Читать книгу Sterben mit oder ohne Gott? - Käthy Hess-Widmer - Страница 12

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Edi, 27

Ein junger heroinsüchtiger Mann, Edi, ist wegen Lungenentzündung im Spital. Er ist gezeichnet von der Sucht.

Wohl hat er immer wieder auf der Gasse gelebt. Jetzt liegt er da im frisch angezogenen Klinikbett, wo er sich nicht daheim fühlt. Edi liegt kraftlos da, aber nicht nur kraftlos im Körper, nein, auch seine Seele scheint auf dem tiefsten Punkt zu sein.

Edi schaut mich an. Nicht skeptisch, aber doch ein wenig kritisch und sehr unsicher. Ich setze mich an sein Bett und gebe ihm zu erkennen, dass mir der Stress der süchtigen Menschen ein Stück weit bekannt ist aus früherer Zeit, wo ich Praktika machte in der Gassenküche, der Notschlafstelle und dem Fixerraum. So wurde das Eis zwischen uns beiden rasch gebrochen.

Darauf berichtet Edi:

„Ja, ich habe immer wieder auf der Gasse gelebt. Man wollte mir verschiedentlich helfen, doch ich meinte, es besser zu wissen.

Angefangen hat es, als mir ein Kollege anbot, mir einen Schuss in den Arm zu machen. Da es mir damals sehr schlecht ging, – ich war noch ein Schuljunge – brauchte es wenig, und ich sagte zu. In dem Moment war mir nicht klar, was mit mir geschehen war. Ich war für kurze Zeit in einer anderen Welt, wo ich meine Sorgen vergessen konnte.

Als ich wieder auf den Boden der Realität zurückkam, war mein Elend noch größer. Schnell merkte ich, dass durch diesen ersten Schuss in mir der Wunsch nach Wiederholung angerührt wurde. Und da begann der Stress: nicht zu wissen, wie man zu Stoff kommt, wie das dazu nötige Geld zu beschaffen ist und obendrein in mieser Gesellschaft zu sein, wo die Leute nicht mehr zu sich schauen konnten.

Schon nach wenigen Tagen hatte ich mein Leben nicht mehr in der Hand. Ich wurde noch labiler, als ich ohnehin schon war.“

Ich frage Edi:

„Warum waren Sie so entkräftet, dass Sie sich zum ersten Schuss überreden ließen?“

„Meine Mutter starb damals. Obwohl ich kein gutes Verhältnis zu ihr hatte, liebte ich sie doch. Und als sie starb, war mir der Boden unter den Füßen weg. Ich hatte niemanden mehr, bei dem ich ein und aus konnte. Meine Mutter hielt zu mir, auch wenn sie mich mit ihren Ratschlägen oft nervte. Ich wusste, sie würde mir die Tür immer öffnen, selbst wenn ich ganz verladen war.

Aber jetzt, jetzt ist alles anders. Ich habe zwei Brüder, aber die gehen mir wo immer möglich aus dem Weg. Die schämen sich meiner. Mit ihnen kann ich nicht reden, sie wenden sich augenblicklich von mir ab. Mit meinem Vater habe ich keinen Kontakt. Er ging von der Mutter weg, weil er eine Freundin hatte. Ich weiß nicht, was ein Vater ist.

Und so wird man älter, entkräftet sich stets mehr und kommt durchs Heroin vom wirklichen Leben immer weiter weg. Ich habe die Kraft längst nicht mehr, von dieser Sucht wegzukommen. Dazu bräuchte ich einen Willen, den habe ich nie gehabt. Durch die Sucht wird einem das bisschen, was man noch hat, genommen.

Verschiedentlich wollte man mir Methadon geben. Aber das ging bei mir nicht, denn die Sucht besteht auch aus dem Beschaffen des Geldes. Das klingt abstrus, doch das ist so.“

Lange und vieles hat Edi in dieser Nacht aus seinem traurigen kleinen Leben erzählt. Seine Worte waren nicht klar artikuliert, sein Herz tief betrübt. Es ist für mich nicht einfach, bei solchen Menschen zu wachen. Ihre Lebenssituationen brechen mir fast das Herz.

Gegen Morgen schläft Edi ein. Ein trostloser Scherbenhaufen liegt da. Was nun? Der junge Pfleger aus Kroatien hat Nachtwache. Kaum ist Edi eingeschlafen, kommt er ins Zimmer. Wir sprechen lange über Edis Situation:

„Weißt du“, meint der junge Pfleger, „wir können jetzt schon alles tun, damit Edi es gut hat bei uns und wieder ein wenig Vertrauen gewinnt. Aber wir machen die Erfahrung, dass süchtige Menschen plötzlich ihr Klinikzimmer verlassen und in die Stadt zurückkehren, natürlich längst, bevor sie vom Infekt in der Lunge auch nur annähernd geheilt sind. Und wir Pflegende? Wir bleiben zurück, ohne unsere Aufgabe zu Ende geführt zu haben.“

Der Pfleger geht wieder zurück zu seiner Arbeit und schließt die Tür. Es ist halb vier in der Nacht. Mit all meiner kleinen Kraft und Herzenswärme, über die ich um diese Zeit noch verfüge, schreie ich in meinem Innern zum Himmel. Ich bin hilflos und erschüttert. Was ich kann, ist stellvertretend für Edi zu Gott zu schreien, in der Hoffnung, dass er eines Tages doch die so dringend nötige Hilfe annehmen kann, die ihm angeboten wird und die seiner Seele den Weg in ein anderes Leben ebnen könnte.

Das jedenfalls ist bei weitem nicht Leben. Edi wird möglicherweise eines Tages sterben, ohne je gelebt zu haben. Er ist leblos, bevor er sterben wird. Wie trostlos, so eine Situation! Tief-traurig kehre ich nach dieser Nacht nach Hause zurück.

Sterben mit oder ohne Gott?

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