Читать книгу Sterben mit oder ohne Gott? - Käthy Hess-Widmer - Страница 11

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Anton S., 92

Die Pflegerin, die Nachtdienst hat, meint, Herr S. sei sehr verwirrt und stets nachtaktiv. Sie wüsste bald nicht mehr, was mit ihm machen, so mühsam sei er; wegen einer Lungenentzündung sei er hier, er verhalte sich aber unmöglich, nichts könne man ihm recht machen. Unruhig liege er da, schlafe nachts nicht und döse den ganzen Tag vor sich hin.

Ich versuche, mich im kühlwirkenden Zimmer zu installieren, bete wie so oft als Einstieg in die Nacht ganz im Stillen den Barmherzigkeits-Rosenkranz der Sr. Faustina Kowalska aus Polen (1905–1938; im Jahr 2000 heiliggesprochen). Sie ist meine treue Begleiterin in den Sterbenächten. Ich glaube, sie lässt mich mit dem leidenden Menschen nie allein.

Er ist nicht gesprächig, der Herr S., er mag gar nicht, und in seiner Haut ist es ihm nicht wohl. Ich habe keine Ahnung, was ihn bedrückt. Sicher ist es nicht allein die Lungenentzündung.

Leise singe ich den „Introitus“ der klösterlichen Stundengebete, mal deutsch, dann wieder lateinisch. Herr S. reagiert nicht, wehrt aber auch nicht ab. Es ist ihm einerlei, ob ich etwas mit ihm tue oder ob ich mich zurückziehe. So oder so ist er enttäuscht vom Leben, sein Zustand ist wie die letzte Glut eines Feuers, die am Auslöschen ist.



Nicht immer gelingt es, die Ursache des Traurig-Seins eines Patienten herauszufinden. Manchmal wird es einem geschenkt, manches Mal eben nicht. Geht es, so ist es Sein Werk – geht es nicht, so hat man sich in Geduld und Demut zu üben.

Also, ich habe Zeit.

Es ist für mich immer dieselbe Frage: Wie kann ich zwischen Himmel und Erde Brücke sein, damit der Schwerkranke seine Seele für Gott öffnen mag?

In diesen vielen Nächten habe ich nämlich unzählige Male erlebt, dass die Patienten nicht mehr deprimiert waren, wenn sie es zuliessen, dass sich ihre Seele für Gott öffnen konnte.

Also bestürme ich die Sr. Faustina und die Muttergottes in der Stille meines Herzens, uns beiden jetzt beizustehen.

Gegen halb zwölf frage ich Herrn S.:

„Möchten Sie, dass wir miteinander beten?“

Ich weiß nicht eigentlich, warum ich in letzter Zeit so direkt frage. Er schaut mich mit seinen Schlitzaugen an und sagt:

„Wir können ja – vielleicht schadet es nichts!“

Herr S. setzt sich auf den Bettrand, eine mollige jahrzehntealte Strickjacke trägt er. Seine dick geschwollenen Füße berühren den Boden nicht. Seine Beine sind zu kurz. Da ich um 22.00 Uhr, als ich eintraf, nur Negatives von der Pflegerin vernahm, habe ich mich nahe vor Herrn S. hingesetzt, um ihn notfalls, wenn er vornüberkippen würde, auffangen zu können.

„Tagsüber müssen wir ihn anbinden, so unruhig und verwirrt ist er“, hat mir nämlich die Pflegefachfrau etwas spitz gesagt.

Ich beginne mit dem „Vaterunser“.

Er: „Das kann ich schon. Ich möchte das Glaubensbekenntnis beten, das kann ich nicht mehr.“

Also beginne ich damit; sehr langsam und sehr gesammelt versuche ich das zu tun, im Wissen, dass es nur gelingt, wenn das Einwirken des Himmels mit dabei ist und ich all meine Wünsche beiseitelasse. Herr S. spricht Wort für Wort nach. Er will dieses Gebet lernen. Man muss sich das vorstellen: Wie in der Schule will er in seinem hohen Alter etwas auswendig lernen. Er gibt nicht nach. Und sobald er beim Wiederholen stolpert, beginnt er wieder von vorne.

Plötzlich beginnt Herr S. zu schluchzen. Es schüttelt ihn. Ich halte ihn an den Knien und sage kein Wort. Tiefe Tränen kommen da, ein Schluchzen mit 92 und nicht etwa bloß ein leises Weinen.

Nach einiger Zeit frage ich:

„Was bedeuten Ihre tiefen Tränen? Möchten Sie darüber sprechen?“

Natürlich ist das eine dumme Frage, denn ich habe schon geahnt, warum er so tief weinte, ging es doch dem Ende entgegen, wo alles auf den Tisch kommt: Das gelebte und das verpasste Leben.

Und also erzählt Herr S.:

„Als ich jung war, meinte ich, eine Berufung für einen Einsatz in der Drittwelt zu spüren. Ich komme aus einem tiefgläubigen Elternhaus. Dann aber stand ich vor der Wahl, meine jetzige Frau zu heiraten oder für einen Einsatz nach Afrika zu gehen. Nach langem Abwägen entschied ich mich zu heiraten. Ich weiß nicht, ob ich damals einen Fehler machte.

In den ersten Jahren wohnten wir in Zürich. Ich war Schneider und bekam in einer Fabrik einen Sitzplatz, was damals nicht selbstverständlich war. Für diesen Sitzplatz an der Nähmaschine hatte ich Fr. 1.50 pro Tag zu bezahlen. Ich arbeitete von 06.00–22.00 Uhr und machte in dieser Zeit zwei Sportjacken. Ich verdiente täglich Fr. 10.– minus 1.50 für den Sitzplatz. Das war eine harte Arbeit. Aber es blieb mir nichts anderes übrig.

In den Anfängen gingen wir zusammen in die Exerzitien und sonntags zur Messe. Meine Frau kam mit, zwar etwas widerwillig, aber sie kam mit. Nach wenigen Jahren schon kamen ihr die Widerstände, und sie blieb zu Hause. Ich ging allein. Aber nicht mehr sehr lange. Bald gab ich alles auf, dem Frieden zuliebe. Ich mochte ihre Bemerkungen nicht mehr hören, obwohl ich gerne weiter zur Kirche gegangen wäre.

… und jetzt, wo Sie mit mir das ‚Glaubensbekenntnis‘ beten, merke ich, wie schäbig es von mir war, dass ich kaum je mehr gebetet habe. Jetzt, wo ich am Ende meines irdischen Lebens bin, merke ich, dass ich zu viel mehr fähig gewesen wäre, da ich von meinen Eltern das rechte Vorleben hatte. Mir wird jetzt bewusst: Ich habe den Herrgott richtig im Stich gelassen.“

Herr S. sitzt noch immer auf dem Bettrand, gar nicht mehr aussehend wie ein 92-jähriger Sterbender. Sein Sprechen ist sehr deutlich und ausgewählt, auch seine Überlegungen sind haarscharf und kein bisschen verlangsamt. Ich denke zurück, als mir die Pflegefachfrau sagte, er sei verwirrt …

Weiter erzählt er:

„Ich zog dann mit der Familie in eine andere Stadt und bekam in einer Großschneiderei eine Anstellung und verdiente sehr gut. Da wir sehr einfach lebten, konnte ich viel sparen und kaufte dann ein eigenes Familienhaus.

Und jetzt sind wir im Altersheim. Meine Frau ist auch 92. Sie hat sehr abgebaut, ist auf dem Weg des Vergessens, seit ich in der Klinik bin. Das war ihr zu viel.“

Auf dem Nachttisch von Herrn S. liegt eine Schachtel mit Kirschstängeln. Er sucht einige für mich heraus und steckt ein paar selbst in seinen Mund. Er sagt:

„Können wir einander du sagen? Ich bin Anton! Können wir jetzt nochmals zusammen das ‚Glaubensbekenntnis‘ beten? Danach werde ich schlafen.“

Es ist inzwischen 05.00 Uhr. Anton legt sich zufrieden und dankbar hin und sagt erleichtert:

„Ich habe jetzt mit dir richtig sprechen können und habe dir Dinge aus meinem Leben anvertraut, die ich bis heute keinem Menschen gesagt habe. Das tut mir richtig gut.“

Wenn ich beschreiben müsste, was der Friede des Herrn ist, würde ich sagen, das, was ich mit Anton in dieser einen Nacht erlebt habe. Es war eine Lebensbeichte, die Anton direkt in Gottes Hände ablegte.

Sterben mit oder ohne Gott?

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