Читать книгу Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten - Kristine Weitzels - Страница 8

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Kapitel 3

Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele.

Platón


Es dämmert.

Dämmert es, weil ich das will? Habe ich Einfluss darauf, wann es hell und dunkel ist? Kann ich es immer Tag oder immer Nacht sein lassen?

Ich ahne, dass ich noch viel Zeit haben werde, all dies herauszufinden. Obwohl „Zeit“ dafür wahrscheinlich nicht der richtige Terminus ist.

»Raum trifft es besser«, meldet sich mein Verstand. »Du wirst genug Raum haben, alles zu entdecken und zu verstehen.«

Ich beschließe erneut, ihn zu ignorieren, denn erst mal möchte ich mich einfach nur erholen. Ja, das trifft es ganz genau: Ich habe wirklich ein sehr großes Bedürfnis danach, einfach nur nichts zu tun! Was jedoch leichter gesagt ist als getan. Faulenzen, also wirklich gar nichts tun, war noch nie so mein Ding. Aber ich hätte jetzt Lust, ein Buch zu lesen.

Hatte ich im Strandhaus nicht auch ein Bücherregal gesehen?

Wie auf Kommando krabbelt der kleine Gecko von meiner Brust, verschwindet und ich gehe zurück zum Haus. Das Huhn steht jetzt auf der Veranda und sucht imaginäres Futter zwischen den Bohlen.

Im Bücherregal stehen alle Bücher meiner Lieblingsautoren. Alles Bücher, die ich schon gelesen habe. Kurz vor meinem Tod war allerdings gerade der neue Roman meines absoluten Favoriten erschienen. Leider hatte ich keine Zeit mehr gehabt, das Buch zu kaufen und zu lesen.

»Falsch«, sagt mein Verstand, »Zeit hättest du schon noch gehabt. Du hast dir nur den Raum nicht mehr gegönnt!«

Zeit! Raum! Was macht das schon für einen Unterschied?

Ja, vielleicht hatte ich mir wirklich nicht mehr den „Raum“ gegönnt. Aber so war ich halt — oder so bin ich noch immer: Streng zu mir selbst. Deshalb plagt mich jetzt auch mein schlechtes Gewissen. Es plagt mich immer dann, wenn ich mal nichts tue und die Seele baumeln lasse. Diese Redewendung lässt mich unwillkürlich schmunzeln.

»Nun, dafür bist du ja hier — um dich zu erholen und zu regenerieren. Deshalb darfst du jetzt ruhig ein Buch lesen, meinetwegen auch zwei oder drei. Aber an der Aufarbeitung wirst du nicht vorbei kommen. Sie gehört einfach dazu. Nenne es die Baustelle im Paradies!«

Ich tue so, als hätte ich meinen Verstand wieder nicht gehört.

»Mal sehen, ob dieses neue Buch nicht auch hier irgendwo steht«, rede ich mit mir selbst und bewege dabei demonstrativ die Lippen — obwohl kein Ton zu hören ist, außer in meinem Kopf.

Wenn ich das Meeresrauschen wirklich hören kann, könnte ich dann auch meine eigene Stimme wirklich hören?

Ich seufzte und bin mir total sicher, mein Seufzen wirklich gehört zu haben, nicht nur in meinem Kopf! Als nächstes versuche ich es mit Singen. Dazu bewege ich meine Lippen ganz intensiv, so wie ich es tun würde, wenn ich wüsste, dass jemand versucht sie zu lesen.

Ich singe la-le-li-lo-lu. Mir fällt nichts anderes ein.

Noch einmal: »La-le-li-lo-lu, nur der Mann im Mond hört zu… ?«

Doch da ist nichts, nur Stille. Die Silben klingen nur in meinem Kopf. Aber ich bin mir ziemlich sicher, das Meer nicht nur in meinem Kopf zu hören.

Hm, vielleicht sollte ich herausfinden, ob es hier ein Echo gibt? Vielleicht sollte ich mich einfach an den Strand stellen und wie eine Irre anfangen zu schreien?

Diese Idee verwerfe ich ganz schnell wieder. Irgendwie ist das alles doch noch viel zu anstrengend für mich.

Stattdessen mache ich mich auf die Suche nach dem Buch. Im Bücherregal steht es jedenfalls nicht. Einer Eingebung folgend wandert mein Blick zum Nachttisch — und tatsächlich liegt es gleich neben dem Bettchen des Geckos. Noch dazu als Paperback in der XXL-Ausgabe, mit extra großer Schrift, so wie ich meine Bücher am liebsten mag.

Logisch, denke ich, wo hätte das Buch denn auch sonst liegen sollen!


Gleich rechts neben dem Strandhaus hängt zwischen zwei Palmen eine sehr einladende Hängematte. Genau der richtige Platz für mich und das Buch. Ich kann jetzt auch deutlich eine Sonne sehen, die über einem vermeintlichen, aber sehr blauen Himmel steht. Nur das mit den Schatten bekomme ich einfach nicht hin. Dafür habe ich aber Einfluss darauf, wie schnell oder langsam die Sonne ihre Position verändert und das ist irgendwie ziemlich cool!

Das Buch ist sehr spannend. Ich beschließe, es an einem Stück auszulesen, weshalb ich die Sonne nur sehr langsam weiterwandern lasse. Multitasking scheint also auch „hier oben“ noch zu funktionieren: Ich lese ein Buch und lasse gleichzeitig die Sonne wandern. Allerdings habe ich in der Hängematte das Gefühl, als kribbele meine Haut und ich spüre auch ein leichtes Vibrieren. Beides ist nicht wirklich unangenehm, trotzdem nervt es irgendwie und deshalb ziehe ich auf die Sonnenliege am Wasser um.

Ob ich durch diese Sonne auch so etwas wie einen Sonnenbrand bekommen kann?

Ich betrachte meine Haut. Sie ist gebräunt, wie früher, als ich noch die Frau war, der dieser Körper einst gehörte.

»Das ist nicht derselbe Körper! Damals war er aus Fleisch und Blut«, quakt mein Verstand.

Wie angenehm ruhig er doch während des Lesens gewesen war.

»Oh, dich gibts ja auch noch«, blaffe ich zurück. »Fast hätte ich deine spitzen Bemerkungen schon vermisst.«

Um ihn spüren zu lassen, dass ich immer noch nicht an seiner Gesellschaft interessiert bin, konzentriere ich mich demonstrativ auf das Meer.

Ob man darin schwimmen könnte?

»Natürlich kannst du darin schwimmen, genauso wie du auf dem Sand laufen kannst. Und zudem — was glaubst du, was passiert, wenn du ertrinkst? Noch mal sterben kannst du nicht!«

»Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, dass du jemals so kaltschnäuzig gewesen bist«, antworte ich gekränkt. »Und angesichts der Tatsache, dass wir beide hier die einzigen intelligenten… .«

Mir fällt leider die passende Bezeichnung nicht ein.

»Ja, sag‘ es«, ruft mein Verstand. »Angesichts der Tatsache, dass wir beide hier die einzigen intelligenten Energieformen sind.«

»Von mir aus! Dann sind wir eben bloß Energie. Für dich mag das auch O.K. sein, aber DU hast auch nie einen Körper aus Fleisch und Blut besessen und weißt nicht, wie das ist! DU warst immer nur in meinem Kopf, ob blutleer oder nicht. Energieform hin oder her. Aber ich wünschte mir wirklich, du würdest ein bisschen mehr Rücksicht auf meine momentanen Gefühle nehmen!«

Damit ist alles gesagt und ich laufe ins Meer. In meiner letzten Inkarnation war ich, obwohl wasserscheu, eine gute Schwimmerin. Aber vielleicht war ja die Information, gut schwimmen zu können, schon in mir abgespeichert, aus einer früheren Inkarnation? Ich spüre jedenfalls, dass mich und das Meer etwas ganz Besonderes verbindet und nach der Scheidung in meinem letzten Leben hatte ich nichts mehr vermisst, als die salzige Luft und das Meeresrauschen.

Befinde ich mich deshalb jetzt am Meer, um meine Sehnsucht zu stillen?

Aber irgendwie ahne ich auch, dass ich schon viele Leben am Meer hatte. „Inkarnationen mit Meerblick“ sozusagen. Klingt ein wenig wie aus einem Reisekatalog: „Buchen Sie mit uns ihr nächstes Leben! Wir haben alles im Programm, von Meerblick bis Wildwest!“

Nur: Wer war in dem Falle „wir“?

Wieder so eine Sache, über die ich noch nicht nachdenken möchte. Auch das Surfbrett, das plötzlich neben der Hängematte im Sand steckt, will ich nicht sehen. Aber ich will auch nicht hingehen und es wegräumen.

Du wolltest faulenzen, das Buch lesen und schwimmen, alles andere hat Zeit, denke ich und mein Verstand fügt seufzend hinzu: »Zum Glück ist Zeit relativ.«


Das Wasser trägt mich. Vielleicht etwas mehr als sonst, so wie das Tote Meer mit seinem extrem hohen Salzgehalt.

Ob dieses Wasser auch salzig schmeckt?

Ich tauche unter und strecke vorsichtig meine Zungenspitze raus. Doch ich schmecke nichts. Mir kommt ein anderer Gedanke: Ich spüre auch keinen Hunger oder Durst.

Ja aber nur, weil du es nicht willst oder bislang einfach noch nicht daran gedacht hast.

Und ich tue auch so, als ob ich atmen würde, obwohl es hier keinen Sauerstoff gibt. ―Wieder so ein Thema, um das ich lieber einen Bogen mache.

Wenn ich eins weiß, dann dass ich jetzt vor allen Dingen Erholung brauche. Alles andere kann warten. Meine letzte Inkarnation war wirklich kein Zuckerschlecken, aber damit will ich mich jetzt erst recht nicht beschäftigen!

Habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen?

Die Lust am Schwimmen ist mir jedenfalls vergangen. Ich kehre zurück zur Liege und flüchte mich erneut in das Buch.

Erwachen - Eine Reise in Corona-Zeiten

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