Читать книгу Sterben mit oder ohne Gott? - Käthy Hess-Widmer - Страница 10
ОглавлениеStefan B., 78
Es war vor langer Zeit, da wurde ich zu Stefan B. gerufen. Leidend lag er da, nackt, der Leib verstellt mit einer kindskopfgroßen Geschwulst, nur in Windeln gewickelt, ganz armselig. Der Anblick war traurig und auch unschön.
Stefan sprach kein Wort. Konnte er nicht mehr, oder wollte er nicht? Sprach ich ihn an, gab er mir kein Zeichen. Wie nur konnte ich herausfinden, was er brauchte? Sein Gesicht war sterbend. Grau und fahl mit einer spitzigen Nase. Sein Atem äusserst mühsam.
Die Pflegerin hatte keine Ahnung, ob er ein gläubiger Mann war. Auf seiner Karteikarte sei nichts erwähnt, meinte sie teilnahmslos. Mich trifft solches immer wieder, ist doch das Religiöse das Fundament eines jeden Lebens. Wie will einer ein gutes Leben haben ohne Rückbindung zum Schöpfer? Wie will sich ein leitender Berufsmann oder eine Berufsfrau, bestens ausgebildet, ein Leben lang um Menschen kümmern, wenn ihnen diese Ebene verschlossen ist?
Solche und viele ähnliche Fragen gingen mir am Anfang dieser Nacht durch den Kopf. Ich wurde hilflos, innerlich sogar leicht aufgebracht. Sollen sie doch alle leiden, dachte ich! Solch freche und ungehaltene Gedanken stiegen mir auf, und ich schämte mich tief.
Sachte deckte ich Stefan mit dem Leintuch zu, mehr weil ich diesen nackten sterbenden Anblick nicht aushielt. Aber er strampelte das Leintuch augenblicklich wieder weg. Solches Verhalten traf ich immer wieder an; oft leidet nämlich der Leib so entsetzlich, dass sogar das sanfte Berühren eines Leintuchs brennenden Schmerz auf der Haut auslösen kann. Ich setzte mich am Fußende des Bettes auf einem Stuhl.
Also wird Stefan nun die ganze Nacht durch nackt und in Windeln eingepackt vor mir liegen? Selbst nach vielen Wachenächten war es für mich nicht einfach, diesen Anblick stundenlang auszuhalten. Dann die Geschwulst am Kopf.
Wir schwiegen beide ein bisschen in die Nacht hinein. Es ist schwierig, in solchen Situationen nicht müde zu werden und sich nicht ablenken zu lassen von tausend Dingen.
Gegen Mitternacht nahm ich den „Akathistos“-Hymnus aus meinem Korb hervor. Er gehört zu jenen Kleinigkeiten, die mich stets begleiten, wenn ich in eine Sterbe-Nacht gehe. Vierundzwanzig Strophen sind’s, ein Loblied auf die Muttergottes und auf Christus. Über Jahrhunderte wurde er in den östlichen Klöstern gesungen. Neunzehn Strophen hatte ich zu Hause gelassen, fünf aber waren da. Ich begann zaghaft und leise zu summen und beobachtete Stefans Gesicht. Sein Atem wurde ruhiger, sanfter.
Als ich nach einer Weile diesen Hymnus leise mit Worten sang, stellte ich fest, dass sich der leidende Leib von Stefan entspannte. Alles an ihm wurde weicher. Ich sang und sang, eine Stunde, zwei Stunden lang und mehr. Nach und nach wandelte sich sein Klinikzimmer in eine Kapelle, erfüllt vom Geiste Christi und Mariens.
Da, plötzlich füllten sich seine sterbenden Augen mit Wasser. Eine Träne rann ihm über die Schläfe aufs Kissen. Eine zweite folgte, und daraus gab’s einen ganzen Bach.
Sachte ging ich an sein Bett. Wortlos trocknete ich Stefan sein Gesicht. Er, der stumm schien, begann zu reden:
„Singen Sie weiter, das ist so schön! Das ist genau, was ich nun brauche.“
Und also sang ich so lange wie mich meine Stimme trug, immer wieder Strophe eins bis fünf; und was in mir geschah, überraschte mich: Ich hielt den nackten, leidenden Leib von Stefan mühelos aus. Keine Abscheu mehr und keinen Widerstand, obwohl die Krankheit ihn ganz verstellte.
Wochen darauf traf ich eine Sitzwach-Kollegin einer anderen Gruppe. Jung und dynamisch war sie. Sie erzählte mir von der Nacht darauf, wie Stefan einsam und traurig gestorben war.
Ob sie mit ihm auch gebetet oder ihm gesungen habe, fragte ich scheu.
„Ah nein, solches tue ich nie“, gab sie spontan und eher unbeteiligt zur Antwort. „Ich nehme immer Kreuzworträtsel mit, damit ich nicht einschlafe.“
Mich erschütterte ihre Reaktion. Es versetzte mir einen Stich. Diese Sitzwachkollegin hatte keine Ahnung, was ich mit Stefan nachts zuvor erlebt hatte.