Читать книгу Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten - Kristine Weitzels - Страница 12

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Kapitel 7

Es ist gut,

über Dinge klar nachzudenken.

Platón


Mit einem Schrei auf den Lippen schrecke ich aus meinem Traum auf. Dieses Ende war wirklich alles andere als angenehm! Und ich frage mich, was das soll? Warum die alten Geschichten wieder aufwärmen? Ist das etwa nach jeder Inkarnation so? Wozu das alles?

Irgendwie bin ich auch verärgert. Doch ich merke, dass der Charakter, dieses deutschen Offiziers und meiner heute sich schon ähneln. Als Boy war ich noch sehr naiv, obgleich auch schon sehr neugierig. Auch meine Freiheitsliebe und der Drang, die Welt zu bereisen, waren wohl schon immer vorhanden. Als Offizier hatte ich nur schon mehr Lebenserfahrung, oder sollte ich sagen: Inkarnationserfahrung? Als persischer Architekt war ich zudem sehr selbstgefällig und egoistisch. Oder sollte ich sagen: War ich noch sehr selbstgefällig und egoistisch? Keine Ahnung! Wo ist übriges mein Verstand, wenn man ihn mal braucht?

Ich analysiere weiter. Die Inkarnation als Architekt lag mit Abstand am weitesten zurück. Bedeutete das, ich hatte im Laufe der letzten 2000 Jahre auch so etwas wie einen Läuterungsprozess durchlaufen? Immerhin behaupteten ja auch all die Religionen, die an die Wiedergeburt der Seele glauben, es ginge bei der ganzen Inkarniererei nur darum, dass die Seele an ihren Erfahrungen wächst. Aber, wo bleibt denn da der Spaß?

Ich erinnere mich an das Eis. Unten auf der Erde hatte es einfach besser geschmeckt. Oder nicht besser, aber anders — intensiver! Ja, intensiver trifft es genau. Hier oben ist alles wie Zuckerwatte. Natürlich kann ich das Meer rauschen lassen und natürlich kann ich ein Eis essen, aber letztendlich zehre ich dabei doch nur von meinen Erinnerungen: Ich weiß, wie sich das Meeresrauschen anhört, und ich weiß auch, wie Eis schmeckt. Die Sehnsucht nach einem richtigen Eis erwacht!

»Aha«, grunzt mein Verstand, doch dann herrscht wieder Funkstille.

Sei's drum, denke ich und sinniere weiter über den Sinn des Lebens. Wieder so ein Paradoxon: Sinn des Lebens! Ich weiß ja noch nicht einmal, was Leben überhaupt ist. Das hier oben, auf einer geistigen, nicht-materiellen Ebene, dem sogenannten Jenseits oder das andere, unten auf der Erde, auf einer materiellen Ebene, einem Planet? Oder beides? Oder ist alles bloß wieder Jacke wie Hose?

Ich weiß ja noch nicht einmal, wo genau sich mein selbsterschaffenes Paradies befindet! Mir fällt aber auf, dass ich in Gedanken diesen Ort jetzt immer öfter als „hier oben“ bezeichne. Aber vielleicht ist hier oben in Wirklichkeit auch ganz tief unten oder befindet sich irgendwo dazwischen?

»Die Erde ist bloß eine Ebene. Eine Ebene von vielen. Und so etwas wie Höhenunterschiede, gibt es in der Wirklichkeit nicht«, erklärt mein Verstand.

Diesmal bin ich es, die aha denkt: Aha, der Klugscheißer schon wieder!

Ist doch egal, ob die Erde bloß was von vielen ist. Und die Wirklichkeit? Dass ich nicht lache. Wirklichkeit — was ist das schon? Wahrscheinlich bloß noch so eine Illusion. Und „hier“ bleibt für mich „hier oben“. Höhenunterschiede hin oder her und damit basta! Ich brauche so etwas wie einen Anhaltspunkt, selbst in einem unendlichem Raum — oder gerade dort.

Und auch wenn es hier oben wahrscheinlich unmöglich ist, beziehungsweise gar nicht tragisch, merke ich, dass mir gleich der Schädel platzt!

Ich brauche Ablenkung. Irgendeine Ablenkung, bis dass meine kleinen grauen Zellen wieder abgekühlt sind. Feinstofflichkeit und Neutrinos hin oder her, sie sind kurz vorm Durchglühen.

Wo ist mein Buch?


Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber mit dem Buch bin ich durch. Auf der Erde hätte ich für den Wälzer vielleicht 15 Stunden benötigt. Für diese letzten Seiten nur eine Stunde. Ich weiß, hier oben spielt Zeit keine Rolle, aber ist jetzt auf der Erde trotzdem eine Stunde vergangen? Oder spielt das auch keine Rolle?

Was wieder mal keine Rolle zu spielen scheint, ist meine Frage, denn ich erhalte keine Antwort. Ein Bild taucht vor meinem inneren Auge auf. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild — dass einer alten Schwarz-Weiß-Aufnahme. Es zeigt einen gut aussehenden hochgewachsenen schlanken jungen Mann in weißem Hemd, Knickerbockern und braunen Stiefeln. Rechts und links neben ihm stehen afrikanische Eingeborene. Sie haben sich für die Aufnahme fein gemacht. Woher ich das weiß? Ich weiß es einfach! Die Eingeborenen sind wesentlich kleiner als der Mann mit dem charismatischen Lächeln. Obwohl die Aufnahme schon so alt und vergilbt ist, hat seine Ausstrahlung nichts von der Wirkung eingebüßt. Jemand mit so einem Lachen kann Berge versetzen.

Ich bin der charismatische Mann auf dem Bild und ich bin die Frau, die das Bild in ihren Händen hält. Beide haben wir den goldenen Siegelring mit den Initialen RR getragen. Und diesmal ist es nicht paradox. Dieses Bild habe ich in meiner letzten Inkarnation auf dem Dachboden meiner Großmutter gefunden. Es lag in einer alten Truhe, zusammen mit einem Buch über Afrika. Der Autor trug die Initialen RR und war der Großvater meiner Großmutter.

Mir fällt wieder ein, wie ich gleich zu Anfang meiner Traumreise das starke Gefühl hatte, diesen Mann zu kennen, und unbedingt seine Hände sehen wollte. Die Hände mit dem Siegelring und den Initialen RR!

Wie hatte ich das nur vergessen können?

Und diesmal ist es auch nicht nötig, dass mein Verstand mir auf die Sprünge hilft. Ich kenne die Antwort. Ich kenne die Antwort, weil mir einfällt, was ich als RR verdrängt habe, und ich kenne die Antwort, weil ich rechnen kann. Nicht so gut, wie damals als persischer Architekt, aber hierfür reicht es allemal.

Wie kann es sein, dass ich kein Mathegenie mehr bin, obwohl ich als persischer Architekt einmal eins war? Unwichtig, denke ich.

Als RR hatte ich Familie in Deutschland. Eine eigene Familie! Eine Frau und einen Sohn, der noch ein Säugling war, damals bei meiner ersten Einschiffung in Hamburg zur Reise nach Afrika.

Plötzlich erlebe ich die Vergangenheit als Gegenwart. So ungefähr fühlt es sich auch an, wenn ich hier oben von meinen früheren Inkarnationen träume. Diesen Teil meines Lebens als RR habe ich zu Lebzeiten immer verdrängt und selbst in meinem Traum war es mir hervorragend gelungen, diesen Aspekt vor mir zu verschleiern. Selbstbetrug nennt man so etwas.

Das ärgert mich wieder. Wie kann man etwas vor sich selbst nur so dermaßen verbergen und verdrängen? Es war ja kein traumatisches Erlebnis, das man abgespaltet, damit der Rest der Persönlichkeit überlebt. Natürlich kann man etwas verdrängen, etwas für das man sich schämt — aber deshalb weiß man doch immer noch, was Sache ist, selbst wenn man nichts mehr davon wissen will. Das Wissen bleibt doch, oder? Weiß nicht jeder Angeber, tief in seinem Herzen, dass er bloß ein Angeber ist?

Mir kommt ein Satz in den Sinn, den RR in meinem Traum gesagt hatte: „Ich bin zwar Offizier, aber nur, weil es Familientradition ist. Genauso wie es Familientradition ist, zu heiraten und Familie zu gründen.“

Jetzt weiß ich plötzlich, warum ich so scharf darauf gewesen war, selbst an der Afrikaexpedition teilzunehmen. Es war eine Flucht gewesen. Nicht nur eine Flucht, aber ein Ausweg aus dem unfreiwilligen Leben mit Frau und Kind.

So viel zur Weiterentwicklung oder Läuterung meiner Seele, denke ich sarkastisch.

Wieder habe ich das Gefühl, fehlende Teilchen in ein riesiges Puzzle einzufügen, denn nun erinnere ich mich auch an ein Gespräch mit meiner Frau in Deutschland, nach meinem ersten Afrikaaufenthalt. Scheidung wäre nie eine Option gewesen, nicht bei meiner Herkunft und meinem Stand als Offizier. Aber das war auch nicht wichtig. In Afrika spielte meine deutsche Ehe keine Rolle. In Afrika nahm Mann sich eine Frau, ohne sie heiraten zu müssen. Viele weiße Männer „hielten“ sich eine schwarze Frau. Es war ganz normal und wurde von allen geduldet. Auch Begriffe wie „Schwarze“ oder „Neger“ waren damals kein Tabu, und niemals wäre mir in den Sinn gekommen, ein Rassist zu sein — nur, weil die Ureinwohner Afrikas nicht die gleichen Rechte genossen wie die Kolonialherren.

Für meine Frau und meinen Sohn in Deutschland war jedenfalls gut gesorgt, denn ich war nicht ganz unvermögend gewesen. Später ließ ich ihnen auch noch die Honorare des Buches über meinen Agenten zukommen, ebenso wie meinen Siegelring. Denn obwohl ich mich nie persönlich um meinen Sohn gekümmert hatte, sollte er doch meinen Ring bekommen. Er war mein legitimer Erbe. Und über ihn kam der Ring schließlich auch in den Besitz meiner Großmutter, die dessen Tochter war.

Wieder ein Paradox: Ich war mein eigener Ururgroßvater! Und zumindest in meiner letzten Inkarnation, war ich wieder in seine Herkunftsfamilie hineingeboren. Ich ahne, dass dies kein Zufall ist, zumal ich noch nie an Zufälle glaubte. Warum war es also dann geschehen? War ich deshalb in meiner letzten Inkarnation Schriftstellerin geworden, weil ich es mir als RR auf dem Sterbebett wünschte? Und war das auch der Grund, warum ich wieder in dieselbe Herkunftsfamilie hineingeboren war, weil ich mir so die Weichen dafür stellte?


An meine letzte Inkarnation kann ich mich glasklar erinnern, auch ohne wegzuträumen. Ich weiß noch genau, wie überrascht ich war, als ich das Bild von RR fand und feststellte, dass er ein Buch geschrieben hatte. Und erst durch diesen Fund erfuhr ich auch, dass mein Ururgroßvater Offizier gewesen war. Meine Großmutter sprach zwar sehr gerne über ihn, behauptete aber immer, er wäre ein Tunichtgut gewesen, der nach Afrika ausgewandert sei und seine deutsche Familie einfach im Stich gelassen habe. Sie machte ihn immer dafür verantwortlich, dass ihr eigener Vater, und dadurch später auch sie selbst, in ärmlichen Verhältnissen aufwuchsen.

Auch wieder eine Form des Selbstbetruges, wie ich jetzt wusste. Denn RR hatte der Familie ein ansehnliches Vermögen hinterlassen.

Jeder ist selbst seines Glückes Schmied! Und wie kann man nur für sein eigenes Unglück jemanden verantwortlich machen, der zwei Generationen vorher lebte?

Mich hatte das Bild meines Ururgroßvaters jedenfalls sofort in seinen Bann gezogen und das Buch war irgendwie wegweisend. Ich wollte beides gerne behalten und meine Großmutter meinte, ich könnte es haben — immerhin wäre ich meinem Ururgroßvater ja auch sehr ähnlich. Ich wusste, dass das nicht als Kompliment gemeint war.

Der Frust und die Boshaftigkeit, welche meine Großmutter ein Leben lang begleitet hatten, und welchen sie gerne in Schnaps ertränkte, beginnen mich einzunebeln. Genauso war es schon früher, weshalb ich sie immer seltener besuchte. Auch darin hatte sie Parallelen zwischen mir und meinem Ururgroßvater gesehen. Sie sagte, genau wie er habe ich die Familie im Stich gelassen. Für alles Schlechte, was meiner Großmutter in ihrem Leben widerfuhr, war er verantwortlich. Sie hatte ihn gehasst, obwohl sie ihm nie begegnet war. Diese Abneigung hatte sie dann auf mich übertragen.

So als ob sie instinktiv wusste, dass er und ich ein und dieselbe Seele sind.

Die Ironie des Schicksals war jedoch, dass meine Großmutter zuallererst mal von ihrem Ehemann und später auch noch von ihrem Sohn verlassen wurde. Dass die Ehefrauen in meiner Herkunftsfamilie alle von ihren Ehemännern verlassen wurden, zieht sich allerdings wie ein dicker roter Faden durch die Ahnenreihen. Auch ich blieb davon nicht verschont. Zum Glück, wie ich jetzt rückblickend sagen würde.

In den Augen meiner Großmutter war ihr Mann ein Versager gewesen. Auf ihren Sohn hingegen hatte sie nie etwas kommen lassen, obwohl er meine Mutter sitzen ließ, als ich noch ein Säugling war.

War es karmisches Schicksal, dass mein Vater nicht für mich da war? War es vielleicht die Strafe dafür, dass ich in einer früheren Inkarnation ebenfalls meinen Sohn verließ? Stopp, denke ich.

Im Gegensatz zu meinem Vater hatte ich als RR zumindest dafür gesorgt, dass es meinem Sohn und seiner Mutter an nichts mangelte. Mein Vater dagegen hatte sich nie um mich gekümmert — in keinerlei Hinsicht. Er starb dann bei einem Verkehrsunfall, als ich schon eine junge Frau war.

Warum habe ich ausgerechnet von RR geträumt? Geht es um das Verlassenwerden? Wurde ich von meinem Vater verlassen, weil ich als RR meinen Sohn verließ?

Was hatte der Reinkarnationstherapeut damals über Opfer und Täter gesagt? „Oft begegnen sich Opfer und Täter in anderen Inkarnationen wieder, nur dass dann das Opfer der Täter ist“.

Könnte es sein, dass mein Vater der Sohn von RR war? Bin ich deshalb in meine eigene Herkunftsfamilie zurückinkarniert, weil dort das Verlassenwerden eine wichtige Rolle spielt? War das alles meine Schuld, weil ich als RR meiner Intuition gefolgt war?


»Du hast das Richtige getan.«

Nicht nur weil sich mein Verstand plötzlich wieder meldet, bin ich überrascht, sondern auch wegen seiner Worte. Mit allem hätte ich gerechnet, bloß nicht damit!

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage: Du hast das Richtige getan.«

»Als RR?«

Ich spüre, dass er zustimmend nickt — etwas dass mich immer noch kirre macht.

»Ja.«

»Aber ich habe meinen Sohn im Stich gelassen!«

Jetzt spüre ich, dass er den Kopf schüttelt, und meiner Kehle entweicht ein gequälter Ton. Eine Sache ist es, sich mit seinem Verstand zu unterhalten, ihm jedoch menschliche Gebärden zuzugestehen eine ganz andere.

»Du hast ihm alles gegeben was er brauchte, um sein Leben erfolgreich zu gestalten. Dass er im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff ums Leben kam, war nicht deine Schuld. Es war auch nicht deine Schuld, dass seine Tochter daraufhin einen SS-Offizier heiratete.«

Noch so ein Selbstbetrug meiner Großmutter! Sie hatte ihren Vater abgöttisch geliebt und war heilfroh, als die Wehrmacht ihn kurz vor Kriegsausbruch, bei der Mobilisierung der Reservisten, nicht einberief. Welch tragisches Schicksal also, dass er ausgerechnet beim ersten Bombenangriff, den die Alliierten 1939 auf Wilhelmshaven flogen, ums Leben kam. Ein Jahr später heiratete sie aus Rache einen SS-Offizier. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg musste dieser sich allerdings bei Nacht und Nebel absetzen, zuerst nach Spanien und später nach Argentinien. So zog meine mittlerweile mittellose Großmutter den gemeinsamen Sohn, meinen Vater, alleine groß und lebte obendrein mit der Schande.

»Aber wenn ich als RR alles richtig gemacht habe, warum hat sich jetzt ausgerechnet sein Leben gezeigt? Geht es hier nicht darum, zu analysieren, was man falsch gemacht hat? Geht es hier nicht um …um Karma-Aufarbeitung?«

Ich höre, dass mein Verstand lacht.

»Karma! So ein Blödsinn. Da gefällt mir das mit der OpferTäter-Beziehung schon besser.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Wenn eine Seele in ihren Inkarnationen Erfahrungen sammeln soll, an denen sie wachsen kann, dann geht das nicht nur mit positiven Erlebnissen. Um aber negative Erfahrungen machen zu können, braucht sie andere Seelen, die ihr die Möglichkeit dazu bieten. Was nicht heißt, dass diese Täter-Seelen von ihrer Energie her negativ sind und deshalb bauen sie auch kein schlechtes Karma auf, ganz im Gegenteil. Denn letztlich ist auch das bloß eine weitere wertvolle Erfahrung, die die Seele macht.«

»Das heißt, eine Seele stellt sich mir beispielsweise als schlechter Vater zur Verfügung, weil ich die Erfahrung machen soll, wie es ist, mit einem Vater aufzuwachsen, der sich nicht kümmert?«

»Beispielsweise…«

»Und um mich zu revanchieren, stelle ich mich irgendwann auch dieser Seele als Täter zur Verfügung?«

»Nicht unbedingt dieser Seele, aber vielleicht einer anderen.«

»Heißt das nun, dass mein Vater auch der Sohn von RR war — ja oder nein? Hat er mich deshalb verlassen hat, weil auch ich ihn…«

»Nein«, unterbricht mich mein Verstand bestimmt. »Wie du mir, so ich dir, gibt es nicht. Das wäre Karma, aber Karma ist bloß eine Erfindung der Religionen, um ihre Schäfchen besser im Zaum zu halten. Es geht immer nur darum, anderen Seelen zu helfen, vor allem, wenn sie noch nicht erwacht sind.«

»Aber warum habe ich dann von der Inkarnation als RR geträumt!« Langsam werde ich ungehalten.

»Erinnere dich an deine Vision als persischer Architekt. Wie wolltest du dich damals selbst verwirklichen?«

»Du meinst das Sonnenhaus?«

»Du wolltest etwas für die Nachwelt hinterlassen. Nur leider waren deine Wünsche diesbezüglich so monströs wie dein Leibesumfang. Außerdem wäre ein solches Hochhaus damals auch noch nicht realisierbar gewesen.«

Irgendwie verstehe ich nicht, auf was mein Verstand hinaus will. Er scheint das zu spüren.

»Als RR hast du etwas für die Nachwelt hinterlassen!«

»Du meinst das Buch über Afrika?«

Erneutes Nicken.

»Pfft! Aber…«

»Nicht aber! Das Buch hat vielen Siedlern, auch in anderen Teilen Afrikas, lange Zeit viel Lehrgeld erspart. Du hattest deine ganzen Erfahrungen so detailliert aufgeschrieben. Und es ist immer noch ein bekanntes, historisches Sachbuch, aus dem das damalige Denken und die Lebensumstände in den deutschen Kolonien hervorgeht.«

»Aber es ist nichts im Vergleich dazu einen Wolkenkratzer zu bauen! Das Sonnenhaus wäre wahrscheinlich als ein weiteres Weltwunder in die Geschichte eingegangen.«

»Und genau da liegt dein Problem. Du bewertest alles nur materiell.«

»Warum bin ich dann in meine eigene Herkunftsfamilie zurückinkarniert? War das lediglich ein dummer Zufall?«

»So etwas wie Zufälle gibt es genauso wenig wie Karma. Was war deine Berufung in deinem letzten Leben? Und was war letztlich dafür ausschlaggebend, dass du ihr gefolgt bist?«

Beruf vs. Berufung! Ja, ich erinnere mich.

So lange ich zurückdenken konnte, wollte ich Schriftstellerin werden. Leider bekam ich von meiner Mutter nie Unterstützung dafür, obwohl ich bereits in der Schule für meine Referate und Geschichten ausgezeichnet wurde. „Ich sollte etwas Solides lernen. Etwas, von dem man später, als Frau, ein Leben finanzieren konnte — auch ohne Mann!“ Das hatte meine Mutter immer gesagt. Und auch mein Verstand hatte mir immer eingetrichtert, Schriftstellerin zu werden sei eine Schnapsidee!

Doch dann fand ich das Bild meines Ururgroßvaters und sein Buch. Leider konnte ich es nie lesen. Es war in altdeutscher Schrift gedruckt und hatte zudem einen ziemlichen Wasserschaden erlitten. Was mich jedoch beflügelte war die Erkenntnis, nicht die Erste in unserer Familie zu sein, die schriftstellerisches Talent besaß. Und dass mir beides genau eine Woche vor Beginn meines geplanten BWL-Studiums in die Hände fiel, war bestimmt kein Zufall.

Betriebswirtschaft — igitt! Nur der Gedanke daran lässt mich jetzt erschaudern. Aber damals war ich jung und wusste nicht, was ich außer Philosophie hätte studieren sollen. Mit den Worten meiner Mutter im Ohr, die uns als Fußpflegerin über die Runden brachte, entschied ich mich für etwas Solides.

Sie war außer sich, als ich ihr dann eröffnete, ich hätte mich zugunsten eines Germanistik- und Philosophiestudiums um entschieden. Und erst ihr Toben, als ich ihr dann auch noch sagen musste, dass ich erst im nächsten Jahr einen Studienplatz dafür bekäme. So verdiente ich mein Geld zuerst als freiberufliche Lektorin für Doktorarbeiten und Kellnerin, bis ich mein Studium schließlich aufnehmen konnte. Doch da hatte ich mich mit meiner Mutter schon überworfen. Auch später, als ich in der Lage war, von meinen Büchern zu leben, wovon auch sie profitierte, änderte sich nichts mehr an unserer Beziehung. Meine Mutter hatte mir nie verziehen, dass ich dieses Wagnis eingegangen war.

Hätte ich damals nicht auf meine Intuition gehört, wäre ich für den Rest meines Lebens todunglücklich gewesen.

Vielleicht habe ich danach ja deshalb so gut wie nie wieder auf meinen Verstand gehört, sondern bin dem gefolgt was meine Intuition, mein Bauchgefühl, mir suggerierte?

Es gab nur eine einzige wesentliche Ausnahme: meine Heirat. Und wie sich nur allzu bald herausstellte, war das eine absolute Fehlentscheidung! Meine Psychologin hatte mich immer gefragt, ob ich wüsste, was der Auslöser für meine spontanen oder unvernünftigen Entscheidungen sei. Dabei hatte sie mir allerdings nie abgekauft, dass eben diese unvernünftigen Entscheidungen immer allesamt Kopfentscheidungen gewesen waren. Aber erst hier oben, jetzt in diesem Moment, wird mir wirklich bewusst, warum ich meinen Verstand in meiner letzten Inkarnation, wenn auch oftmals unbewusst, so oft ignorierte: Alle Entscheidungen, die ich mit dem Verstand machte, waren falsch gewesen.

Dann starb meine Großmutter und vermachte mir zu meiner Überraschung einen goldenen Siegelring. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, doch durch die Initialen wusste ich sofort, wem er einst gehörte. Der Ring sah abgenutzt aus, auch das „RR“ war nicht mehr gut zu erkennen. Ich ließ ihn aufarbeiten, nachgravieren und kleiner machen. Dann trug ich den Ring meines Ururgroßvaters bis zu meinem Tod.

Was wohl aus dem Ring geworden war? War es Schicksal, das Bild und das Buch zu finden? Oder hatte mir RR auf dem Sterbebett diese Wegweiser in die Wiege gelegt?

Ich spüre, dass mein Verstand zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier oben wirklich bei mir ist, auch deshalb, weil ich seine Nähe jetzt zulasse.

»Jede neue Inkarnation bringt normalerweise einen roten Faden mit sich und die dazugehörigen Wegweiser«, sagt er mit sanfter Stimme. »Ob man diesen Faden allerdings aufnimmt und den Wegweisern folgt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wozu gäbe es sonst den freien Willen? Und ich finde es schön, dass du anfängst, dich mit uns auseinanderzusetzen.«

Darüber muss ich wohl erst eine ganze Weile nachdenken. Dies war ein sehr langes Gespräch zwischen uns, das Längste seit „unserer“ Ankunft hier.

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