Читать книгу Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten - Kristine Weitzels - Страница 10

Оглавление

Kapitel 5

Sich selbst zu kennen,

ist die Erste aller Wissenschaften.

Platón


Ich muss wohl wieder geträumt haben. Das Buch liegt aufgeschlagen, mit dem Gesicht nach unten, auf meiner Brust. Obendrauf sitzt der kleine Gecko und beäugt mich neugierig. Es ist erneut Nacht, doch seine grüne Haut schimmert im Licht des Mondes fast neonfarben.

In dem Traum war ich so unglaublich fett, trotzdem empfand ich es nicht als unangenehm. Zu der damaligen Zeit entsprach Fettleibigkeit einem Schönheitsideal und zeugte von Wohlstand. Es war ein angenehmes und sorgenfreies Leben gewesen. Schade nur, dass ich keine Zeit mehr hatte, meiner Vision eines frühzeitlichen Hochhauses Leben einzuhauchen.

»Zeit hattest du genug«, korrigiert mein Verstand, »aber du fröntest ja lieber dem Lotterleben und deiner Huldigung an Ištar!«

»Ich weiß noch nicht mal, wer Ištar überhaupt ist«, erwidere ich empört.

»Sie ist die Göttin der geschlechtlichen Liebe, der Lust und des Genusses.«

»Aha! Und was soll ich mit dieser Erkenntnis? Tadelst du mich jetzt etwa für etwas, dass ich vor — was? — vor mehr als 2000 Jahren verbockt habe?«

Ich warte darauf, dass mein Verstand mir Kontra gibt, doch nichts dergleichen geschieht. Ausgerechnet jetzt, da ich mich einmal in der Lage fühle, in die Konfrontation zu gehen und mich mit alldem auseinandersetzen will, ausgerechnet jetzt, kommt kein Kommentar! Typisch!

Ich atme einmal tief durch. Jedenfalls mache ich diese Bewegung und mein Brustkorb hebt und senkt sich. Das Buch fällt dadurch fast auf den Boden, wodurch der Gecko fluchtartig über meine Schulter das Weite sucht.

Kettenreaktion, denke ich.

Kettenreaktion geht aber nur mit Schwerkraft. Und nur feste Materie hat der Schwerkraft zu gehorchen, außer es handelt sich um feste Materie mit Flügeln. Egal ob Flugzeug oder Vogel.

Ob Engel deshalb Flügel haben, weil selbst im Jenseits die Gesetze der Schwerkraft gelten?

Da mein Verstand sich in Schweigen hüllt, kehren meine Gedanken zurück ins Leben, dass ich als reicher Sultan führte. Ja, diese Formulierung trifft es ganz genau: Meine Gedanken kehren zurück „ins“ Leben und nicht „zum“ Leben. Die richtigen Formulierungen sind jetzt besonders wichtig. Alles wird eruiert und seziert, nicht nur die Schwerkraft!

Auf einmal werden mir viele Einzelheiten bewusst, die im Traum gar nicht auftauchten. Es ist wie bei einem 1000-teiligen Puzzle: Zwar erkennt man das Motiv, selbst wenn noch einige Teilchen fehlen, aber für das komplette Bild, bis ins kleine Detail, braucht man alle 1000 Stücke!

Ein Puzzleteilchen, das sich jetzt noch einfügt, beinhaltet beispielsweise die Information, dass ich als einziger Sohn eines mächtigen persischen Sultans geboren wurde. Mein Vater hatte mich schon früh immer zu einem Mausoleum mitgenommen, das als Grabmal für einen persischen König diente. Als Kind verbrachte ich dann endlose Stunden in diesen klammen düsteren Wänden auf den Knien und im Gebet zu den Göttern. Das Gebäude war kalt und muffig und ich dachte immer, wenn es doch nur mehr Öffnungen gäbe, durch die Licht und Sonne hinein kämen.

So entstand meine Vision. Während die anderen um mich herum beteten, drifteten meine Gedanken ab und ich erschuf das Sonnenhaus. Dann lernte ich die Kunst der Architektur und traf meinen späteren Adjutanten, den ich für meine Idee begeistern konnte. Wir wurden unzertrennlich und entwarfen zusammen mehrere persische Tempel: quadratische, fenster- und seelenlose Kuppelbauten.

Doch all unsere Pläne bezüglich des Sonnenhauses scheiterten. Jeder Konstruktionsversuch stürzte in sich zusammen. Aus Frust darüber wandte ich mich stattdessen den schönen und leichten Dingen des Lebens zu und fing an, meinen Adjutant für seinen Eifer zu verachten. Ich verspottete seinen Fleiß und seine Kreativität und hielt ihm vor, beides zermürbe ihn, weshalb er auch immer so ausgemergelt und kränklich aussähe. Ich hingegen war ein stattlich anzusehender Mann, der vor Kraft und Gesundheit strotzte! Das dachte ich zumindest.

Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass ich vor ihm sterben würde. Ich dachte immer, ich hätte noch Zeit. Zeit, um meiner Vision neues Leben einzuhauchen. Stattdessen hauchte ich das meine aus.


Ein weiteres Puzzleteilchen schwebt durch meine Gedanken und findet seinen Platz: Der Adjutant und Singh hatten ein und dieselbe Seele beherbergt. Gleichzeitig spüre ich, dass ich diese Seele schon seit Ewigkeiten kenne und wir uns im Laufe unserer Inkarnationen immer wieder begegneten.

Ob es so etwas wie eine Seelenfamilie tatsächlich gibt? Ob Singhs Seele und meine derselben Seelenfamilie angehören? Wer noch könnte dazugehören? Warum weiß ich das nicht?

Ich lausche in mich selbst, doch bleibe mir die Antwort schuldig und auch mein Verstand sagt nichts.

Hatte ich in meiner Inkarnation als persischer Architekt versagt, weil ich das Sonnenhaus nie baute? War es das Ziel dieses Lebens, ein solches Bauwerk zu errichten? Wäre es mir, mit dem damaligen Wissen und den damaligen Mitteln, überhaupt möglich gewesen, ein solches „Hochhaus“ zu bauen? War es meinem Adjutanten nach meinem Tod doch gelungen?

Wahrscheinlich nicht, denn davon hätte die Menschheit auch noch zur Zeit meiner letzten Inkarnation gesprochen. Genau wie die Pyramiden oder die Hängenden Gärten wäre ein solches Bauwerk wohl in der Liste der Weltwunder zu finden gewesen. Dann hätte es statt sieben Weltwundern acht gegeben!

Was hatte der Reinkarnationstherapeut damals über Karma gesagt?

Hatte ich schlechtes Karma auf mich geladen, als ich mich als persischer Architekt dem Laster hingab? Gibt es überhaupt so etwas wie schlechtes Karma? Gibt es überhaupt so etwas wie Karma? Und wenn ja, gibt es dafür auch so etwas wie eine Verjährungsfrist?

Wenn es mir als frühzeitlicher Architekt, von den Mitteln und dem Wissensstandpunkt her, gar nicht möglich gewesen war, das Sonnenhaus zu bauen — was wäre dann meine Lebensaufgabe gewesen? Und wieso träume ich ausgerechnet jetzt von dieser Inkarnation? Wieso davon, obwohl sie doch schon so unglaublich lang zurücklag? Wieso nicht von einer anderen, Zeitgemäßeren?

Ich habe so eine Ahnung, dass da noch mehr Erinnerungen an frühere Inkarnationen auf mich warten. Noch mehr 1000-teilige Puzzles, die es zusammenzusetzen galt.

Musste oder konnte ich so lange hierbleiben, bis ich all diese Leben erneut in meinen Träumen hatte Revue passieren lassen und jedes einzelne Puzzleteilchen wieder an seinem Platz war? Wie viele Inkarnationen ich wohl schon gelebt hatte?

Ich wünschte, mein Verstand hätte jetzt mal eine brauchbare Antwort parat.

»Schön, dass du anfängst, dich wenigstens mit dir auseinanderzusetzen«, meldet er sich tatsächlich.

Was er sagt, macht mich stutzig und ich frage: »Wieso sagst du, „wenigstens mit dir“? Womit soll ich mich denn noch auseinandersetzen? Ist außer mir etwa noch jemand hier?«


Ich lasse es wieder hell werden und flüchte mich erneut in die für mich so reale Welt des Bestsellers. Ach, wie herrlich vertraut kommt mir das alles vor. So zum Greifen nahe. So lebensecht und wirklich! In dem Roman wird gegessen und getrunken, man liebte sich und man hasste sich, man redete. Plötzlich fehlt mir die Gesellschaft eines Wesens aus Fleisch und Blut.

»Aus Fleisch und Blut, zumindest im übertragenen Sinn«, sage ich zu mir selbst.

Bin ich hier wirklich ganz alleine?

Leider hatte mein Verstand darauf mal wieder nicht geantwortet. Und was meinte er mit „wenigstens mit dir“? Will ich überhaupt Gesellschaft? Und wenn ja, von wem?

Irgendwie ist das immer noch sehr, sehr anstrengend für mich. So genau will ich mich nicht damit beschäftigen. Vielleicht später. Im Moment hätte ich lieber etwas Ablenkung. Etwas das mich auf andere, leichtere Gedanken bringt.

Genauso hast du dich als persischer Architekt auch verhalten!

Zuerst rede ich mir ein, mein Verstand sei die Quelle dieser Behauptung — doch wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, diesen Satz selbst gedacht zu haben. Trotzdem, heute will ich noch davonlaufen und mich auf nichts weiter einlassen, als vielleicht darauf, etwas zu essen. Nicht, dass ich Hunger hätte. Aber da ist schon so etwas wie Appetit auf was Leckeres! Morgen, ja morgen werde ich anfangen, mich mit dem „Sinn des Lebens“ auseinanderzusetzen.

»Hier gibt es kein Heute, kein Morgen und auch kein Gestern. Hier gibt es nur Raum, keine Zeit«, orakelt mein Verstand.

Plötzlich meldet er sich wieder zu Wort!

Warum tut er das nur, wenn er will und nicht auch dann, wenn ich ihn brauche? Wieso führt mein Verstand hier so ein penetrantes Eigenleben?

Zugegeben, auch zu Lebzeiten — oder sollte ich besser sagen, „zu Inkarnationszeiten“ — hatten mein Verstand und ich schon so einige Reibereien. Wie es sich für einen gesunden Verstand wohl gehört, war er ein eher nüchterner Charakter ohne viel Phantasie, dafür aber mit umso mehr Logik gewesen. Ich dagegen war eine Bauchmenschin, die sich lieber auf ihre Intuition verlies, egal wie unlogisch oder gar fatal dies erschien. Aber auch das war nicht immer so gewesen… .

Ist es das, was mein Verstand mit „wenigstens mit dir“ gemeint hat? Geht es darum, dass ich mich auch mit „ihm“ auseinandersetze? Oder mit „uns“ — ihm und mir? Aber ist das letztendlich nicht ein und dasselbe? Sind mein Verstand und ich nicht „eins“?

Obwohl ich weiß, dass er jeden einzelnen meiner Gedanken hört, erwidert er nichts.

»Wie du willst«, erkläre ich schnippisch, »dann gehe ich jetzt und esse ein Eis. Und ja, ich weiß selbst, dass nur ein biologischer Organismus nach Nahrung verlangt, aber kein Haufen Neutrinos! Trotzdem habe ich einen tierischen Appetit auf einen Becher Ben & Jerry's! Und ich gehe jede Wette mit dir ein, dass sich in der Küche ein Kühlschrank mit Gefrierfach befindet, und ich verwette meine Flip-Flops darauf, dass darin auch ein Becher Eis auf mich wartet!«

Mit diesen Worten springe ich auf und tue so, als könnte ich meinen Verstand einfach am Strand stehen lassen. So als sei er eigenständig und kein Teil von mir.

Aber ist er das wirklich — bloß ein Teil von mir?


Ich weiß genau, wo in der Küche der Kühlschrank steht. Mit Schwung öffne ich das Gefrierfach und voilà, da steht der Becher Ben & Jerry's, noch dazu meine Lieblings-Geschmackrichtung „Chocolate Cherry Garcia“!

Mit einem Löffel bewaffnet plumpse ich auf einen der Hocker am Küchenfenster, reiße den Deckel ab und probiere das Eis. Natürlich weiß ich genau, wie dieses Eis schmecken muss. In meiner letzten Inkarnation habe ich mindestens tausend Becher davon verdrückt! Trotzdem komme ich mir wie ein Pantomime vor. Genau wie alles andere hier besteht nämlich auch das Eis aus Molekülen und die schmecken nach gar nichts. Ich hätte mir auch ein Käsesoufflé oder eine Currywurst mit Pommes wünschen und kreieren können. Ja wahrscheinlich könnte ich sogar das Strandhaus in das Sonnenhaus verwandeln, welches ich als persischer Architekt nie gebaut hatte!

Hier ist es wunderschön, aber nur, weil ich es mir in meinem letzten Leben und vor meinem Tod so gewünscht habe: So hatte ich mir in meiner letzten Inkarnation das Paradies vorgestellt oder zumindest den Ort, an den ich gehen wollte, nachdem meine menschliche Hülle gestorben war.

Durch das Küchenfenster sehe ich den Strand und die Sonnenliege. Ich bilde mir ein, meinen Verstand zu sehen, wie er immer noch vor der Liege steht. Komischerweise sieht er aus wie eine männliche Statue, aus Stein gemeißelt. Dann fällt mein Blick auf das Buch.

Warum fühlt sich lesen hier genauso real an wie früher, als ich noch einen Körper aus Fleisch und Blut hatte, und essen so — so nachgemacht?

»Weil du nicht mehr fühlen kannst, und damit kannst du auch nicht mehr schmecken. Du spürst das Eis in deinem Mund, weil du weißt, wie sich Eis in einem Mund anfühlt, und du kennst seinen Geschmack. Hingegen ist Lesen etwas, dass sich bloß in Gedanken abspielt und dabei geht es um Gefühle und nicht um fühlen.«

So viel dazu, dass mein Verstand immer noch vor der Liege steht, denke ich und antworte: »Aber ich höre doch auch das Rauschen des Meeres und spüre die Wärme der Sonne. Sind das alles denn nur Erinnerungen?«

Ich spüre, dass mein Verstand zustimmend nickt.

»Ja. Und hier ist alles genauso, wie du es haben wolltest. Allerdings unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es keine feste Materie gibt. Jedenfalls nicht so wie auf der Erde. Alles, was du dir hier erschaffen hast, besteht aus Molekülen: das Eis, das Strandhaus und die Palmen. Ja sogar das Meer, der Himmel und dein menschliches Erscheinungsbild. Deshalb wirft auch nichts einen Schatten. Nur feste Materie kann das.«

Ich denke kurz darüber nach.

»Aber hast du nicht auch gesagt, dass ich, wie waren noch gleich deine Worte… aus blutleeren Neutrinos bestünde? Selbst ein Neutrino hat aber noch eine gewisse Menge an Gewicht — oder an nachweisbarer fester Masse!«

Mein Verstand nickt erneut.

»Ja, aber das ist nicht das, was dich jetzt beschäftigen sollte. Denn du hast immer noch keinen blassen Schimmer davon, warum du überhaupt hier bist.«

»Also gut, dann sag mir doch einfach, warum ich hier bin. Vielleicht kann ich den Wald ja tatsächlich vor lauter Bäumen nicht sehen. Oder sollte ich besser sagen, „können wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen!“«

Jetzt spüre ich, wie mein Verstand schmunzelt und dabei habe ich wieder das Bild von einer Statue vor Augen. Na, wenn das nicht paradox ist: eine Statue, die ihr Gesicht zu einem Schmunzeln verzieht! Und weil das noch nicht reicht, öffnet sie ihren Mund, der unter einem lockigen Vollbart verborgen ist, und sagt: »Dass du den Wald nicht siehst, ist gar nicht so schlimm. Aber dass du nicht hörst, dass deine Gedanken inzwischen eine Stimme haben, wundert mich schon!«

Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten

Подняться наверх