Читать книгу Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten - Kristine Weitzels - Страница 9

Оглавление

Kapitel 4

Lebe wohl und suche so leicht als möglich zu tragen,

was nicht zu ändern ist.

Platón


Träume ich wieder?

Ich rieche Schweiß, meinen Schweiß. Igitt, der Schweiß riecht extrem sauer. Ich stinke wie ein vollgepisstes Katzenklo! Es muss einfach ein Traum sein, denn ich merke auch, dass dieser Gestank mich nicht wirklich stört. Vielmehr ist es so, als sei ich daran gewöhnt und würde meinen eigenen widerlichen Körpergeruch gar nicht mehr wahrnehmen. Er gehört zu mir, wie die Nikotinwolke zum Kettenraucher. Außerdem bin ich jetzt fett, unglaublich fett!

Da wo ich jetzt bin, ist es zudem unerträglich heiß. Die Hitze stört mich schon eher, obwohl ich auch daran gewöhnt zu sein scheine. Ich stöhne und wische mir andauernd mit einem Ärmel über die nasse Stirn. Nicht, dass es helfen würde. Ich schwitze einfach weiter. Wie ein prall gefüllter Wassersack, mit unzähligen winzigen Löchern, aus denen in einem fort das Wasser quillt.

Es ist eine vollkommen neue Erfahrung für mich. Zu Lebzeiten, jedenfalls zu Lebzeiten in meiner letzten Inkarnation, habe ich nie so geschwitzt, selbst bei 35 Grad im Schatten nicht. Aber da war ich auch eine schlanke Frau. Unerklärlicherweise fühle ich mich in diesem „Fleischberg“ jedoch sehr wohl — wenn nur diese elende Hitze nicht wäre!

Mein edles Hemd trieft vor Schweiß. Es ist aus rubinroter feinster Seide und hat Knöpfe aus purem Gold. Die Knöpfe tragen zudem das Emblem eines mächtigen Sultans, der mein Vater ist. Auch mein goldener Siegelring trägt dieses Abzeichen. Ich trage viele Ringe. Zehn Stück, um genau zu sein. Einen Ring an jedem Finger. Alle sind groß und viele mit Rubinen und Smaragden besetzt. Ich mag Edelsteine, weil sie das Licht durchscheinen lassen, anders als Gold und Silber. Meine Armreifen sind aus Gold und Silber. Sie klimpern jedes Mal aneinander, wenn ich mir mit dem Ärmel die Stirn abwische.

Schatten, denke ich. Schatten und ein großer Krug gekühlter Pflaumenwein!

Und ich denke an noch etwas, etwas das eine Regung in meiner Hose erzeugt und mir, trotz der Hitze, ein schiefes Grinsen aufs Gesicht zaubert. Ich schaue nach unten. Nicht, dass es mich stört, wenn jemand meine Erregung bemerken würde. Das wäre nichts, für das ich mich schämen müsste. Alles an mir ist wuchtig und groß, nicht nur Bauch und Brust.

Durch den Blick auf meine Hose, sehe ich, dass auch sie aus feinster Seide besteht, smaragdgrüner Seide. Und ich sehe auch meine Schuhe.

Oder sollte ich besser sagen: Pantoffel?

Noch dazu reichlich bestickt mit Pailletten aus Gold und Silber und nach oben gebogenen Spitzen mit roten Bömmelchen. Bei jedem meiner Schritte tanzen sie lustig hin und her.

Dann wandert mein Blick zu dem, was vor mir liegt. Ich bin unterwegs.

Unterwegs wohin?

><><><

Überrascht stelle ich fest, dass ich jetzt auf einem Kamel sitze. Über mir ist ein Baldachin, der mich vor der sengenden Sonne schützen soll. Vor mir taucht gerade ein riesiges Bauwerk auf und ich halte mein Kamel an. Neben mir kommt ein weiteres Kamel zum Stehen, auf dem mein Adjutant sitzt. Mich interessiert jedoch nur das Bauwerk. Von hier oben kann ich es gut überblicken. Es sieht aus wie auf der Zeichnung des Gärtners, nur ist es mittlerweile verwahrlost und die Pflanzen haben, anders als auf der Zeichnung, gänzlich davon Besitz ergriffen. Unglaublich, dass trotz dieser Hitze immer noch etwas so üppig gedeihen kann. Aber deshalb bin ich nicht den weiten Weg gekommen. Mich interessieren nur die großen Maueröffnungen, die riesigen „Fenster“, sind immer noch gut zu erkennen.

Mir wird plötzlich klar, dass ich Architekt bin. Ein persischer Architekt. Und ich bereise die Welt auf der Suche nach ganz bestimmten Bauwerken, denn ich habe eine Vision.

Dieses Wissen über meine Person sickert tröpfchenweise durch, so wie der Schweiß durch mein Seidenhemd. Jeder Architekt meiner Zeit ist nur darauf erpicht Tempel oder Pyramiden zu bauen. Riesige monströse Bauten für Götter oder Tote, während die Mehrheit der Bevölkerung in Lehmhütten haust. Meine Vision ist für die Lebenden, etwas in dem ganze Familien wohnen können. Ein Bauwerk, so hoch, dass es alles andere überragt, selbst die Pyramiden! Und in meiner Vision hat dieses Bauwerk viele große Fenster, bis ganz hoch oben wird es von Licht durchflutet sein. Ich habe ihm den Namen Sonnenhaus gegeben. Leider sind all meine Konstruktionen bislang an eben diesen Fenstern gescheitert. Sie brachen in sich zusammen, weil die wenigen Mauern das Gewicht der darüber liegenden Etagen nicht mehr tragen konnten.

In Alexandria baut man gerade einen Leuchtturm, der ebenfalls höher werden soll als die Pyramiden. Aber auch er wird nahezu fensterlos sein. Fensterlose Gebäude sind dunkel und seelenlos. Selbst hier im glühend heißen Babylon erzeugen diese „Mausoleen“ bei mir Unwohlsein, sorgen aber andererseits für angenehm kühlen Wein.

Genervt wische ich mir wieder den Schweiß von der Stirn, diesmal jedoch mit einem spitzenbesetzten Tuch. Zugegeben, die Mausoleen haben bei dieser Hitze einen entscheidenden Vorteil, trotzdem will ich in die Geschichte eingehen als der Architekt des Sonnenhauses! Das soll mein Vermächtnis für die Nachwelt sein: ein hohes, sonnendurchflutetes Haus. Ich möchte, dass mein Name später zusammen mit denen von Kallikrates, Sostratos und Cheops genannt wird.

Ich experimentiere mit Glas. Es ist ein wunderbares Material. In Ägypten habe ich ein Verfahren kennengelernt, mit dem man es entfärben kann. Dadurch ist die Herstellung von farblosem, also gänzlich lichtdurchlässigem Glas möglich. Die Ägypter stellen es schon seit Hunderten von Jahren her und formen daraus niedliche kleine Gefäße, für ihre Sälbchen und duftenden Ölchen. Leider ist dieses Glas aber zu dünn, um meine Probleme mit der Statik zu lösen. Ich brauche ein Material, das so hart und tragfähig ist wie Eisen und gleichzeitig so lichtdurchlässig wie ägyptisches Glas. Ich wäre sogar bereit, Diamanten in die Fensteröffnungen einzusetzen. Sie sind sehr hart und deshalb auch tragfähig. Nur leider gibt es keine Diamanten, die groß genug wären.

Mein Adjutant liegt mir ständig mit der Idee in den Ohren, jede neue Etage des Sonnenhauses mit Eisenträgern auf dem Fundament abzustützen. Dann bräuchte das dünne Glas nichts mehr tragen und man könnte es nur zum Schutz vor Wind und Wetter einsetzen. Zugegeben, die Idee ist gut. Sie ist sogar genial! Aber weil sie nicht von mir ist, kann ich sie nicht akzeptieren.

Ich konzentriere mich wieder auf das Bauwerk vor mir. Das Gebäude ist circa 30 Meter hoch, quadratisch und verfügt über sechs Etagen. Jedes Stockwerk, außer dem Untersten, hat mehr Öffnungen als Mauerwerk. Das Erdgeschoss ist am größten. Die nächste Etage ist kleiner, sodass ringsherum eine breite Terrasse entsteht. Darauf wurde wieder eine kleinere Etage gebaut und so weiter. Alle Terrassen wurden zudem mit üppig wachsenden Büschen und Blumen bepflanzt, die weit über die Ränder hinunterhängen. Daher auch der Name des Bauwerks: die Hängenden Gärten. Und obwohl das Haus nicht mehr bewohnt wird, ist sein Bewässerungssystem teilweise noch intakt. Mönche versuchen, es so gut wie möglich instand zu halten, und haben die Pflege der Pflanzen übernommen.

Doch so schön und majestätisch dieses Bauwerk auch ist - und in meinen Augen ist es viel majestätischer als die Pyramiden — wäre die Konstruktion keine Lösung für meine Probleme. Ich bin äußerst gut in Mathematik und ich brauche nicht lange, um auszurechnen, wie groß das Erdgeschoss des Sonnenhauses sein müsste, um in dieser Bauart ein Gebäude mit Fenstern zu errichten, das höher wäre als die Cheops-Pyramide. Ganz abgesehen davon, dass ich dessen Fertigstellung nicht mehr erleben würde. Etwas, das für mich ebenfalls inakzeptabel wäre.

Dennoch hat sich die Reise gelohnt. Die Hängenden Gärten sind ein wunderschönes Bauwerk und trotz der vielen Öffnungen hat es die Zeit überdauert. Etwas, das mir auf meiner Heimreise Hoffnung gibt.

><><><

Ich liege in einem Bett mit bronzenem Baldachin, in dem ich mein selbstgefälliges Spiegelbild erkenne: mein rundes fleischiges, aber in meinen Augen dennoch attraktives Gesicht, die pechschwarzen ölig-glänzenden Löckchen, die bis zu meinen massigen Schultern reichen, meine dunkle Haut, die wulstigen Lippen, die viel zu kleine spitze Nase, die schweren goldenen Kreolen, welche meine langen Ohrläppchen zieren und die dicke goldene Kette auf meiner üppig behaarten Brust. Ich sehe auch meinen riesigen Bauch, der von gutem Appetit und Reichtum zeugt. Und ich sehe die schwarze Schönheit, die rittlings auf mir sitzt. Ich habe endlich der Regung in meiner Hose nachgegeben und in den letzten Nächten, seit meiner Ankunft in Mesopotamien, habe ich immer dieses Freudenhaus aufgesucht und hier auch die Nächte verbracht. Ganz zum Leidwesen meines Adjutanten, obwohl hier auch Knaben feilgeboten werden.

Mir persönlich liegt mehr an den schwarzhäutigen Schönheiten Afrikas. In ihnen erkenne ich IStar, die Göttin der Liebe. Und was gäbe es Schöneres, als die fleischliche Lust — wäre da nicht meine Vision, die immer wieder dafür sorgt, dass mich ein schlechtes Gewissen plagt!

><><><

Ich bin jetzt etwas älter geworden und sitze über einem Teller Hammelfleisch mit Feigen und einer Karaffe Pflaumenwein. Je mehr ich esse, desto mehr Hunger bekomme ich. Ich schwitze und ich habe Durst. Mein Körper verlangt nach Wasser, trotzdem trinke ich Wein. Mir rennt die Zeit davon, doch ich spüle dieses Wissen mit Alkohol aus meinem Kopf, betäube so mein Gewissen, das an mir nagt, wie die Ratte am Knochen!

><><><

Wieder ist Zeit vergangen. Kostbare Zeit und ich habe den Zenit meines Lebens mittlerweile überschritten. Wir sind jetzt in der Bibliothek von Alexandria. Zusammen mit meinem Adjutanten durchsuche ich alle Schriftrollen, die seit unserem letzten Besuch hier hinterlegt wurden. Jedes Schiff, das den Hafen anläuft, ist verpflichtet, seine Logbücher und Kartografien hier abzugeben, ebenso wie jede Karawane. Schreiber kopieren alles damit Gelehrte, wie ich, es einsehen können. Ich hoffe immer noch, hier eine Erwähnung über tragfähiges Glas zu finden oder über die Entwicklung eines anderen Materials, das zwar genauso lichtdurchlässig ist, aber wesentlich härter. Die Idee meines Adjutanten habe ich nie weiterverfolgt, obwohl ich weiß, dass sie die Lösung aller Probleme gewesen wäre!

Dann fällt mein Blick auf eine der Bibliothekarinnen. Sie sieht aus wie *Kleopatra, die von den Alexandrinern abfällig als die Syrerin bezeichnet wird. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die Bibliothekarin ist ihre Zwillingsschwester. Ich glaube, die Bibliothekarin weiß um ihre Ähnlichkeit mit der Königin, deshalb auch ihre Zurückhaltung. Wahrscheinlich erfährt auch sie die gleiche ablehnende Haltung wie ihre ungeliebte Doppelgängerin. Mir wird bewusst, dass ich sie wieder einmal angeschmachtet habe. Ich bin mir sicher, dass ich ein wenig Freude in ihr tristes Dasein bringen könnte.

Mein Adjutant räuspert sich und wirft mir einen missbilligenden Blick zu. Er hält mir vor, immer mehr dem Laster zu verfallen: Essen, Trinken, Huren und selbst die Reisen zu ausgewöhnlichen Bauwerken hätten nichts mehr mit dem Sonnenhaus und „unserer“ Vision zu tun. Insgeheim frage ich mich, wann eigentlich aus meiner Vision unsere wurde und wann aus unserer, seine wird!

Vielleicht hat er ja recht?

Ich habe mittlerweile die ganze bekannte Welt mehrmals bereist. Ich war in Rom und Athen, auf dem schwarzen Kontinent und im Reich der Mitte. Doch selbst wenn mir jetzt sofort und hier auf der Stelle die Lösung für den Bau des Sonnenhauses einfiele, würde ich dessen Fertigstellung wohl nicht mehr erleben. Am liebsten läge ich nur noch den ganzen Tag auf einem Diwan und ließe mir von einer nackten Schönheit Luft zu fächern, während eine andere mich mit süßen Nüssen und Datteln füttert oder mir Wein reicht. Zum Teufel also mit meiner Vision und zum Teufel mit meinem Adjutanten!

><><><

Ich liege wieder auf einem prächtigen Bett und lasse mich von zwei Schönheiten gerade oral befriedigen. Zuerst denke ich, dass ich mich dabei wieder selbst in einem Baldachin aus Bronze oder Kupfer sehe, aber das Bild ist einfach zu scharf. Mit dieser Klarheit und Genauigkeit habe ich mir noch nie zugeschaut und erschrecke: Dieser riesige Fleischberg auf dem Bett, bin das tatsächlich ich?

Mein gigantischer Bauch hängt nach beiden Seiten, genauso wie meine Brüste. Die beiden Frauen müssen meine „Schwarte“ regelrecht anheben, um überhaupt… .

Angewidert wende ich mich von mir ab.

Plötzlich schreit eine der beiden Frauen laut auf und die andere fängt an, mich zu schütteln. Dann weichen beide zurück, laufen zur Tür und ich bleibe allein mit mir zurück.

Wie konnte ich nur so fett werden? Vielleicht sollte ich eine Zeit lang auf die kandierten Früchte verzichten?

Ich betrachte mich ein wenig mehr aus der Nähe.

Nun gut, ich mag zwar zu dick sein, aber ich habe immer noch prachtvolles Haar.

Bei genauerer Betrachtung sehe ich jedoch, dass meine Locken mittlerweile ergraut sind.

Jemand betritt den Raum und ich weiche automatisch wieder ein wenig zurück. Es ist mein Adjutant, der da hastigen Schrittes das Zimmer betritt. Dann stürzt er an mein Bett und rüttelt und schüttelt mich ebenfalls. Hin und her gerissen zwischen Belustigung und Ärger frage ich mich, was das soll?

Wenn ich eingeschlafen bin, dann lasst mich doch einfach in Ruhe!

Zu allem Überfluss legt mein Adjutant auch noch seinen Kopf auf meine Brust und fängt bitterlich an zu weinen. Seine dünnen Ärmchen umarmen mich.

Irgendwie habe ich immer geahnt, dass er heimlich in mich verliebt ist.

Während ich ihn so von oben herab betrachte, sehe ich, wie sehr sich sein Kopfhaar schon gelichtet hat, obwohl er bestimmt um einiges jünger ist als ich. Ganz oben auf dem Kopf hat er sogar eine große kahle Stelle. Ich verkneife mir ein Grinsen.

Da hat er sein Leben lang asketisch auf sämtliche Freuden verzichtet und dann bekommt er auch noch eine Glatze!

Meine Mutter hat mir früher die Haare mit Urin gewaschen. Das half gegen Ungeziefer und sorgte für eine volle Pracht. Leider hat meine Mutter nie die Zeit festgehalten und so weiß ich nicht genau, wie alt ich bin.

Aber vielleicht sollte ich meinem Adjutanten von hier oben einfach mal auf den Kopf pinkeln?

Bei der Vorstellung muss ich lachen.

Wie kann es überhaupt möglich sein, dass ich gleichzeitig hier oben und da unten bin? Und wieso hört mein Adjutant nicht auf zu weinen?

Und dann ist plötzlich meine Mutter da. Meine Mutter, die starb, als ich noch ein ganz junger Mann war. Wie habe ich sie geliebt! Keine andere Frau konnte ihr jemals das Wasser reichen und wahrscheinlich habe ich deshalb nie geheiratet. Sie lächelt mir zu und nimmt meine Hand.

»Komm«, höre ich ihre Stimme und dann zieht es mich fort.

(*Hier ist die Rede von Kleopatra der Ersten. Nicht zu verwechseln mit der berühmten Kleopatra III. Kleopatra die Erste lebte von ca. 204-176 v. Chr.)

Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten

Подняться наверх