Читать книгу Sterben mit oder ohne Gott? - Käthy Hess-Widmer - Страница 8
ОглавлениеSelbstreflexion 1
„Ohne die Herzenswärme geht nichts“
Eines wurde mir klar:
Ich hatte meine Art des Begleitens selbst zu entdecken.
Nirgends habe ich damals in den Büchern gelesen, wie ich das zu tun hatte. Ich las über die verschiedenen Zustände, in denen Sterbende drin sein können – Phasen der Auflehnung und Phasen der Verzweiflung. Aber über die Liebesgeschichte zwischen dem Schöpfer und unserer Seele las ich nichts. Das hatte ich Schritt für Schritt selbst zu entdecken. Das musste erst in mir heranreifen wie ein Apfel, der durch die Wärme der Sonne über lange Zeit heranreift.
Es sind die Sterbenden, die durch viele Nächte hindurch meine Lehrmeister geworden sind. Sie haben mich in die Liebesschule geschickt, ohne dass sie darum gewusst hatten. Sie haben mich wortlos davor gewarnt, den Zeitpunkt meiner Umkehr auch nur einen Tag hinauszuschieben. Jetzt gilt es, richtig zu leben, und jetzt gilt es, verantwortungsvoll das mir anvertraute und geschenkte Leben in die richtige Ausrichtung zu bringen.
Leben und Sterben sind eng miteinander verbunden und verwoben. Nur wenn ich lerne, die Liebe unseres Schöpfers schrittweise aufzunehmen und mich bemühe, sie mehr und mehr zu beantworten, kann ich Ihm einmal in Freude entgegensterben. Exakt dies haben mich die vielen Sterbenden gelehrt, ohne dass sie es wussten.
Denn verweigere ich diese göttliche Liebe und will ich mich von ihr nicht anrühren lassen, verschließe mich also, weil ich alles aus meinem Eigenwillen heraus meine zu wissen und zu können, dann, ja dann kann es sehr wohl im Sterben schwierig werden. Viele Patienten haben mir das vorgelebt.
Ohne die Herzenswärme geht also nichts.
Kann es doch sein, dass unser sterbender Freund oder unsere Nachbarin schulmeisterliche Eltern gehabt und bloß einfältige Sexualität erlebt haben; und es ist jetzt ganz am Schluss, dass sie durch uns das andere erleben: Wir legen ihnen ein feuchtes Tüchlein auf die Stirn und zupfen ihnen das Kopfkissen zurecht. Wir machen ihnen das so, dass es nicht mehr nur um das Tüchlein und das Kissen geht, nicht mehr um Vorhänge zu oder Vorhänge auf, nicht mehr um die Blumen auf dem Tisch und Carmelas Apfelstücke, worüber Sie später hören werden, sondern es ist jetzt liebevoll und zärtlich. Das ist jetzt unsere Mitteilung:
die Herzenswärme und die Zartheit.
Etwas völlig Neues, für diese Schwerkranken womöglich kaum je Gehabtes. Und diese neue Zartheit macht den Sterbenden die Herzenstüre auf!
Sehen Sie, ganz merkwürdig ist das, wie menschliche Zärtlichkeit der göttlichen Hilfe Zutritt verschafft. Es ist eine Vermittlerrolle, die wir da übernehmen, ohne uns dessen bewusst zu sein.
Es ist jetzt anders geworden im Krankenzimmer.
Es ist, wie es ein Leben lang vielleicht nie war für den Sterbenden. Und dafür sind wir da am Bett eines schwerkranken Menschen. Gerade wir Frauen können das.
„Neuwerden“ heißt es in der hl. Schrift; eine Situation also gänzlich umdeuten mittels kleiner Gesten.
Wir werden später hören, wie die pflegebedürftige Carmela Faktisches gefordert und sich dabei aber nach Zuwendung gesehnt hat; und wie sie von all den weltlichen Tätigkeiten immer mehr gefordert hat, gleichzeitig aber von den Pflegenden immer weniger Zuwendung bekommen hat. Denn ihre Pflegerinnen damals haben draußen auf dem Korridor des Heimes getuschelt und zueinander gesagt:
„Die Frau Carmela ist wieder schrecklich, sie ist nicht zum Aushalten heute!“ Und dann sagen sie zu mir, wenn ich abends um 19.00 Uhr komme: „Wenn Sie da gewesen sind, ist sie danach ganz anders; wie machen Sie das bloß?“
Diese Pflegefachfrauen wussten von diesem „Geheimnis“ nichts, noch nichts. Sie gaben weltlich ihr Bestes, doch dass es darüber hinaus mehr braucht, das war ihnen – wie mir anfänglich auch - verschlossen. Wir müssen zuerst davon selbst angerührt werden. Nur so kann uns nach und nach aufgehen, dass es darüber hinaus noch was anderes gibt. Das ist ein langer, oft auch steiniger Weg, aber es lohnt sich, ihn zu entdecken und zu gehen!