Читать книгу Sterben mit oder ohne Gott? - Käthy Hess-Widmer - Страница 6
ОглавлениеBeat S., 84
Beim ersten Einsatz kam ich zu einem betagten Mann, der tief im Sterben lag. Seine Arme und Beine waren mangelnder Durchblutung bereits schwarz. Sein Hörgerät lag auf dem Nachttisch. Er trug eine Brille mit schweren Gläsern. Unbeweglich lag er im Bett, als wäre er schon verstorben.
Die Nachtpflegefachfrau sagte mir:
„Hören tut er nichts. Eine Kommunikation wird nicht möglich sein.“
So kam ich damals mit viel Unsicherheit an Beat’s Bett. Er öffnete für einen kurzen Augenblick seine müden Augen. Ich nickte ihm wortlos zu und setzte mich nahe an sein Bett.
Vom Sterben hatte ich damals keine grosse Ahnung. Wir wurden wohl im Vorbereitungskurs zum Sterben hingeführt, aber niemals so, wie ich nach all diesen Begleitungen meine, es müsste geschehen.
Aus dem „Tibetanischen Buch vom Leben und Sterben“ von Sogyl Rimpoche wusste ich, dass das Ohr lange über den Tod hinaus Worte aufnehmen kann. Also sagte ich diesem sterbenden Mann, dass wir nun zusammen versuchen wollen, sein Leben Gott zurückzugeben mit allem, was in seiner langen irdischen Zeit geschehen war, und dass ich die ganze Nacht bei ihm bleiben werde, falls er das wünschte. Nur leise sagte ich das, um zu beobachten, ob Beat trotz seiner Schwerhörigkeit verstand.
Zu meinem großen Erstaunen reagierte Beat. Er nickte mir jedes Mal zu. Ich gab mit wenigen Worten sein Leben dem Schöpfer zurück und bat ihn, so gut es ihm möglich sei, das nachzuvollziehen. Wieder nickte Beat. Nur flüsternd sprach ich diese paar Sätze, nur für ihn und für mich. Ein Gebet aber war es nicht.
Es war eine warme und innige Atmosphäre damals beim Beat, aber ich wagte nicht, mit ihm zu beten. Meine Unbeholfenheit war groß, denn ich war damals im Gebet viel zu wenig verwurzelt, als dass ich mit einem Sterbenden hätte beten können. Zudem war ich berührt zu merken, dass dieser Patient trotz seiner Schwerhörigkeit mein leises Sprechen verstand.
Gegen 04.00 Uhr morgens hauchte Beat sein irdisches Leben aus. Sanft verliess er diese Welt. Ein letztes Mal öffnete er seine schweren Augenlider, als möchte er sich verabschieden. Dann löschte sein irdisches Dasein aus.
Eine unbeschreibliche Atmosphäre war im Zimmer. Am ehesten kann ich sie vergleichen mit der Herzenswärme. Das ganze Zimmer war erfüllt davon. Lange saß ich beim Beat, ohne die Pflegefachfrau zu rufen. Dieser heilige Augenblick war für uns beide ein Geschenk.
Ein tiefes Glücksgefühl überkam mich in dieser Nacht, welches ich so vorher nicht kannte. Beat nahm mich offensichtlich ein Stück weit mit in sein Hineinsterben.
Als seine betagte Frau das sanfte Hineinsterben vernahm, war sie erleichtert. Nach einigen Wochen suchte ich sie in ihrer einfachen Wohnung auf. Vor ihr lag das Kirchengesangbuch. Sie fragte mich:
„Wie kann ich jetzt für meinen Mann beten? Er hat doch jetzt für sein Leben geradezustehen. Sind es die Psalmen, die ihm jetzt weiterhelfen?“
Eine wahre Sterbebegleiterin ist sie also gewesen!
Erst viel später wurde mir bewusst, dass dieser sterbende Beat S. und seine betagte Frau mir damals zeigten, in welche Richtung ich weiter zu suchen hatte.
Frau S. hat mich auf den wohl markantesten Unterschied zu landesüblicher Sterbebegleitung hingewiesen: Ist nämlich in einem Spital der Patient tot, also kein Patient mehr, sondern tot, dann ist es geschafft, die Arbeit ist getan.
Sie ist nicht restlos getan, jedenfalls für mich nicht, wie ich später lernen durfte. Diejenigen, die uns Kompetentes über die Verstorbenen zu sagen haben, lehren, dass, wenn Sterbende diese Welt verlassen, sie aus dem Bereich des eigenen Willens heraus sind und sich nicht mehr selbst helfen können.
Einstweilen war das für mich Theorie. Damals wusste ich nicht, was das für mich als Begleiterin in der Praxis hieß oder heißen konnte. Ich hatte es unterlassen, diesen Mann über längere Zeit in der Stille meines Herzens zu begleiten. Erst viel später merkte ich, dass Verstorbene unser liebendes Beten brauchen und es wohl auch zu meiner Aufgabe gehörte.