Читать книгу Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 50
Selbstmitgefühl in klinischen Populationen
ОглавлениеIm Vergleich zu den Selbstmitgefühls-Levels in der allgemeinen Bevölkerung sind die Werte tendenziell niedriger bei Personen, die die Kriterien für psychische Erkrankungen wie bipolare Störung (Døssing et al., 2015), Depressionen (Krieger et al., 2013), generalisierte Angststörung (Hoge et al., 2013), Sozialphobie (Werner et al., 2012), Substanzmissbrauch (Phelps, Paniagua, Willcockson und Potter, 2018) oder Verfolgungswahn (Collett, Pugh, Waite und Freeman, 2016) erfüllen. Die Forschungsergebnisse legen auch nahe, dass ein unterschiedliches Maß an Selbstmitgefühl eine Erklärung für den Grad der psychischen Gesundheit in klinischen Populationen sein kann. Beispielsweise sind höhere Selbstmitgefühls-Levels mit einer verringerten Symptomatik bei Menschen mit Schizophrenie (Eicher, Davis und Lysaker, 2013), Zwangsstörungen (Wetterneck, Lee, Smith und Hart, 2013) und generalisierter Angst verbunden (Hoge et al., 2013). Selbstmitgefühl ist auch ein Prädiktor für weniger Angst vor negativer Bewertung bei Menschen mit Sozialphobie (Werner et al., 2012) und reduziert Schamgefühle, Grübelei sowie Sexsucht bei Männern, bei denen eine hypersexuelle Störung diagnostiziert wurde (Reid, Temko, Moghaddam und Fong, 2014). Selbstmitgefühl ist mit weniger depressiven Symptomen bei Personen mit unipolarer Depression verbunden, und dieser Zusammenhang wird durch die Fähigkeit erklärt, negative Emotionen zu tolerieren (Diedrich et al., 2016). Darüber hinaus scheint es möglich zu sein, Menschen mit schweren depressiven Störungen Selbstmitgefühl zu lehren. In einer experimentellen Studie induzierten Diedrich und Kollegen (2014) eine depressive Stimmung, indem sie die Teilnehmenden eine Reihe von Aussagen wie »Ich glaube, ich bin ein Verlierer« lesen ließen, während im Hintergrund traurige Musik abgespielt wurde. Anschließend wurden die Teilnehmenden gebeten, ihre Stimmung zu bewerten. Danach wurden sie entweder einer Wartelistengruppe oder einem von drei verschiedenen Gefühlsregulationssettings zugeordnet, in welchen sie entweder angeleitet wurden, selbstmitfühlend zu sein, ihr Denken kognitiv neu zu bewerten oder ihre Gefühle zu akzeptieren, bevor sie ihre Stimmung erneut einschätzten.
Die Probanden, die zu Beginn ein hohes Maß an Depressivität gezeigt hatten, profitierten mehr im Selbstmitgefühls-Setting als diejenigen in der Wartelistengruppe, der kognitiven Neubewertungsgruppe oder der Akzeptanzgruppe. Interessanterweise ergab eine Studie derselben Forschergruppe (Diedrich, Hofmann, Cuijpers und Berking, 2016), dass Personen mit schweren depressiven Störungen, denen beigebracht wurde, Selbstmitgefühl als vorbereitende Strategie anzuwenden, eine signifikant deutlichere Reduzierung der depressiven Stimmung während der kognitiven Neubewertung erlebten als die Personen der Wartelistengruppe, was darauf hindeutet, dass sich diese Fähigkeiten der Emotionsregulation gegenseitig unterstützen können.
Eine Veränderung Selbstmitgefühls-Niveaus scheint eine Schlüsselrolle bei therapeutischer Intervention zu spielen (Baer, 2010; Galili-Weinstock et al., 2018; Germer und Neff, 2013). Neff, Kirkpatrick und Rude (2007) führten beispielsweise eine Studie durch, bei der sie Veränderungen des Selbstmitgefühls-Levels bei Patienten in Therapie in monatlichen Intervallen verfolgten. Sie wandten eine gestalttherapeutische Zwei-Stuhl-Technik an, die den Klienten und Klientinnen helfen soll, Selbstkritik zu verringern und sich mehr Mitgefühl entgegenzubringen (Greenberg, 1983; Safran, 1998). Die Studienergebnisse zeigten, dass gestiegene Selbstmitgefühls-Levels über den monatelangen Zeitraum (die unter dem Deckmantel einer nicht mit dieser in Bezug stehenden Studie erhoben wurden) mit weniger Depressionen, Selbstkritik, Grübelei, Gedankenunterdrückung und Angst einhergingen. Eine weitere Studie ergab, dass Selbstmitgefühl eine Rolle bei den Therapieerfolgen von Personen zu spielen schien, bei denen Cluster-C-Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert worden waren (Schanche, Stiles, McCullough, Svartberg und Nielsen, 2011). Die Ergebnisse zeigten, dass eine Zunahme des Selbstmitgefühls vom Beginn bis zur Endphase der Therapie ein prä- und posttherapeutisch signifikanter Prädiktor für einen Rückgang psychiatrischer Symptome, zwischenmenschlicher Probleme und pathologischer Zustände war.
Eine interessante Frage bezieht sich auf die Richtungsabhängigkeit der Verbindung zwischen Selbstmitgefühl und Psychopathologie im Laufe der Therapie. Eine Studie verwendete Cross-lagged-Zeitanalysen, um die Richtungsabhängigkeit der Verbindung zwischen Selbstmitgefühl und depressiven Episoden bei Patienten in ambulanter Therapie zu untersuchen. Diese Verbindung wurde direkt nach der Therapie sowie sechs und zwölf Monate später bewertet (Krieger, Berger und Holtforth, 2016). Es wurde festgestellt, dass die Zunahme der SCS-Scores ein Prädiktor für eine spätere Verringerung der depressiven Symptome war, dass aber depressive Symptome nachfolgende Selbstmitgefühls-Levels nicht vorhersagten, was auf eine kausale Rolle des Selbstmitgefühls bei der Verringerung von Depressionen hindeutet. In ähnlicher Weise wurde wissenschaftlich untersucht, ob Selbstmitgefühl den Veränderungsprozess in der Therapie bei Patienten mit der Diagnose PTBS beeinflusst (Hoffart, Øktedalen und Langkaas, 2015). Die Selbstmitgefühlswerte wurden im Laufe einer zehnwöchigen Behandlung wöchentlich erhoben, und es wurde festgestellt, dass Veränderungen im Selbstmitgefühl ein Prädiktor für PTBS-Symptome waren (wobei ein Zuwachs an Selbstmitgefühl verringerte Symptome prognostizierte), während das Gegenteil nicht zutraf. Dies deutet darauf hin, dass Selbstmitgefühl ein wichtiger kausaler Faktor der therapeutischen Veränderung sein kann.