Читать книгу Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten - Kristine Weitzels - Страница 11

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Kapitel 6

Die Philosophie bietet mir einen Hafen,

während ich andere mit den Stürmen kämpfen sehe.

Platón


Ich bin wieder ein Mann.

Seltsam, in meiner letzten Inkarnation war ich eine Frau und hatte mich als solche auch sehr wohl gefühlt. Auch hier im Jenseits, in meinem selbsterschaffenen Paradies, habe ich eine weibliche Gestalt. Zuerst denke ich sogar, ich sei jetzt der goldene Mann! Wenn ich an mir herunterblicke, sehe ich jedenfalls Knickerbocker und Stiefel aus braunem Leder. Und wenn ich aufblicke, sehe ich Afrika.

Ich weiß nicht, woher ich weiß, dass es Afrika ist und nicht zum Beispiel Australien. Irgendetwas sagt mir: Das ist Afrika! Und irgendetwas sagt mir: Ich kenne diesen Mann! Nicht, weil ich einmal er war, sondern weil ich ihn von einem Bild kenne — einer sehr alten Aufnahme, um genau zu sein. Aber ganz sicher bin ich mir noch nicht. Dafür müsste ich seine, ich meine, meine Hände sehen und ob er einen Siegelring trägt. Doch im Moment höre ich mich nur lachen. Das Lachen ist sehr sympathisch. Obwohl es sehr selbstbewusst klingt, hat es nichts Überhebliches. Jemand mit einem solchen Lachen kann Berge versetzen.

Ich stehe breitbeinig in einer Savanne, die Hände in den Hüften. Ein Tropenhut schützt meinen Kopf vor der gleißenden Sonne. Links am Gürtel trage ich eine Pistole. Der Grund für mein Lachen ist eine Gruppe Erdhörnchen. Diese putzigen kleinen Geschöpfe, hin- und hergerissen, zwischen ihrer krankhaften Neugier und der Furcht, dass eben diese Neugier ihnen irgendwann zum Verhängnis werden könnte. Die Erdhörnchen und ich haben definitiv etwas gemeinsam.

Ich bin Arzt und deutscher Offizier. Im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland bereise ich DeutschOstafrika. Oder besser gesagt, bereisen wir Deutsch-Ostafrika. Ich bin Teil einer Expedition. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, die Kolonisierung voranzutreiben. Aber wenn wir ehrlich sind: Das, was uns wirklich reizt ist die Großwildjagd! Deshalb sind wir auch heute hier draußen. Wir alle wollen einen Elefanten erlegen. Wir alle, das sind außer mir noch vier andere Expeditionsteilnehmer. Drei sind ebenfalls Offiziere des deutschen Kaiserreichs, einer ist ein deutscher Geschäftsmann und in meinen Augen ein Abenteurer. Doch ausgerechnet mit ihm verstehe ich mich am besten.

Unsere Träger und Späher, allesamt Angehörige der Khoikhoi, sind genauso unruhig wie die Erdhörnchen. Ihr Fetisch hat ihnen gesagt, heute sei kein guter Tag zum Jagen. Die Khoikhoi sind äußerst abergläubisch. Auch unsere Jagdhunde, die sogenannten Ridged Khoikhoi Dogs, sind nervös. Ich mag diese Hunde. Es sind sehr große, schöne und mutige Tiere. Ihr Fell und ihre Augen sind bernsteinfarben und wenn sie sich an eine Löwin heranschleichen, verschmelzen sie komplett mit ihrer Umgebung. Ähnlich wie die Löwinnen selbst.

Die einzige Überlebenschance eines Ridgebacks besteht darin, schneller zu sein als das Raubtier. Nur wenn der Ridge es hinter die Linie der Jäger schafft, ist er in Sicherheit. So treibt er die Beute genau vor die Gewehre der Jäger. Dabei hat schon so mancher Großwildjäger im Übereifer oder schlichtweg aus Panik einen Hund erschossen. Auch einem unserer Expeditionsteilnehmer ist das vor ein paar Wochen passiert. Eine Hündin. Ich verachte ihn dafür. Die Weibchen sind viel mutiger als die Rüden und obwohl sie etwas kleiner und nicht ganz so schnell sind, haben sie doch wesentlich höhere Überlebenschancen. Die weiblichen Ridgebacks sind einfach cleverer.

Aber ich interessiere mich nicht nur für die Hunde der Khoikhoi. Auch dieses Volk selbst, ihre Sprache, ihre Kultur, ja sogar ihr Essen und vor allen Dingen ihre Medizin interessieren mich. Wenn ich ehrlich bin, interessieren mich die Khoikhoi mehr als die ganze Jagerei und Kartografiererei!

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Nachts fallen die Temperaturen bis zum Gefrierpunkt. Den ganzen Tag über bläst dagegen ein heißer kräftiger Wind, der den anderen Expeditionsteilnehmern immer wieder aufs Neue migräneartige Kopfschmerzen beschert. Ich begleite diese Expedition zwar auch als Arzt, aber gegen diese Art von Beschwerden habe selbst ich kein Mittel. Einer meiner Offizierskammeraden leidet zusätzlich an der Ruhr und der Missionar hat ganz offensichtlich Malaria. Nur ich bin, abgesehen von meiner sporadisch auftretenden Melancholie, immer noch kerngesund.

Unter dieser immer wiederkehrenden Schwermut, einhergehend mit dem Gefühl starker Erschöpfung und zugleich immensen Rastlosigkeit, leide ich allerdings schon mein ganzes erwachsenes Leben lang. Deshalb denke ich nicht, dass es sich jetzt dabei um ein Symptom der Afrika-Krankheit handelt. Irgendwie hatte ich gehofft, dass meine Melancholie hier verschwinden würde, zumal ich mich in Afrika sehr glücklich fühle. Und doch war dieses vermaledeite Gefühl heute Morgen, plötzlich und ohne Vorwarnung, wieder da. Schon das Aufstehen kostete mich enorm viel Kraft, genauso wie die Bemühungen mir nichts anmerken zu lassen. Nach zwei oder drei Tagen ist der Spuk für gewöhnlich wieder vorbei. Manchmal frage ich mich jedoch, ob das nicht die Vorboten einer schweren Geisteskrankheit sind.

Obwohl dies mein erster Aufenthalt in Afrika ist, kommt mir das Land doch sonderbar vertraut vor. Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber immer wieder beschleicht mich das Gefühl eines Déjàvus.

Unser Lager befindet sich ganz in der Nähe eines Khoikhoi Dorfes. Von hier stammen auch einige der Träger. Sie sind zuverlässig und ich sehe sie, im Gegensatz zu den anderen Expeditionsteilnehmern, auch nicht als primitive Wilde. Ganz im Gegenteil! Ihr Medizinmann bereitet aus der afrikanischen Teufelskralle ein Pulver, das den Durchfall und die Magenkrämpfe meines an der Ruhr erkrankten Kameraden gestoppt hat. Er hat sogar ein Mittel gegen Malaria, doch der bigotte Missionar weigert sich beharrlich, es zu nehmen. Stattdessen bezeichnet er es als kannibalistisches Teufelszeug.

Es ranken sich viele Geschichten und Gerüchte um die Stämme im Inneren Afrikas. Aber wenn ich eines weiß, dann, dass die Khoikhoi keine Kannibalen sind. Doch wenn ich so darüber nachdenke, waren wir alle sehr naiv, was diese Reise betraf.

Erst jetzt merke ich, dass ich all das in mein Tagebuch geschrieben habe. Auf einem Feldbett sitzend, schreibe ich diese Gedanken mit einem Füllfederhalter, der schrecklich über das Papier kratzt, in das große Buch. Ein Fläschchen mit Tinte steht auf dem schmalen Klapptisch, der mein Feldbett von dem meines Mitbewohners trennt. Das Buch ist dick und schon fast voll. Ich blättere zurück zum ersten Eintrag. Er handelt von der Einschiffung in Hamburg vor mehr als einem Jahr.

Obwohl diese Expedition von Anfang an unter einem schlechten Stern stand, habe ich alles getan, um das Vorhaben durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass man mich auf die Liste der Teilnehmer setzt. Viel Lobbyarbeit war notwendig, um die nötigen Gelder für die Reise bewilligt zu bekommen. Etwas das mir zugegebenermaßen nicht sonderlich schwergefallen ist. Man sagt über mich, ich hätte so etwas wie Charisma. Charme ist etwas, das auf Frauen wirkt. Charisma wirkt auf Frauen und Männer gleichermaßen.

Dann kamen die Stürme auf See und der anschließende beschwerliche Weg ins Landesinnere. Ich erinnere mich, wie schwierig es war, genügend Träger zu organisieren und das viele von ihnen sich als sehr unzuverlässig erwiesen. Wir hatten Unmengen von Gepäck dabei. Nicht nur unsere Ausrüstungen, sondern auch viele Geschenke für die Häuptlinge und natürlich Waren, um die Träger zu bezahlen. Mit billigen bunten Glasperlen kommt man in Afrika immer noch weiter als mit einer soliden Deutschen Mark. Leider wiegen Glasperlen wesentlich mehr als Geldscheine!

Mit einem Seufzer schließe ich das Buch zu und verstaue es unter dem Kopfteil der Matratze, in meinem Feldbett. So dient es mir als zusätzliches Kopfkissen und vielleicht ist das ja auch sein eigentlicher Zweck und Nutzen: dass es mir als Kissen dient! Zwar schreibe ich minutiös und gewissenhaft, frage mich aber wofür.

Das Zelt teile ich mir zum Glück mit dem deutschen Geschäftsmann. Nicht auszudenken, wenn es der bigotte Missionar gewesen wäre. Im Herzen bin ich ebenfalls ein Abenteurer und deshalb wollte ich bei dieser Expedition auch unbedingt dabei sein. Offizier bin ich nur aus Familientradition geworden. Genauso wie es Familientradition ist, zu heiraten und Familie zu gründen.

Wie immer wenn ich nachdenke, drehe ich gedankenverloren an meinem golden Siegelring mit den Initialen RR. Dann holt mich plötzlich wieder diese Leere ein. Ich fühle mich matt und niedergeschlagen, sinke zurück auf mein Bett und falle in einen unruhigen Schlaf. Ich träume wieder diesen Traum, den ich auch auf der Überfahrt schon hatte. Darin bin ich ebenfalls auf einem Schiff, allerdings hat man mich im Laderaum eingesperrt. Ich erlebe Todesangst und der Gestank, der mich umgibt, ist fürchterlich.

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Ich trage wieder Uniform. Herrgott, wie ich sie hasse. Sie ist unbequem und ich vermisse mein einfaches weißes Baumwollhemd und die alten Knickerbocker. Drei Jahre war ich in Deutsch-Ostafrika und ich will nur eins: zurück! Doch meine Vorgesetzten haben andere Pläne. Sie wollen, dass Afrika deutsch wird. Überall werden gerade riesige Ländereien an deutsche Siedler verpachtet und es sollen noch mehr werden. Und dazu braucht man mich, oder besser gesagt, mein Charisma.

Ich bin derjenige, der die Lobbyarbeit macht. Ich bin derjenige, der deutsche Bauern von der Herrlichkeit des schwarzen Kontinentes überzeugt. Und natürlich kein Wort über die sengende Hitze, über die Unmengen von Fliegen, Moskitos, Ameisen und Sandflöhe. Kein Wort über fehlendes Trinkwasser, Krankheiten und aufständische Eingeborene, die sich um ihren Lebensraum betrogen fühlen, und das nicht nur von weißen Siedlern. Nein, auch unter den Stämmen gibt es immer wieder Kriege. Aber wer misstraut schon einem Arzt und Offizier? Noch dazu, wenn er in Uniform so blendend aussieht wie ich! Wenn alle Stricke reißen, lache ich und überzeuge so selbst die größten Skeptiker. Nur meine Vorgesetzten kann ich nicht überzeugen. Zu wichtig bin ich ihnen hier, als dass sie mich wieder zurückschicken würden. Niemand hat mehr Familien überzeugen können, nach Deutsch-Ostafrika auszuwandern als ich. Familien mit Kleinkindern, die hier alles aufgegeben haben — nur aufgrund meines Charismas und meines Lachens. Manchmal verabscheue ich mich selbst.

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Seit meiner ersten Ankunft in Afrika sind fast 20 Jahre vergangen. Endlich trage ich wieder ein weißes Hemd, Knickerbocker, Stiefel und einen Tropenhut und atme auf. Ich bin wieder zu Hause, so seltsam das auch klingen mag. Meine Zeit als Offizier ist vorbei und auch wenn es meinen Vorgesetzten nicht gefallen hat, haben sie doch mein Abschiedsgesuch unterzeichnet. Ich besitze jetzt eine für afrikanische Verhältnisse eher kleine Farm nahe Windhoek. Das Land hatte ich schon vor vielen Jahren gekauft. Es gehört zur Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Nach DeutschOstafrika wollte ich nicht zurückkehren, um nicht Gefahr zu laufen, Siedlern zu begegnen, die sich durch mein Charisma ins Verderben stürzten!

Und ich habe eine Frau. Sie ist Khoikhoi. Ihre Leute sagen, sie sei erleuchtet worden. Ich weiß allerdings nicht genau, was sie damit meinen. Außer vielleicht, dass meine Frau besonders reflektiert und ausgeglichen ist. Angeblich war sie aber nicht immer so und früher galt sie sogar als wirr.

Ich bin zufrieden und so glücklich, wie ich nur sein kann. Zwar leide ich immer noch unter den sporadisch auftretenden Anfällen von Melancholie, aber jetzt brauche ich mich wenigstens nicht mehr zu verstellen. Meine Frau weiß darüber Bescheid. Der Medizinmann ihres Stammes ist überzeugt, dass meine Seele die Ursache, für den Schwermut und die rastlose Erschöpfung ist. Er hat dafür seinen Fetisch befragt und mir erklärt, meine Seele habe nicht genug Kraft, weil ein anderer Körper diese Kraft innehätte. Und erst wenn dieser andere Körper sterben würde, könnte er die Geister bitten, mir mehr Seelenkraft zukommen zu lassen.

Ich halte viel von den Naturheilverfahren der Khoikhoi, allerdings ist ihr Glaube für mich manchmal ein wenig zu abartig. So glaubt meine Frau daran, dass ihr Körper ein geistiges Wesen beherbergt, mit dem sie in einer Art Symbiose lebt. Vielleicht sind die Missionare in Afrika ja deshalb so erfolgreich! Sie haben den Geistwesen der Khoikhoi einfach einen Namen gegeben: Heiliger Geist.

Vieles hat sich seit meiner ersten Ankunft hier verändert. Man könnte sagen, die Zivilisation hat Afrika erreicht. Und es herrscht Krieg. Krieg zwischen zwei Völkergruppen. Die deutschen Soldaten, die zum Schutz der Siedler hier stationiert sind, sind überfordert. Ich blicke gerade in das Gesicht von einem ihrer Oberbefehlshaber. Er will, dass ich mich der deutschen Schutztruppe anschließe. Während ich nachdenke, drehe ich wieder an meinem Siegelring. Obwohl ich Offizier war, habe ich nie in einem Krieg gekämpft. Aber es fehlt auch ärztliches Personal für die vielen Verwundeten.

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Ich sehe, wie meine Feder über das Papier meines Tagebuchs kratzt. Endlich ist der Krieg vorbei. Es war schlimm. Meine Frau ist bei den Überfällen ums Leben gekommen. Wir Deutschen haben uns mit einem der beiden sich bekriegenden Stämme zusammengetan und gemeinsam den anderen so gut wie ausgerottet. Nichts worauf man stolz sein könnte. Ich habe die letzten drei Jahre in Feldlazaretten verbracht, war aber auch in Kriegshandlungen verstrickt. Ich habe Leben gerettet und Leben genommen. Endlich ist der Krieg vorbei! Das kann ich nicht oft genug wiederholen. Doch zu welchem Preis? Die Deutschen sind trotz vieler Verluste eindeutig die Sieger und die verbleibenden Afrikaner werden jetzt noch mehr unterdrückt als vorher. Der Wiederaufbau hat bereits begonnen. Nur ich fange nicht an, meine Farm zu richten.

Ich fühle mich ausgelaugt und depressiv, meine Melancholie dauert nun schon über zwei Monate. Deshalb wohne ich in der Stadt, in einem Zimmer des sogenannten Gentlemen‘s Club. Tony, der Eigentümer, ist Amerikaner. Er hat aus seiner Heimatstadt Chicago eine kleine Skulptur mitgebracht. Sie heißt „Die Antonyme des Denkers“ und stammt von einer Chicagoer Bildhauerin. Die Skulptur zeigt eine nackte Frau in der berühmten Pose des Denkers. Laut Tony ist die Figur wie geschaffen für einen Gentlemen‘s Club, in dem Frauen keinen Zutritt haben. Wir alle mögen sie. Meine Khoikhoi-Frau hätte gesagt, sie hat eine gute Aura.

Ich sitze an der Theke und trinke meinen Whiskey. Dabei proste ich der Antonyme des Denkers zu. Sie steht auf einem runden Tischchen in der Mitte des Clubraumes. Kaum jemand kennt dieses Land so gut wie ich. Ich helfe beim Wiederaufbau, indem ich meine Kontakte spielen lasse. Irgendjemand braucht immer irgendetwas und ich weiß, wo es zu bekommen ist. Der Tauschhandel blüht.

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Dies wird mein letztes Abenteuer werden. Man hat Edelsteine gefunden und ich beteilige mich am sogenannten Diamantenrausch, der nun Deutsch-Südwestafrika heimsucht. Meine Farm habe ich verpachtet. Ich lebe wieder in einem Zelt, draußen bei den Minen, trage ein luftiges Baumwollhemd und meine alten Knickerbocker. So fühle ich mich wohl. Wenn mich meine Melancholie übermannt, bleibe ich einfach ein paar Tage im Bett. Ganz in der Nähe gibt es eine Kolonie Erdmännchen. Mehrmals in der Woche gehe ich hin und schaue ihnen zu. Oft nehme ich mein Tagebuch mit und mittlerweile haben sie ihre Scheu vor mir schon fast verloren. Neugierig beobachten sie, wie ich schreibe und die Feder dabei über das Papier kratzt. Was das angeht, bin ich sehr altmodisch. Nie im Leben würde ich einen Bleistift benutzen. Wie so oft drehe ich an meinem Siegelring und überlege, was ich mit meinen Aufzeichnungen machen könnte. Sie enthalten so viel Wissenswertes über Afrika. Sie nur als Kopfkissen zu benutzen, wäre fast eine Sünde.

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Der Diamantenrausch hat mich zu einem reichen Mann gemacht. Trotzdem lebe ich wieder auf meiner kleinen Farm, obwohl ich auch immer noch mein Zimmer im Gentlemen‘s Club besitze. Tony hat den Club mittlerweile verkauft, aber die Antonyme des Denkers ist immer noch dort. Dennoch bevorzuge ich die Einfachheit der Farm, denn hier draußen legt niemand Wert auf Etikette, auch meine neue Frau nicht. Ihr erster Mann, der Farmer, dem ich mein Land verpachtet hatte, ist plötzlich gestorben. Sie blieb mit zwei Mädchen zurück. Eins führte zum anderen und jetzt ist sie meine Frau, obwohl sie viel jünger ist als ich. Aber ich habe immer noch Charisma.

Wenn mich mal wieder meine Melancholie heimsucht, gebe ich vor, ein paar Tage in der Stadt zu tun zu haben, und schließe mich in meinem Zimmer im Club ein. Sobald es etwas besser geht, gehe ich in die Bar, bestelle meinen Whiskey und proste der Antonyme des Denkers zu.

Einige meiner Tagebücher habe ich nach Deutschland zu einem Verlag geschickt. Heute kam endlich Post von dort. Man möchte meine Aufzeichnungen als Buch veröffentlichen. Weil ich nicht gewillt bin, nach Deutschland zu reisen, wird ein Verlagsangestellter in Kürze hier eintreffen.

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Ich halte mein Buch in den Händen. Halb ist es ein Erfahrungsbericht geworden, halb ein Abenteuerroman. Jedenfalls wird die Lektüre jedem zukünftigen Sieder das Leben in Afrika ungemein erleichtern. Wer es gelesen hat, wird wissen, worauf er sich einlässt. Der Sendung Bücher liegt ein Scheck bei, sowie ein Brief des Verlegers. Er bittet mich inständig, nach Deutschland zurückzukommen. Auch hier gibt es Gerüchte über einen neuen Krieg. Einen Krieg, der diesmal die ganze Welt betreffen wird — falls es wirklich dazu kommt! Irgendwie kann ich das nicht glauben und schiebe den Gedanken weit von mir. Allerdings schicke ich den Scheck zurück nach Deutschland, zusammen mit meinem goldenen Siegelring.

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Ich bin krank. Es geht mir sehr schlecht. Ich weiß, dass ich bald sterbe. Gott sei Dank! Ich befinde mich in einem Internierungslager. Der Erste Weltkrieg ist wie ein riesiger, alles vernichtender Sandsturm über uns hinweg gefegt. Meine Frau und ihre beiden Töchter haben den Angriff afrikanischer Truppen, die im Auftrag Englands Deutsch-Südwestafrika angegriffen haben, nicht überlebt. Ich habe immer noch das Bild vor Augen, wie sie zuerst vergewaltigt werden und man ihnen dann, bei lebendigem Leibe, das Herz aus der Brust schneidet und es aufisst! Der Kannibalismus lebt, auch wenn ich das nie wahrhaben wollte.

Vielleicht lebe ich nur noch, weil ich Offizier bin. Die englischen Besatzer versprechen sich jedenfalls wichtige Informationen von mir. Doch die werden sie nicht bekommen. Die letzten Monate erlebte ich wie in Trance, die Melancholie ist nun allgegenwärtig. Zum ersten Mal heiße ich sie jedoch willkommen. Mein schweres Gemüt verhindert, dass ich die Geschehnisse bewusst miterlebe. Alles ist wie in Watte gepackt, selbst die Stimmen der Engländer, die mich immer wieder verhören. Das Einzige, was ich vermisse, ist mein Siegelring. Gedankenverloren greife ich immer zu dem jetzt leeren Finger und drehe daran. Irgendwie habe ich das Gefühl, meine Hände und Arme verselbstständigten sich dabei. Vielleicht liegt es am Hunger, oder an dem, was ich mir selbst angetan habe. Dann denke ich an die Antonyme des Denkers und finde darin Trost.

Ich habe mehrmals Metallsplitter und Rattenkot gegessen, um mich selbst zu töten. Auch dabei hat mir mein Schwermut geholfen. Letztlich war er also doch für etwas gut! Ich erinnere mich wieder daran, was der Medizinmann der Khoikhoi darüber sagte: Dass meine Seele nicht genug Kraft habe, weil ein anderer Körper sie innehätte. Und erst wenn dieser andere Körper sterben würde, könnte man die Geister bitten, mir mehr Seelenkraft zu geben. Heißt das, wenn ich jetzt sterbe und dieser andere Körper noch lebt, er meine Seelenkraft bekommt? Von mir aus sei es so. Ich merke, wie meine Sinne schwinden. Ich weiß, es wird kein angenehmer Tod, aber ich will einfach nicht mehr.

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Der Tod, er kommt jetzt unaufhaltsam näher. Vor meinem inneren Auge zieht mein Leben noch einmal vorüber. So war es auch, wenn ich geschrieben habe: Während des Schreibens erlebte ich alles noch einmal, auch die schlimmen Dinge. Trotzdem war ich beim Schreiben immer glücklich und zufrieden. Ich wünschte, ich hätte mehr geschrieben. Viele Eingeborene, so auch die Khoikhoi, glauben, dass die Geistwesen, die ihre Körper beherbergen, wiederkommen — und damit auch ein Teil von ihnen selbst. Wie hatte meine Khoikhoi Frau immer gesagt? Nur für ein selbstgefälliges Wesen, ohne eigene Persönlichkeit und ohne Phantasie, endet das Leben tatsächlich mit dem Tod!

Sollte mein Geistwesen je wiederkommen, und damit auch ein Teil von mir, möchte ich wieder schreiben. Ich möchte mich wieder so glücklich und zufrieden fühlen, wie ich es nur beim Scheiben war, aber ohne diese schreckliche Melancholie! Und ich möchte, dass das, was ich schreibe, eine Bereicherung für andere wird.

Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten

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