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Kapitel 8

Der Weise ist sich bewusst,

dass der Schlüssel in den Fragen liegt.

Platón


Plötzlich verspüre ich eine unglaubliche Lust, RR‘s Buch über Afrika zu lesen. Leider hatte mein Exemplar einen Wasserschaden gehabt, noch dazu war es in altdeutscher Schrift geschrieben. Trotzdem würde ich jetzt gerne versuchen, es zu entziffern.

Ich sehe im Strandhaus nach. Kein Buch — doch dafür liegt auf dem Nachttisch jetzt ein E-Book-Reader, auf dessen Bildschirm das Cover des Afrika-Buches prangt! Noch bevor ich fragen kann, antwortet mein Verstand.

»Ein Bibliothekar hat es irgendwann digitalisiert und dabei auch die Schriftart aktualisiert.«

Ich nehme den Reader zur Hand. Das Batteriezeichen zeigt VOLL an.

Jede Wette, dass es hier oben immer VOLL anzeigt!

Irgendwie ist mir zum Lesen jetzt nach Abenddämmerung und Kaminfeuer. Kaminholz finde ich in einem Korb, ebenso wie Streichhölzer.

Ob ich mir hier oben auch die Finger verbrennen kann?

Nachdem das Feuer brennt, kuschele ich mich in den großen Ohrensessel. Der kleine Gecko kommt aus einer Ecke hervor, klettert an einem der Nachttischbeine empor und rollt sich dann in seinem Cherry-Tomaten-Kistchen zusammen. Dabei wickelt er seinen langen Schwanz einmal um den ganzen Körper und ich beginne zu lesen.


Das Feuer im Kamin brennt noch genauso wie zu Beginn des Buches. Auch die Abenddämmerung ist nicht weiter fortgeschritten. Das Batteriesymbol des Readers steht, wie erwartet, immer noch auf VOLL und die Anzeige, die die benötigte Lesezeit errechnet, stur auf „0“. Aber ich habe alle 305 Seiten gelesen.

Der Gecko schläft, seinen Schwanz um den Körper gewickelt. Nur das sanfte Rauschen des Meeres ist zu hören. Ich sinniere eine Zeit lang über den Inhalt des Buches und schiele dabei von Zeit zu Zeit auf die Zeitanzeige des Readers. 00: 00 steht dort schon — die ganze Zeit. Zeit scheint hier oben wirklich bedeutungslos.

Es war eine spannende Lektüre, selbst für heutige Verhältnisse. Ich habe nun eine sehr plastische Vorstellung davon, wie es damals in Afrika zugegangen ist. Zu seiner Zeit war das Buch bestimmt eine wertvolle Bereicherung für jeden Afrikaauswanderer, so etwas wie ein Handbuch oder besser noch: eine literarische Werkzeugkiste. Mir wird klar, dass die Menschen, die damals nach Afrika auswanderten, entweder naiv oder verzweifelt waren. Oder aber sie waren Forscher, Entdecker und Abenteurer.

Typisch, dass ich mich davon hatte anstecken lassen. Abenteuer und Abwechslung — ja, auf den Zug bin ich schon immer gerne aufgesprungen. Zum Teufel mit den Bedenken und Vorbehalten! Das Leben war zu kurz, um darüber nachzudenken, was richtig und was falsch ist. Und mit den Konsequenzen konnte man sich auseinandersetzen, wenn sie da waren. Solange es genug Sand gab, sollte man auch den Kopf hineinstecken. Irgendwann kam immer ein Sturm und wehte ihn davon und dann war es immer noch früh genug, sich mit Problemen zu beschäftigen oder die Scherben aufzufegen.

Nach diesem zugegebenermaßen recht törichten Motto hatte ich auch in meiner letzten Inkarnation gelebt, zumindest nachdem ich anfing, meinen Verstand weitestgehend zu ignorieren. Nicht, dass dies immer das Beste für mich war, aber wenn ich jetzt von hier oben so auf mein letztes Leben zurückblicke, gibt es nichts, das ich bereue. Selbst meine Ehe und meinen Tod nicht. Alles in allem kann ich sagen, dass mein Leben immer selbstbestimmt war. Und das ist es, was für mich zählt.


Ich lasse es wieder hell werden und das Kaminfeuer ausgehen. Der Gecko wird wach, rollt seinen Schwanz aus und bevor ich mich versehe, ist er auch schon wieder verschwunden.

Als ich auf die Terrasse komme, sehe ich unten an der Treppe das Huhn. Es pickt imaginäres Futter aus dem Sand. Ich setze mich auf die unterste Stufe der Veranda und betrachte meine Plattfüße.

»Platzieren alle Seelen rote Fäden oder Wegweiser in ihren Inkarnationen, die sie daran erinnern sollen, was sie sich vorgenommen haben? — Verstand bist du da?«, rufe ich.

Dann warte ich auf Antwort und bin gekränkt, als diese ausbleibt. Gerade erst hatte ich angefangen, zu glauben, dass wir das Kriegsbeil begraben könnten.

»Ich überlege noch.«

Zuerst glaube ich, mich verhört zu haben!

»Du überlegst? Du als allwissender Verstand überlegst? Heißt das, du denkst nach — DU denkst? Ich dachte immer, ich wäre die, die denkt und du der, der eh schon alles weiß!«

Jetzt bin ich wirklich überrascht!

Ein Verstand der (nach)denken muss. Wenn das nicht paradox ist. Wahrscheinlich ist das die Krönung aller Paradoxien!

»Ja, ich denke nach. Darüber, wie ich dir das alles erklären kann. Und im Übrigen verfüge ich auch nur über das Wissen, was du dir irgendwann angeeignet hast. Jedenfalls wenn es um die Sorte Wissen geht, die man als Lebenserfahrung bezeichnet.«

»Aha! Heißt das auch, dass ich wieder ein Mathegenie sein kann, falls ich es will, so wie als persischer Architekt?«

Mein Verstand lacht deutlich hörbar.

»Nein. Eine besondere Mathematikbegabung ist, genau wie ein fotographisches Gedächtnis, genetisch bedingt. Du kannst dir allerdings für bestimmte Inkarnationen einen Körper wählen, der über einen höheren IQ verfügt, damit diese Fähigkeiten vorhanden sind. Sie sind dann sozusagen angeboren und solange du in diesem Körper inkarniert bist, kannst du diese Fähigkeiten nutzen. Oder anders gesagt: Hier in der geistigen Welt kannst oder weißt du nur das, was du dir in deinen Leben irgendwann einmal selbst erarbeitet hast.«

Ausnahmsweise ist mein Verstand mal sehr geduldig mit mir. Oder liegt es daran, dass ich ausnahmsweise mal die richtigen Fragen stelle?

»Du kannst es ausprobieren«, sagt mein Verstand. »In deiner letzten Inkarnation warst du sicherlich kein genetisches Genie und hast trotzdem vier Fremdsprachen gelernt. Schau mal, ob das Wissen noch vorhanden ist.«

Ich denke kurz nach.

»Ist es!«, antworte ich dann.

»Das bedeutet, sobald du in einer deiner nächsten Inkarnationen eine dieser Sprachen lernen willst, wird dir, und damit natürlich auch deinem menschlichen Wirt, das besonders leicht fallen. Viel leichter jedenfalls als anderen Menschen, deren Seele nicht schon über dieses Wissen verfügt. Es sei denn, ihr Körper bringt eine besondere genetische Fähigkeit mit, wie zum Beispiel ein fotographisches Gedächtnis.«

Mein Verstand macht eine kurze Pause, bevor er hinzufügt: »Das eine sind genetische Fähigkeiten, die dir nur während deiner Inkarnationen in einem physischen Wirt zur Verfügung stehen und das andere sind psychische Eigenschaften, die du dir während deiner Inkarnationen erarbeitet hast und die auch nicht mehr verloren gehen.«

Wieder macht er eine kurze Pause und dabei beschleicht mich das Gefühl, als ob er auf mich schaut, so wie ein Lehrer auf seinen Schüler, um herauszufinden, ob dieser auch zuhört und alles versteht.

Das ist nicht mehr paradox, sondern paranoid, denke ich, während ich versuche, besonders konzentriert zu wirken.

»Wenn ein Mensch beispielsweise etwas von Anfang an sehr gut kann, nennt man das Talent. Dabei ist es oft nur das, was seine Seele aus früheren Leben mitbringt.«

Mein Verstand räuspert sich und fügt hinzu: »Natürlich braucht es auch immer noch einen kreativen Geist…, aber ich denke, du verstehst, was ich meine.«

»Klar! Aber heißt das, ich könnte wieder malen, wenn ich das Malen in einer früheren Inkarnation so richtig von der Pike auf gelernt habe?«

Statt einer Antwort tauchen jetzt rechts hinter dem Huhn eine Staffelei mitsamt einem Tischchen, einer Palette Ölfarben sowie Pinsel auf und in mir erwacht die Kenntnis. Plötzlich weiß ich genau, welche Farben ich mischen müsste, um das besondere Blau des Wassers einzufangen und wie ich den Pinsel führen müsste, um der Farbe dann die sanfte Form der Wellen zu geben.

Nur weiß ich nichts mehr über die Inkarnation als Malerin oder Maler. Dazu müsste ich wohl erst davon träumen. Ich nehme mir aber vor, später auf jeden Fall ein Bild zu malen.


»War ich auch mal Sängerin?«, frage ich kokett.

»Hm, ja«, antwortet mein Verstand zögerlich. »Allerdings ist eine wirklich gute Stimme wieder genetisch bedingt. Natürlich kann jeder das Singen erlernen wie auch das Malen. Aber ein wirklich guter Maler oder Bildhauer braucht dazu auch eine sehr gute räumliche Vorstellungskraft und die ist wieder genetisch. Dass die Seele sich intuitiv erinnert, wie man beispielsweise Farben mischt, ist nur eine der Zutaten, die einen wirklich guten Künstler ausmachen. So verhält es sich auch mit dem Singen. Wenn die Seele es in einer früheren Inkarnation schon mal konnte, wird es ihrem Wirt wahrscheinlich viel leichter fallen, richtig zu atmen. Aber ohne die entsprechenden Stimmbänder wird er trotzdem immer nur mittelmäßig bleiben!«

Mich beschleicht das Gefühl, mit dieser Frage einen wunden Punkt getroffen zu haben. Seinem letzten Satz hat er jedenfalls deutlich hörbar Nachdruck verliehen. Natürlich weiß ich, dass er auch diesen Gedanken von mir mitbekommt und weil ich ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen möchte, greife ich etwas Harmloses auf und lache dabei.

»Atmen! Das mit dem Atmen ist hier oben auch so eine paradoxe Angelegenheit. Immer wieder tue ich es, obwohl ich es nicht muss.«

Weil er nicht reagiert, versuche ich es anders.

»O.K., jetzt verstehe ich. Wenn ich in einer früheren Inkarnation, sagen wir mal, ein Weltklasse-Schwimmer war, verfüge ich zwar immer noch über das technische Wissen, wie man sich als Schwimmer ideal bewegt, aber ohne den entsprechenden athletischen Körper im nächsten Leben, könnte ich zwar bis zum Umfallen trainieren, wäre aber trotzdem immer noch zu langsam, um zur Weltspitze zu gehören.«

»So ungefähr«, murmelt mein Verstand. Dabei kommt er mir abwesend vor, so als sei er mit seinen eigenen Gedanken gerade ganz wo anders. Leider kann ich seine Gedanken nicht hören, so wie er meine.

Ich nicke.

Ob mein Verstand das auch mitbekommt, so wie ich bei ihm?

»Dann weiß ich jetzt, warum ich in meiner letzten Inkarnation eine hervorragende Schwimmerin war, obwohl ich nie trainiert habe. Irgendwann war ich mal Leistungsschwimmerin.«

Zuerst glaube ich, mein Verstand hätte sich wieder abgemeldet, aber ich spüre immer noch ganz deutlich seine Anwesenheit oder Nähe.

»Keine Leistungsschwimmerin«, antwortet er schließlich, »aber es gab in der Tat ein Leben, in dem das Meer eine besonders wichtige Rolle für dich spielte und wo du auch sehr viel Zeit darin verbracht hast.«

Wieder habe ich das Gefühl, einen wunden Punkt getroffen zu haben. Unwillkürlich denke ich an das Surfbrett, das jetzt bei der Hängematte im Sand steckt. Es ist riesig und in hellblauer Schreibschrift steht „he'e nalu“ darauf. Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet, aber ich bekomme eine Ahnung, warum ich in meiner letzten Inkarnation so gern am Meer war. Diese Ahnung würde auch erklären, warum ich trotz ausgezeichneter „seelischer“ Schwimmeigenschaften eher wasserscheu war!

»Ist es auch möglich, in einer Inkarnation eine so unangenehme Erfahrung zu machen, die so gravierend ist, dass sie ein Trauma auslöst und man in späteren Inkarnationen dann intuitiv ein Vermeidungsverhalten dagegen aufbaut?«, frage ich vorsichtig. Plötzlich bin ich mir nämlich ganz sicher, mal ertrunken zu sein!

Einen Moment lang herrscht absolute Stille und ich spüre auch, dass ich noch gar nicht so weit bin, mich mit dem Surfbrett und dem, wofür es steht, auseinanderzusetzen.

Um die gedrückte Stimmung aufzulockern, versuche ich einen Witz.

»Dann gilt das mit den seelischen Eigenschaften auch für — hm — Klavierspielen? Wenn ich es in einer früheren Inkarnation schon mal gelernt habe, wird es mir später viel leichter fallen und man würde sagen, ich sei talentiert. Vorausgesetzt natürlich, ich stecke dann nicht ausgerechnet in einem Körper, der total steife Finger hat.«

Der Witz ist aufgegangen und ich höre, wie mein Verstand erleichtert lacht.

»Und wie ist es mit der Schriftstellerei?«, frage ich vorsichtig.

»Gute Literatur zu verfassen ist definitiv eine Eigenschaft der Seele, für die du keine besondere genetische Voraussetzung brauchst. Allerdings benötigen diese Seelen einen besonders kreativen Geist. Jede Seele kann Lesen und Schreiben lernen, jedenfalls sobald ihr menschlicher Wirt die Möglichkeit dazu erhält, aber nicht jede entwickelt daraus auch eine Begabung zur Schriftstellerei. Es gibt jedoch Seelen mit einer natürlichen Begabung für alles, was mit Kunst zu tun hat. Deshalb nennt man sie Künstlerseelen und du bist eine davon.«

Er macht eine Pause, so als erwarte er eine Reaktion von mir, aber ich mache ein Pokerface und hoffe, dass er nicht mitbekommt, wie mein Herz vor Freude hüpft.

»Nur eine Künstlerseele ist zum Beispiel in der Lage, eine solche Umgebung wie dein Paradies in der geistigen Welt zu kreieren. Und ja, jetzt stellst du endlich die richtigen Fragen. Und ja, wenn du nickst, spüre ich das genauso, wie du meins. Und ob du nun laut oder leise denkst, macht für mich auch keinen Unterschied. Du kannst deine Gedanken nicht vor mir verbergen, so wie ich meine vor dir. Aber dies geschieht nur zu deinem eigenem Besten, denn ich will dich nicht mit Informationen überfluten. Und es freut mich, wenn dein Herz hüpft, auch wenn es nur ein eingebildetes ist.«

»Danke.«

»Wofür?«

»Dafür, dass du ehrlich bist. Und dafür, dass du so viel Geduld hast. Ist das nach jeder Inkarnation so? Komme ich nach jeder Inkarnation hierher und lasse mir von dir erneut die Welt erklären?«

»Nein, es ist das zweite Mal, dass du hierherkommst. Aber das sind jetzt nicht mehr die richtigen Fragen. Jetzt nicht, jedenfalls noch nicht.«


Stille. Wenn ich in sie hinein spüre, weiß ich, dass sich mein Verstand mit seinen letzten Worten wieder von mir verabschiedet hat. Aber diesmal bin ich nicht sauer.

Mein Blick fällt auf die Staffelei. Ich weiß, was ich als Nächstes mache.

Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten

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