Читать книгу Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten - Kristine Weitzels - Страница 7

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Kapitel 2

Es gibt ein Auge der Seele.

Mit ihm allein kann man die Wahrheit sehen.

Platón


Plötzlich werde ich unglaublich müde und sinke auf das Bett. Einer alten Angewohnheit folgend, ziehe ich dabei den Haargummi aus meinem Pferdeschwanz und streife ihn über mein Handgelenk.

Augenblicklich schlafe ich ein. In Gedanken höre ich noch, wie mein Verstand mich wieder korrigiert und sagt: »Du schläfst nicht ein, du träumst weg. Nur der Organismus eines materiellen Lebewesens, aus Fleisch und Blut, und die Betonung liegt dabei auf „Lebe“ und nicht auf „Wesen“, benötigt Schlaf!«

Also gut, ich träume. Ich träume, dass ich nach unten schaue und ein paar sehr dunkle, fast schwarze Füße sehe.

Bin das wirklich ich? Sind das meine Füße?

Die Antwort lautet ja, keine Frage.

Na jedenfalls sind es keine Plattfüße, denke ich und seufze.

Ich bin jetzt im Körper eines jungen Eingeborenen, der nur mit einem spärlichen Lendenschurz bekleidet ist. Es ist sehr heiß und mitten am Tag. Aus einem Versteck heraus beobachtet er gerade eine Gruppe von Männern. Dabei spüre ich deutlich die Neugierde, die er dabei empfindet. Einer der Männer hat rote Haare und jede Menge Sommersprossen, ein anderer ist blond und blauäugig. Ich weiß, dass der Eingeborene noch nie zuvor einen weißen Mann gesehen hat! Er muss sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszulachen und dadurch sein Versteck zu verraten. Es sind die Knickerbocker der Männer, die der Junge so lustig findet.

Mitten im Busch haben diese Leute ein Lager aufgeschlagen. Sie haben eine Konservendose mit Bohnen geöffnet und den Inhalt in einen Topf geschüttet, der über dem Lagerfeuer hängt.

So banal mir diese Handlung erscheint, so faszinierend ist sie für den jungen Eingeborenen. Ich weiß, dass er sich letzte Nacht, als die Fremden schliefen, in ihr Lager geschlichen und an einer, der leeren und achtlos weggeworfenen Konservendosen geschnitten hat. Er findet, der Inhalt stinkt bestialisch und er fragt sich, wie man so etwas essen kann.

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Obwohl sein Dorf einen halben Tagesmarsch entfernt liegt, verbringt der Junge viel Zeit mit dem Beobachten der Fremden. Aber er ist ein schneller Läufer und im Dorf vermisst ihn auch niemand. Er hat keine Pflichten, anders als seine beiden älteren Brüder. Solange er keine eigene Familie hat, kann er tun, was er will. Im Dorf gäbe es zwar ein passendes Mädchen, aber er ist noch nicht so weit. Er ist noch nicht bereit, ganz alleine und nur mit einem Holzspeer bewaffnet, ein großes Raubtier zu erlegen. Viele seiner Brüder kamen dabei ums Leben. Doch nur wer das schafft und überlebt, darf sich eine Frau nehmen.

Er fragt sich wozu? Frauen bekommen ständig Kinder und ihre Männer sind nur noch auf der Jagd, um das Essen für sie herbeizuschaffen. Jagen ist aber gefährlich. Deshalb ernährt er sich lieber von Früchten und Insekten. Er glaubt, das Mannsein ist nichts für ihn und aus diesem Grund fühlt er sich im Dorf unwohl. Viel lieber ist er hier draußen bei den Fremden.

Es ist Nacht geworden und der Dschungel erfüllt von den schaurigsten Geräuschen, doch das kümmert ihn nicht. Gebannt beobachtet er die Männer, deren Lager jetzt von Öllampen erhellt wird. Für ihn sind das magische Lichter und er fragte sich, woher diese Männer wohl kommen.

Am liebsten würde ich ihm sagen, dass es sich um eine Expedition handelt, aber ich weiß, das geht nicht! Ich erlebe die Erinnerung an eine meiner früheren Inkarnationen, ohne eingreifen zu können. Obwohl ich alles durch die Augen dieses Jungen sehe und genau spüre, was er damals fühlte, habe ich nicht die Möglichkeit einzugreifen oder ihm zu helfen.

Einige der Expeditionsmitglieder fangen wilde Tiere, hauptsächlich Affen und Vögel, die sie dann in Käfige sperren. Der blonde Mann dagegen, er scheint der Expeditionsleiter zu sein, zeichnet seine Umgebung und sammelt Blätter und Blumen, die er dann in einem Buch mit weißen Seiten presst.

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Wieder ist Zeit vergangen. Der blonde Mann hat verschiedene Früchte gesammelt, die er probiert. Als er eine Handvoll dunkler Beeren nimmt, spüre ich, wie sich plötzlich der Herzschlag des Jungen erhöht. Wild gestikulierend und schreiend stürzt er aus seinem Versteck auf den Mann zu! Er schlägt ihm die giftigen Beeren aus der Hand, fast gleichzeitig ertönt ein ohrenbetäubender Knall und alles wird dunkel.

Als er wieder zu sich kommt, tut sein Kopf höllisch weh und auch ich kann mich diesen Schmerzen nicht entziehen. Er schaut direkt in das Gesicht des blonden Mannes. Dieser lächelt und dann redet er mit sanfter Stimme und in bestem Oxfordenglisch auf ihn ein. Einer seiner Kameraden hatte einen Schuss abgefeuert. Zu spät hatte der Schütze erkannt, dass der Junge nur den Verzehr der giftigen Beeren verhindert wollte. Zum Glück hatte die Kugel ihn aber nur leicht am Kopf gestreift. Der Junge lächelt nun ebenfalls. Er versteht zwar die Worte nicht, aber dieses Lächeln und die Stimme des Engländers wirken so beruhigend, dass er wieder einschläft.

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Er ist nun schon mehrere Tage im Lager. Jedes Mal wenn der blonde Mann in seiner Nähe ist, erhöht sich sein Herzschlag. Sein Name ist Herr und der Junge wundert sich, weil alle Männer den gleichen Namen haben: Herr. In seinen Gedanken hat er dem blonden Mann jedoch einen anderen Namen gegeben. Er nennt ihn den goldenen Mann. Er hat sogar einen kleinen Löwen für ihn geschnitzt, nur mit einem spitzen scharfen Stein als Werkzeug.

Mir wird klar, dass der Junge sich in ihn verliebt hat. Er hat ihm auch seinen Namen gesagt, doch der Blonde schüttelte daraufhin nur den Kopf und erwiderte: »Ab heute heißt du Boy!«

Der Junge mag den Klang dieses Namens und findet ihn schön: Boy.

Die beiden sitzen am Lagerfeuer. Es ist spät und die anderen haben sich schon schlafen gelegt. Der blonde Mann spricht mit Boy und dieser begreift schnell, was man ihm zu sagen versucht: Die Männer wollen aufbrechen und er ist eingeladen mitzukommen. Ohne zu zögern, nickt er. Ohne noch einmal in sein Dorf zurückzukehren, hilft er am nächsten Morgen, das Lager abzuschlagen. Und ohne noch einmal zurückzublicken, folgt er ihnen.

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Die Reise mit den Ochsenkarren dauerte viele, viele Tage, doch irgendwann erreicht der Treck eine Stadt am Meer. Ich spüre die starke Anspannung des Jungen, hin und her gerissen, zwischen Furcht und Neugierde. Alles ist so anders als in seinem Dorf und noch nie zuvor hat er ein so großes Wasser gesehen. Doch eine einfache Berührung an der Schulter oder das Lächeln des blonden Mannes, lassen all seine Ängste und Zweifel gleich wieder verfliegen.

Die Gruppe bezieht Quartier in einem Hotel. Während Boy ihr Gepäck auf die Zimmer schleppt, fragt er sich, ob dies das Zuhause der Männer ist. Er selbst verbringt die Nacht im Stall bei den Tieren. Am nächsten Morgen, bringt ihm der blonde Mann, etwas zu essen und ein langes weißes Kleid, das alle Eingeborenen in dieser Stadt zu tragen scheinen.

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Wieder sind viele Tage vergangen und Boy hat längst begriffen, dass dies nicht die Heimat der Männer ist. Vielmehr scheinen sie auf etwas warten. Dann herrscht plötzlich Aufregung und alle laufen ans Meer. Er folgt ihnen und kann nicht fassen, was er dort sieht: Auf dem Wasser, wenn auch noch in einiger Entfernung, schwimmt ein riesiges Ungeheuer!

Viele der Menschen haben Gewehre dabei und schießen damit in die Luft. Das Ungeheuer antwortet mit einem lauter Knall, der so mächtig ist, dass er Boys Körper erschüttert und in seiner Brust einen dumpfen Druck erzeugt. Panik ergreift ihn, doch er ist wie gelähmt. Unfähig sich zu bewegen, starrt er auf die näher kommende Bestie!

Immer mehr Männer kommen und schießen in die Luft. Boy glaubt zu verstehen, warum sie das tun. Sie wissen, sie können das Ungeheuer nicht töten, also versuchen sie, es durch den Lärm der Schüsse zu verjagen. So wie in seinem Dorf die Dämonen durch den Lärm der Trommeln vertrieben werden.

Ich spüre, wie er all seinen Mut zusammennimmt und die lähmende Panik abschüttelt. Er will unbedingt helfen! Hastig schaut er sich nach etwas um, womit sich Lärm erzeugen lässt. Dann sieht er den blonden Mann, der aufgeregt auf ihn zugelaufen kommt. Boy versucht ihm, zu erklären, dass sie ganz viel Lärm machen müssen, und fuchtelt dazu wie wild mit seinen Armen. Doch der Blonde lächelt nur wieder und redet beruhigend auf ihn ein, so wie er es immer tut. Dabei greift er nach den dunklen Händen, hält sie fest, streichelt sie sogar, bis auch Boy sich wieder beruhigt.

Ich kann spüren, was Boy denkt: Der goldene Mann fürchtet sich nicht vor dem Ungeheuer, also brauche auch ich mich nicht zu fürchten! Und noch etwas anderes nehme ich deutlich wahr, blindes und unerschütterliches Vertrauen.

Der Mann zeigt nun auf das Ungeheuer und wiederholt immer wieder ein Wort: Segelschiff. Wie gerne hätte auch ich Boy das erklärt, aber ich bin nur ein stummer Zuschauer.

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Ehrfurcht erfüllt ihn. Es ist der Tag, an dem er das Schiff zum ersten Mal betritt und wieder höre ich seine Gedanken: Wenn diese Menschen in der Lage sind, solche Dinge zu bauen, was können sie noch? Wohin wird ihn diese Reise wirklich führen? Und welche Wunder erwarten ihn dort, wo sie endet?

Bereitwillig folgt Boy dem blonden Mann in den Bauch des Schiffes. Es ist dunkel dort und riecht nach menschlichen Ausdünstungen und Tod. Boy weiß, wie der Tod riecht und plötzlich wird das Schiff doch wieder zum Ungeheuer. Hinter einer dicken Tür, in einem großen Raum, befinden sich bereits viele Eingeborene. Er versteht, dass dies für die Dauer der Reise auch sein Platz sein wird. Weil er dem Mann vertraut, bleibt er, trotz des zunehmenden Unbehagens. Bevor sich die schwere Tür schließt, gibt er Boy noch einen großen Beutel mit Nahrung und Wasser.

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Im Bauch des Schiffes ist es stockdunkel und Boy hat jegliches Zeitgefühl verloren. Nur nachts öffnet sich ein Loch ganz weit oben und lässt für eine Weile frische Luft herein. Manchmal werden auch Essensreste durch das Loch heruntergeworfen oder man kann dadurch die Sterne sehen. Seine eigenen Vorräte sind längst verbraucht. Und nicht jeder hatte so viel Glück, Wasser und Nahrung zu bekommen. Einige sind schon tot. Der Gestank ist unerträglich.

Am Anfang war ihm übel von den Bewegungen des Schiffes. Jetzt ist ihm nur noch übel vom Gestank. Oft weiß er nicht mal mehr, ob er wach ist oder träumt. Ich glaube, zu spüren, dass er den Verstand verliert.

Habe ich denn überhaupt keine Möglichkeit einzugreifen?

Als er den Bauch des Schiffes betrat und mir klar wurde, dass es sich um einen Sklavenfrachter handelt, hätte ich ihn am liebsten angeschrien, damit er wegläuft!

Irgendwann spüre ich, wie sein Atem immer flacher wird.

Ist das, das Ende?

Dann wird er geschüttelt.

Ist es das Schiff, das sich wieder heftig auf und ab bewegt?

Boy träumt, das Schiff sei doch ein Ungeheuer. Ein Ungeheuer, das ihn gefressen hat, und dann blickt er in dessen Gesicht. Wie kann das sein? Wie kann er im Bauch des Ungeheuers sein und gleichzeitig dessen Gesicht sehen? Er muss verrückt geworden sein! Seine Augen sind jetzt weit geöffnet. Er will schreien. Wieder wird er geschüttelt. Er sieht immer noch in ein Gesicht, allerdings werden Nase und Mund von einem Tuch verdeckt. Der Gestank ist einfach unbeschreiblich. Doch Boy kennt diese blauen Augen. Es ist der blonde Mann, der ihn schüttelt. Er wird aus dem Bauch des Schiffes geschleift. Aber dann ist er blind, im grellen Tageslicht sinkt er zu Boden und wird wieder ohnmächtig.

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Fünf Jahre sind seither vergangen. Mittlerweile hat Boy sogar Englisch gelernt. Der Mann, der für ihn immer der goldene Mann bleiben wird, ist ein Lord. Sein Schloss ist so groß, dass er sich am Anfang oft darin verlaufen hat. Boy weiß, dass er jetzt in England lebt und man seine Heimat Afrika nennt. Oft quält ihn Heimweh und dann bedauert er, dem goldenen Mann damals so leichtfertig gefolgt zu sein. Er liebt ihn noch immer, aber er weiß auch, dass diese Liebe niemals erwidert werden wird.

Auf der Weltkarte in der Bibliothek kann er Afrika finden. Als bekannter Botaniker und Ornithologe hält der Lord dort oft Vorträge über Boys Heimat. Er sagt, Boy sei nun ein Anschauungsobjekt und immer wenn er einen Vortrag hält, darf Boy wieder seinen Lendenschurz anlegen.

Ein paarmal hat der Lord ihn sogar in seiner eleganten Kutsche mit zu Vorträgen nach London genommen. Und einmal durfte Boy ihn zu den Kew Gardens, den ehrenwerten Royal Botanic Gardens begleiten, wo unzählige der getrockneten Pflanzen, die der Lord aus Afrika mitbrachte, zwischen blütenweißem Papier aufbewahrt werden. Beim Schloss gibt es zudem ein großes Gewächshaus, wo selbst einige afrikanische Pflanzen gedeihen. Boy ist gerne dort, auch weil es darin immer so schön warm ist. Hier sitzt er nun oft und schnitzt Tiere, die er aus seiner Heimat kennt.

Dann geht der Lord erneut auf Reisen. Boy will mit, seine Heimat besuchen, auch wenn er nie wieder in den Bauch eines Schiffes will. Doch der Lord reist nicht nach Afrika. Auf der Karte in der Bibliothek zeigt er ihm ein anderes Land. Es heißt Indien.

Der Lord bleibt sehr lange weg. Zweimal kommt in dieser Zeit der Winter. Dann ist er endlich zurück, doch er ist nicht allein. Ein junger Mann begleitet ihn, nur wenig jünger als Boy. Seine Haut ist olivfarben und seine Haare sind ganz glatt und sehr lang. Sie glänzen wie schwarze Seide und Boy findet sie wunderschön. Der junge Mann wirkt schüchtern aber wohlauf, anders als er bei seiner Ankunft damals. Der Lord stellt ihn als Singh vor und bestimmt, dass er ab jetzt bei ihm wohnt. In seiner Kammer unter dem Dach stehen zwei Betten und Boy freut sich, endlich nicht mehr alleine zu sein.

Die Zeit der Vorträge beginnt erneut, doch jetzt ist nicht mehr Boy das Anschauungsobjekt, sondern Singh. Aber das ist in Ordnung, denn er ist es, der Singh die englische Sprache beibringt und ihm das Leben in diesem fremden Land erklärt. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander und er weiß, Singh mag ihn auch. Die Gefühle, die Boy einst für den Lord hegte, empfindet er nun für Singh. Und im Gegensatz zum Lord erwidert Singh diese Gefühle.

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Der Lord hat geheiratet. Seine Frau lebt jetzt ebenfalls im Schloss. Sie nennt Boy und Singh Wilde und will, dass ihr Mann sie wegschafft. Seit der Geburt ihrer Tochter dürfen sie ihre Kammer gar nicht mehr verlassen und sind dort eingesperrt. Anfangs kommt täglich eine Küchenmagd mit Wasser und Essen und leert auch den Eimer, in den sie nun ihre Notdurft verrichten. Doch die Abstände werden immer größer. Seit Tagen schon ist niemand mehr gekommen. Außer einem Rest Wasser ist alles verbraucht und es riecht es nach Ausdünstungen. Schlimme Erinnerungen werden in Boy wach. Erinnerungen an die Zeit im Bauch des Schiffes. Er fragt sich, ob der goldene Mann auch diesmal kommt, um ihn und Singh zu retten?

Die beiden liegen eng umschlungen im Bett. Mehrmals in den vergangenen Stunden hat Boy laut gerufen und gegen die Tür getreten — vergeblich. Dann endlich hört er den Schlüssel im Schloss. Der goldene Mann ist doch noch gekommen, um sie zu retten!

Ich spüre, wie Boys Herz vor Freude springt, doch mir schwant Böses. Der Lord bittet die beiden Jungen, ihm leise zu folgen. Er führt sie hinab in das riesige Verlies.

Was hat er vor? Will er ihnen so die Flucht ermöglichen? Aber wohin?

Tränen laufen über Boys Gesicht, als er und Singh erneut eingesperrt werden. In dem Kerker ist es feucht und bitterkalt. Überall sind Ratten. Sie rufen um Hilfe, rütteln am Gitter der Tür. Kurz darauf kommen zwei Männer mit Steinen und beginnen damit, vor dem Kerker eine Wand hochzuziehen: Boy und Singh werden bei lebendigem Leibe eingemauert.

Wieder höre ich Boys Gedanken. Sie sind wie ein Aufschrei.

Wie kann mich der goldene Mann nur so verraten? Ich hatte mein Leben in seine Hände gelegt, als ich ihm folgte! Einmal schon wäre ich dadurch fast gestorben!

Bitterlich bereut Boy, dass er dem Mann damals so arglos gefolgt war. Tränen der Wut und Verzweiflung zeichnen sein Gesicht, dass niemand mehr sieht. Im Kerker ist es finster. Er weint, bis er keine Kraft mehr hat. Das Atmen fällt ihm immer schwerer und schließlich fällt er in einen unruhigen Schlaf. Als er wieder erwacht, sind seine Tränen versiegt. Er ist ganz ruhig, ein innerer Frieden umgibt ihn. Er muss jetzt stark sein, auch für Singh. Er sieht Singh und dann sich selbst — aber wie kann das sein?

Nein, denke ich, du siehst nur den Teil von dir aus Fleisch und Blut!

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich kein Zuschauer mehr bin. Meine menschliche Hülle liegt tot auf dem Lehmboden, eng umschlungen mit dem Körper, der einst Singhs Seele beherbergte. Dann spüre ich auch seine Seele, sie ist mir ganz nah. Wir spenden uns gegenseitig Trost. Singhs Seele möchte diesen Ort jetzt schnell verlassen, aber ich bin noch nicht so weit. Meine Wut hält mich hier gefangen. Dieser Tod war entsetzlich. Noch bevor wir an Sauerstoffmangel erstickten, hatten die Ratten schon mit dem Leichenschmaus begonnen.

Ich schwöre mir, nie wieder in eine solche Abhängigkeit zu geraten. Nie wieder werde ich mich einem anderen überlassen. Ab jetzt werde ich über mein Leben nur noch selbst bestimmen und damit auch über meinen Tod. Doch diesmal ist es dafür zu spät!

Dann endlich spüre ich, dass auch ich frei bin und diesen Ort, trotz der Mauern, verlassen kann. Zurück bleibt nur mein Körper. Alles wird schwarz und mein bewusstes Erleben endet so überraschend, wie es begonnen hat.


Ich erwache auf dem Bett im Strandhaus. Das Erlebte ist noch zum Greifen nah, ich erinnere mich an jedes Detail. Wenn ich früher träumte, musste ich mir immer gleich alles aufschreiben. Anderenfalls war spätestens nach dem Zähneputzen alles futsch. Doch irgendwie ahne ich, dass es bei diesem Traum nicht so sein wird.

»Weil es in dem Sinne auch kein Traum war«, sagt mein Verstand.

Ich überhöre ihn geflissentlich, weil ich mich noch nicht damit auseinandersetzen möchte, dass ich in einer früheren Inkarnation einmal lebendig eingemauert wurde. Stattdessen frage ich mich, wie lange ich wohl „geträumt“ habe. Draußen ist es jedenfalls dunkel geworden. Trotzdem sehe ich immer noch das Meer.

Fast so, als ob dort ein heller Vollmond leuchtet, denke ich.

Zwar hatte ich bei meiner Ankunft keine Sonne entdecken können, weil der Himmel so sonderbar milchig-trüb gewesen war, doch jetzt will ich es wissen: Gibt es da draußen irgendwo einen Mond?

Ich schwinge meine schönen langen Beine aus dem Bett und wundere mich überhaupt nicht, dass da ein paar Flip-Flops stehen. Was mich jedoch ein wenig irritiert, ist ihre Größe: Bigfoot. Doch sie passen wie angegossen.

Während ich raus gehe, sehe ich, dass ich Jeans Shorts und ein schlichtes, weißes Tank Top trage.

Hatte ich diese Sachen auch schon bei meiner Ankunft an?

Draußen suche ich den Mond, aber ich kann ihn nicht finden und auch keine Sterne. Der Himmel ist immer noch merkwürdig trüb.

Schade, denke ich. Ich wünschte wirklich, ich hätte ihn sehen können. ―Und dann ist er da, der Mond. Und mit ihm unzählige Sterne! Nur, weil ich es mir gewünscht habe. Mich interessiert auch gar nicht, welcher Mond das ist. Ja, mich interessiert noch nicht mal, ob es überhaupt der echte Trabant, eines echten Planeten ist.

»Irgendwann wirst du dich aber mit dieser Frage — und allen anderen Fragen — auseinandersetzen müssen«, höre ich meinen Verstand.

»Ach, halt die Klappe«, rufe ich.

Auf dem Strand steht eine Sonnenliege. Ich lege mich darauf und mache sie dadurch zur Mondliege. Ich sehe die Sterne und den Mond und wie sein goldenes Licht auf dem Meer und selbst auf meiner Haut glitzert.

Plötzlich spüre ich, wie etwas an meinem Bein entlang krabbelt. Es ist der kleine, grüne Gecko. Er kommt bis auf meine Brust und schaut mich mit seinen lustigen Augen neugierig an. Ich streiche ihm sanft mit einem Finger über den Rücken. Dabei fühle ich nicht, was ich tue, aber ich empfinde Freude, meine und die des kleinen Geckos. Ich weiß, dass er sich freut, weil ich jetzt hier bin. Dann frage ich mich, wo das Huhn jetzt sein mag?

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