Читать книгу Die Würde des Tieres ist unantastbar - Kurt Remele - Страница 15
Tierschutz und Tierrechte kontra Natur- und Umweltschutz?
ОглавлениеEine zeitgemäße Tierethik fordert, dass die Existenz, die Interessen und das Wohlergehen von Tieren in menschlichen Entscheidungen und Handlungen berücksichtigt werden. Erkenntnistheoretisch (epistemisch) ist alle Ethik selbstverständlich ein an bestimmte Vorgaben und Bedingtheiten der Natur gebundenes „Kunstprodukt der menschlichen Vernunft“78, erdacht und gestaltet von Menschen innerhalb spezifischer geschichtlicher und gesellschaftlicher Kontexte. Ethische Normen werden von Menschen geschaffen, diskutiert und reformiert. Sie können nicht in einem Diskurs oder Gespräch zwischen Menschen und Tieren ausgehandelt werden. Diese Tatsache aber bedeutet nicht, dass es in der Ethik ausschließlich um den Menschen und seine Bedürfnisse gehen sollte. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Ethiker wenden sich heute Ethikkonzepten zu, die auch die nichtmenschliche Natur berücksichtigen, und zwar die nichtmenschliche Natur im Allgemeinen, Tiere als – zumindest in vielen Fällen – empfindungsfähige, Lust und Schmerz, Freude und Leid verspürende Wesen im Besonderen.
Es gibt unterschiedliche post-anthropozentrische Ethikansätze79: das sentientistische (pathozentrische) Ethikmodell, in dem nicht nur der Mensch, sondern alle empfindungsfähigen Lebewesen, also neben dem Menschen auch empfindungsfähige Tiere berücksichtigt werden; das biozentrische Modell, das alle Lebewesen, also auch Pflanzen, einschließt (Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“), und das ökozentrische Modell (Holismus, „deep ecology“), dem es vor allem um die Bewahrung von Ökosystemen geht, weil es weder menschliches noch tierisches und pflanzliches Leben geben würde, wenn diese nicht zumindest einigermaßen intakt sind. Innerhalb jedes dieser Ethikmodelle gibt es wiederum verschiedene Untergruppen, die hier aber nicht besprochen werden müssen und können. Zwischen den genannten post-anthropozentrischen Ethikmodellen gibt es Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge, aber auch Differenzen und Spannungen.
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird kaum zwischen „Tierschutz“ (Verbesserungen für Tiere im Rahmen des nicht grundsätzlich in Frage gestellten menschlichen Nutzungsanspruchs) und „Tierrechten“ (Rechte der Tiere, Pflichten der Menschen, sehr enges Verständnis des Begriffs „Vermeidung unnötigen Tierleids“) unterschieden, wobei ohnehin die Frage nach einer eindeutigen Abgrenzung nicht völlig geklärt ist. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird zudem auch zwischen bio- oder ökozentrischen Umweltschützerinnen und pathozentrischen Tierschützern bzw. Tierrechtlern nicht streng differenziert: Beide fallen unter die breite Kategorie „Naturschützer“ / „Umweltschützer“. Einer weit verbreiteten Auffassung nach sind Schutz der Umwelt und Schutz der Tiere mehr oder weniger ein und dieselbe Sache. Tierethik wird häufig als Unterkapitel der Umweltethik betrachtet, gerade auch in der Moraltheologie bzw. der theologischen Ethik. Das ist nicht von vornherein völlig falsch, denn Tierschutz und Naturschutz, Tierethik und Umweltethik haben vieles gemeinsam: Sowohl die Umweltbewegung als auch die Tierrechtsbewegung wurden in den 1970er Jahren populär, beide widersetzen sich einem obsoleten, einseitigen Anthropozentrismus, der der nicht-menschlichen Natur jeden Eigenwert abspricht. Zudem sind viele Umweltschützer zugleich Tierschutzaktivisten und selbstverständlich decken sich Forderungen und Anliegen des Umwelt- und des Tierschutzes in vielen Punkten.
Blickt man genauer hin, kann man allerdings erkennen, dass es bei allen Gemeinsamkeiten auch Differenzen zwischen Umwelt- und Tierrechtsethik gibt.80 Während die Tierrechtsethik den Kreis der berücksichtigungswürdigen moralischen Objekte („moral patients“) auf empfindungsfähige (nichtmenschliche) Lebewesen ausdehnt, geht es in der Öko-Bewegung um den Eigenwert aller Lebewesen, also auch von Bäumen und anderen Pflanzen (Biozentrismus) oder von zu Ökosystemen verbundenen Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen, Gewässern und Böden (Ökozentrismus).
Das primäre Ziel einer ökozentrischen Ethik ist es, die Integrität, Stabilität und Schönheit von Ökosystemen zu erhalten, das primäre Anliegen einer sentientistischen Ethik dagegen ist das Wohlergehen jedes einzelnen empfindungsfähigen (menschlichen und nichtmenschlichen) Tieres. Lebewesen und Ökosysteme, denen kein Lust- und Schmerzempfinden zu eigen ist, verdienen dieser Ansicht zufolge ethisch nicht die gleiche Beachtung. „Es wäre unsinnig zu behaupten“, schreibt Peter Singer völlig zu Recht, „es sei nicht im Interesse eines Steines, von einem Schuljungen die Straße entlang gekickt zu werden. Ein Stein hat keine Interessen, weil er nicht leiden kann. Nichts, was wir ihm zufügen können, würde sein Wohlergehen auf irgendeine Weise beeinflussen. … Eine Maus [dagegen] hat ein Interesse daran, nicht … getreten zu werden, weil sie dabei leiden würde.“ 81
Während Umweltschützer häufig keine Probleme damit haben, zu jagen, zu fischen und Tiere zu essen, solange diese Tätigkeiten ihrer Meinung nach das Ökosystem nicht gefährden oder womöglich sogar erhalten helfen, scheuen vor allem Tierrechtler davor zurück, das konkrete Leben einzelner Tiere mehr oder weniger bereitwillig für das im letzten doch recht vage und abstrakte Wohl eines Ganzen zu opfern.
Die unterschiedlichen Prioritäten des sentientistischen und des ökozentrischen Ethikkonzeptes führen einerseits bisweilen zu moralischen Konflikten und Dilemmata. Anderseits ist auch klar, dass das Wohl des Ökosystems und das Wohl der einzelnen Lebewesen eng miteinander verbunden sind. Die Retinität (Vernetzung) allen Lebens und die Einbindung der Menschen und Tiere in das tragende Netzwerk der übrigen Natur sind unbestritten. Eben weil ein angemessener Lebensraum (Habitat) für das Überleben und Wohlergehen von Tieren so wichtig ist, bedarf es intakter Ökosysteme. Weil aber die Integrität des Ökosystems auf das Wohl aller und jedes einzelnen Lebewesens hin zu ordnen ist, dürfen Tiere nicht bloß instrumental als reine Mittel oder Hindernisse zur Systemerhaltung betrachtet werden, sondern sind in ihrem Eigenwert und ihrer Befindlichkeit zu respektieren. Dies ist sowohl die normative Richtlinie als auch die praktische Herausforderung.
Die Fähigkeit einer Kreatur, Lust und Schmerz zu empfinden, ist zweifellos ein wesentliches Kriterium dafür, es in besonderer Weise moralisch zu berücksichtigen. Es wäre jedoch falsch, den Fehler früherer Generationen zu wiederholen und eine einzige Eigenschaft oder Fähigkeit wie zum Beispiel Vernunft, Sprache oder eben Empfindungsfähigkeit herauszugreifen und zur Grenzbarriere zu stilisieren, jenseits derer ethische Überlegungen unnötig sind. Nicht empfindungsfähige Kreaturen sowie Ökosysteme dürfen deshalb nicht aus dem Kreis der moralischen Objekte entlassen werden. Dies verbieten sowohl ihr Eigenwert und die Interdependenz alles Seienden als auch das Wissen um die Tatsache, „dass alle moralischen Kategorien und Unterschiede der Veränderung unterliegen, weil sich unser Bewusstsein weiterentwickelt und unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse ständig wachsen.“82