Читать книгу Sterben mit oder ohne Gott? - Käthy Hess-Widmer - Страница 9

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Beatrix, 18

Beatrix war eine junge Frau von der Gasse. Sie lag eines Nachts im Sterben. Gepackt von einer inneren Unruhe, war sie die ganze Nacht wach. Ein bisschen skeptisch war sie schon, als sie mich sah. Vermutlich erinnerte ich sie an ihre Mutter. Ich stellte meinen Stuhl so hin, dass reichlich Platz war zwischen ihr und mir. Ich wartete auf ein Zeichen.

„Ach, ich kann nicht schlafen, mir tut alles weh“, klagte Beatrix nach einer Weile.

Ihr Leib war gezeichnet von der Magersucht, ihre dünnen Arme zerstochen, Zeichen von der Gasse. Verzweifelte junge Frau. Achtzehn Jahre erst.

Wir begannen miteinander zu reden. Beatrix wurde immer wacher, ihre Leibschmerzen standen nicht mehr im Vordergrund. Vordergründig war nun ihr missratenes Leben, das vor Jahren unwiderruflich auf eine schiefe Bahn geraten war.

Beatrix erzählte von der Lieblosigkeit zu Hause und von den jungen Leuten, bei denen sie sich angenommen wusste, Drogenleute.

„Besser diese geschwächte Gruppe als mauseallein“, sagte sie.

Sie tat mir leid, diese junge Frau, furchtbar leid. Ihr Leben ging in schnellen Schritten dem Ende entgegen. Ich sah ihr das an. Sie wusste es von sich selbst. Sie wusste auch, dass ich es wusste. Es war etwas in dem Zimmer, das hieß: Bald wird mein irdisches Leben zu Ende sein!

Wenn wir Sterbende begleiten, werden wir erleben, wie sich jemand des unmittelbar bevorstehenden Todes bewusst ist, auch wenn die Besucher oft unüberlegt sagen: „Morgen geht es dir sicher wieder besser!“ Dumme Sprüche sind das, die den leidenden Menschen oft tief verletzen.

Noch blieb uns eine ganze, lange Nacht. Zwei fast leblose Augen, die um Hilfe schrien, schauten mich stundenlang an. In diesen Augen war eine abgrundtiefe Einsamkeit sichtbar, die mich sehr nachdenklich stimmte.

Gegen Morgen setzte sich Beatrix an den Bettrand, senkte ihren Kopf und sagte:

„Hätte ich das alles gewusst, was wir jetzt miteinander gesprochen haben, wäre mein Leben nicht so verschissen herausgekommen!“

Ich wusste damals schon, dass wahre Reue und Umkehr bis zum letzten Atemzug möglich sind. Ich meine das nicht als ein Müssen oder Sollen: „Du sollst bereuen!“ Ich meine etwas anderes. Ich habe erlebt, wie Friede kam kurz vor dem Tod, vollständiger, endgültiger Friede. Es geht in allem und jedem um die Anwesenheit Gottes hier bei uns; und dieser wahre Friede ist die Form Seiner Anwesenheit.

Sie sollen eines wissen: Der Friede, dieser gelöste Friede, der eine Seligkeit ist, welche nichts Altes, Verkrümmtes mehr stehen lässt, ist nur durch Gottes Anwesenheit unter uns landläufigen Menschen möglich.

Habe ich’s doch gewusst, dass Reue und Umkehr bis zum letzten Atemzug möglich sind. Aber diese junge Beatrix wollte nicht. Sie hätte noch die Kraft gehabt. Aber sie wollte nicht. Ihre Enttäuschung vom Leben war zu groß. In aller Verzweiflung legte sie sich zurück aufs Bett, wendete sich ab und zog sich wie ein Embryo zusammen. Zusammengekauert und apathisch lag sie da, als wäre sie schon verstorben.

Unzählige Male versuchte ich in dieser langen Nacht, diese junge Frau aus ihrem Eingesperrt-sein herauszulocken, denn sie war wach. Aber es gelang mir nicht. Beatrix wollte nicht. Sie blieb in ihrer Verweigerung und schloss sich darin ein. Fünf Stunden später war sie tot.

Es ist für mich wohl die schwierigste Nacht in diesen zweiundzwanzig Jahren gewesen.

Damals, in jener Nacht, ist mir gezeigt worden, dass die Herzenswärme der Schlüssel zum Leben und Sterben ist. Und dass die Herzenswärme also auch der Schlüssel zu Ihrem und meinem Leben ist.

Wir wissen das alle schon längst. Die Frage ist doch: Trifft es auch unser Herz, so dass wir es leben?

Sterben mit oder ohne Gott?

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