sympathischen Nervensystems) sank und sich die Herzfrequenzvariabilität erhöhte (ein Indikator für die Aktivität des parasympathischen Nervensystems, die mit flexiblem Reagieren und der Fähigkeit, sich bei Stress selbst zu beruhigen, verbunden ist; Porges, 2007).
Laut einer weiteren Studie (Herriot, Wrosch und Gouin, 2018) war ein höheres Maß an Selbstmitgefühl mit niedrigeren Cortisolwerten am Tag bei älteren Erwachsenen verbunden, die zuvor von intensiveren Gefühlen der Reue, körperlichen Problemen oder funktionellen Störungen berichtet hatten. Höhere Selbstmitgefühls-Levels werden mit einer größeren vagusvermittelten Herzfrequenzvariabilität assoziiert (Svendsen et al., 2016), auch als Reaktion auf experimentell induzierten Stress (Luo, Quiao und Che, 2018). Eine Studie, bei der die Teilnehmenden gebeten wurden, an ein kürzliches Ereignis zu denken, bei dem sie sich geschämt hatten oder von sich enttäuscht waren, und dann selbstmitfühlend mit sich zu sprechen, während sie in einen Spiegel schauten, kam zu dem Ergebnis, dass Selbstmitgefühl eine Zunahme positiver, beruhigender Gefühle bewirkte sowie die Herzfrequenzvariabilität erhöhte (Petrocchi, Ottaviani und Couyoumdjian, 2016). Höhere Selbstmitgefühlswerte wurden mit einer geringeren Erregung des Sympathikus als Reaktion auf einen standardisierten laborbasierten Stressor (den Trier Social Stress Test [TSST]) assoziiert, was durch Erhebung des Alpha-Amylase-Werts im Speichel (Breines et al., 2015) und des Interleukin-6-Werts (Breines, Thoma et al., 2014) gemessen wurde. Ähnlich wirkte sich auch ein kurzes Training in Selbstmitgefühlsmeditation aus: Es führte zu einer Verringerung des Alpha-Amylase-Werts im Speichel und von subjektiven Angstreaktionen auf Stress, während die Herzfrequenzvariabilität im Vergleich mit Kontrollbedingungen stabilisiert wurde (Arch et al., 2014).
Es gibt vorläufige neurologische Evidenz für den Zusammenhang zwischen psychischem Wohlbefinden und Selbstmitgefühl. Parrish und Kollegen (2018) führten eine Studie mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) durch und fanden eine negative Korrelation zwischen der Konnektivität des ventromedialen-präfrontalen Cortex (vmPFC) und der Amygdala und allgemeinem Selbstmitgefühl. Es wird angenommen, dass der vmPFC direkt in die bedrohungsbezogene Aktivität in der Amygdala eingreift, sodass die Konnektivität zwischen vmPFC und Amygdala ein Mechanismus sein könnte, durch den Selbstmitgefühl vor Stress und negativen Emotionen schützt. In einer weiteren fMRT-Studie stellten Pires und Kollegen (2018) fest, dass weibliche Führungskräfte, die mehr Selbstmitgefühl hatten, auf verstörende emotionale Bilder mit einer stärkeren Aktivierung des Precuneus (einer Hirnregion, die mit Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion assoziiert wird) reagierten und gleichzeitig weniger gestresst und deprimiert waren. Dies deutet darauf hin, dass Selbstmitgefühl es Individuen ermöglichen kann, negativen Emotionen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ohne von ihnen überwältigt zu werden.
Schließlich stellte eine Studie von Friis und Kollegen (2015) fest, dass Selbstmitgefühl die negativen Auswirkungen von diabetesbedingten Leiden auf den Hämoglobin-A1C-Test (HbA1C, ein Test zur Messung des durchschnittlichen Blutzuckerspiegels) abmilderte, sodass die Beschwerden bei Individuen mit einem höheren Maß an Selbstmitgefühl nicht zu höheren HbA1C-Werten führten. Dieselben Forscher führten auch eine randomisierte kontrollierte Studie des MSC-Programms für Patienten mit Diabetes durch (Friis et al., 2016) und fanden heraus, dass diejenigen, die am MSC-Programm teilnahmen, im Vergleich mit einer Warteliste-Kontrollgruppe sowohl weniger diabetesbezogene Beschwerden als auch geringere HbA1C-Werte hatten und dass diese Verbesserungen noch drei Monate später anhielten (siehe Kapitel 4). Das ist die Magie des Selbstmitgefühls: Indem wir in schwierigen Zeiten unterstützender mit uns selbst umgehen, lindern wir unser Leiden und steigern unser körperliches und psychisches Wohlbefinden.