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Оглавление5. Sturm und Drang (1767–1785)
a) Das neue Menschenbild
Der Königsberger Philosoph Kant bestimmte den Begriff ›Aufklärung‹ (vgl. Kap. 4a), den Anstoß zur Entwicklung eines Gegenprogramms formulierte ein Königsberger, der sich selbst den »Magus im Norden« nannte: JOHANN GEORG HAMANN (1730–1788).
Nachdem Hamann in London eine überraschende religiöse Erweckung erfahren hatte, verteidigte er seine Wendung gegen die Vernunft der Aufklärer mit der Schrift Sokratische Denkwürdigkeiten (1759). Er verwies seine rationalistischen Freunde Kant und Berens an die schöpferischen Kräfte des Gefühls und des Gemüts, die er vor allem in der Sprache am Werk sah. In der Aesthetica in nuce (1762)1 verkündete er:
Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts. […] Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder.2 In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit. […] Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden? […] Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt, und warum fordert ihr, daß wir selbige nachahmen sollen? – Damit ihr das Vergnügen erneuren könnt, an den Schülern der Natur auch Mörder zu werden – […]. O eine Muse wie das Feuer eines Goldschmieds, und wie die Seife der Wäscher! – – Sie wird es wagen, den natürlichen Gebrauch der Sinne von dem unnatürlichen Gebrauch der Abstraktionen zu läutern […]. Ein Philosoph, wie Saul, stellt Mönchengesetze – – Leidenschaft allein gibt Abstraktionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; – Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge – – […] und wahrlich, wahrlich, Kinder müssen wir werden, wenn wir den Geist der Wahrheit empfahen sollen, den die Welt nicht fassen kann […].
Hamann, der mit solchen und ähnlichen Sätzen den Subjektivismus des Genies über den kritisch denkenden Kopf erhob, verdeutlichte seine Abkehr vom Rationalismus durch die »Schreibart der Leidenschaft«. Seine bruchstückhaften Schriften sind voller Gedankensprünge und schwerverständlicher Anspielungen. Sie setzen gegen die aufgeklärte Verstandeshelle dunkle Ahnung und ganzheitliches Fühlen.
Hamanns Freund und Schüler JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744–1803) griff die Idee von der schöpferischen Freiheit des Individuums auf. Gingen die Aufklärer davon aus, dass der Mensch im Grunde immer und überall das gleiche Vernunftwesen sei, so lehrte Herder, den Menschen als geschichtliches Wesen zu begreifen, für das die historisch-geographische Prägung ganz entscheidend ist. Geschichtlich bedingt ist also auch die Kunst des Menschen. Keinesfalls ist diese, wie die Aufklärer dachten, an feststehenden, zeitlosen Maßstäben irgendeiner normativen Regelpoetik zu messen, sondern ihr Verständnis verlangt geschichtliches Einfühlungsvermögen.
Herders Blick auf die Entwicklung des Menschen und der Kunst ließ ihn am Fortschrittsglauben der Aufklärer zweifeln. Gegenüber den zweckgerichteten, moralisch-lehrhaften Kunstwerken der Aufklärungszeit hatte die Vergangenheit Besseres zu bieten. Herder teilte Rousseaus Kulturpessimismus und forderte die Rückkehr zur Natürlichkeit volkstümlicher Dichtung und zur leidenschaftlichen Erlebnisdichtung des Genies3.
Unverfälschte Natürlichkeit fand Herder in schlichten gesungenen Liedern, die er sammelte und 1773 erstmals herausgab. Der von Herder dafür geprägte Begriff ›Volkslied‹ war sehr offen. Seine Sammlung Volkslieder (1778, seit 1807 unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern) enthält neben echten Volksliedern auch bloß volkstümliche Lieder und sogar Kunstlieder, in denen Herder naturpoetisch »wahren Ausdruck der Empfindung und der ganzen Seele« vernahm. Zu solchem Ausdruck fähig waren nach Herders Vorstellungen nicht nur das namenlose Volk, sondern auch die alten Barden4 und das unverbildete Genie. In der als Programmschrift des Sturm und Drang anzusehenden Aufsatzsammlung Von deutscher Art und Kunst (1773) feiert Herder in Ossian5 den Barden und in Shakespeare die beispielhafte Verkörperung des Genies.
Nicht als Dichter, sondern als Denker, der dem deutschen Geistesleben vielfältige und weit über den Augenblick hinauswirkende Anregungen zu geben vermochte, gewann Herder bleibende literaturgeschichtliche Bedeutung.
b) Die Lyrik
Des Hügels Quell ertönet von Zeus,
Von Wodan, der Quell des Hains.
Weck’ ich aus dem alten Untergange Götter
Zu Gemälden des fabelhaften Liedes auf;
So haben die in Teutoniens Hain
Edlere Züge für mich!
Mich weilet dann der Achäer Hügel nicht:
Ich gehe zu dem Quell des Hains!
So sang KLOPSTOCK in der Ode »Der Hügel und der Hain« (1767). Die vaterländische Gesinnung, die Teutoniens Hain dem Hügel der griechischen Musen (dem Helikon) vorzieht, begeisterte eine Gruppe Göttinger Studenten, die sich 1772 unter dem Namen »Der Hain« zu einem Dichterbund zusammenschloss. Der Gründer und Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs war HEINRICH CHRISTIAN BOIE (1744–1806). JOHANN HEINRICH VOSS (1751–1826), der durch seine großartige Homer-Übersetzung berühmt wurde, war der Vereinsvorstand. Der frühverstorbene LUDWIG HEINRICH CHRISTOPH HÖLTY (1748–1776) trug zarte, melancholische Gedichte bei,6 und die gräflichen Brüder FRIEDRICH LEOPOLD und CHRISTIAN STOLBERG (1750–1819 und 1748–1821), die später im Werther-Kostüm mit Goethe in die Schweiz reisten, gaben dem Jugendbund gesellschaftliches Ansehen. Das hochgeschätzte Ehrenmitglied aber war der alte Klopstock selber. – Die Bundesmitglieder gaben einander Klopstocksche Bardennamen und priesen in ihrem Kraftgesang Freiheit, Ehre und Vaterland. Als frohsinnige, treuherzige Naturburschen pflegten sie einen tränenseligen Freundschaftskult und religiösen Tugendeifer nebst deutscher Sitte und Biederkeit. Freigeisterei und literarische Libertinage waren ihnen verhasst. Was Wunder, dass sie Wieland zu ihrem Sündenbock machten.
GOTTFRIED AUGUST BÜRGER (1747–1794) verbrachte nur kurze Zeit in Göttingen. Er bemühte sich, ein Volksdichter im Sinne Herders zu werden, und gewann durch Schöpfung der Kunstballade7 bleibende literarische Bedeutung. Sein sprachgewaltiges Paradebeispiel der neuen Gedichtform, die »Lenore«, erschien im Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1774, einem Bändchen, das neben den besten Gedichten des Göttinger Hain auch Beiträge von Klopstock, Herder, Goethe und Claudius enthält.
MATTHIAS CLAUDIUS (1740–1815), der im ländlichen Wandsbek bei Hamburg mit einer kinderreichen Familie ein bescheidenes idyllisches Leben führte, gab seit 1771 den Wandsbecker Boten heraus. Seine gemütvollen, innig-religiösen Gedichte8 werden gerne mit Johann Peter Hebels Dichtungen verglichen (vgl. Kap. 7). Für einen richtigen Stürmer und Dränger dachte Claudius viel zu konservativ. Als überzeugter Lutheraner blieb er auch nach der Französischen Revolution von 1789 ein Untertan, dem alle Obrigkeit von Gott kommt.
Der zeitübliche Tyrannenhass, den Claudius im Norden vermissen ließ und der bei den Dichtern im mitteldeutschen Hain nur freiheitssüchtige Geste war, hatte im Süden sachliche Gründe: Anders als Friedrich der Große, welcher der erste Diener seines Staates sein wollte, verkaufte Herzog Karl Eugen seine württembergischen Landeskinder als Soldaten an die Kolonialmächte9 und duldete nicht den geringsten Widerspruch. CHRISTIAN FRIEDRICH DANIEL SCHUBART (1739–1791), der mit seiner freimütigen Zeitschrift Deutsche Chronik Karl Eugens Missfallen erregt hatte, wurde 1777 nach Württemberg gelockt und auf der Staatsfestung Hohenasperg eingekerkert. Sein zorniges Gedicht »Die Fürstengruft« (1780) brachte ihm eine siebenjährige Haftverlängerung.
Den vollendeten Ausdruck des Genies findet man in der Jugendlyrik JOHANN WOLFGANG GOETHES (1749–1832).10 Der Frankfurter Patriziersohn hatte sechzehnjährig bei den Leipziger Altmeistern Gottsched und Gellert zu studieren begonnen, war schwer erkrankt nach Frankfurt heimgekehrt und, wiederhergestellt, zur Fortsetzung seiner Studien nach Straßburg gegangen. Dort traf er im Herbst 1770 mit Herder zusammen.
Der um fünf Jahre ältere Herder erkannte Goethes Begabung und setzte sie frei, indem er den Jüngeren durch Spott, Kritik und anregende Belehrung von der Nachahmung flacher Rokokodichtung abbrachte und für Natur- und Volkspoesie begeisterte, für Homer, Ossian und Shakespeare.11
Goethe, der jetzt volkstümliche Lieder12 zu dichten und echte Volkslieder zu sammeln begann, lernte in Sesenheim die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen und verewigte die Geliebte in den Sesenheimer Liedern13 als natürliches, unbefangenes Kind des Volkes.
Goethes neue Lyrik ist Erlebnisdichtung reinster Prägung. Das Gefühl wird hier nicht mehr spielerisch reflektiert und im Hinblick auf die Gesellschaft durch witzige oder ironische Pointen gebrochen und zurückgenommen, sondern das aus der Erschütterung des Herzens mächtig hervorbrechende jugendliche Gefühl teilt sich als unmittelbares, privates Bekenntnis mit,14 das bis ins letzte hinein wörtlich genommen werden will.
»[…] Gefühl ist alles, / Name Schall und Rauch, / Umnebelnd Himmelsglut«, sagt Faust. In den großen Hymnen15 ist das geniehafte Ichbewusstsein zum »Götterselbstgefühl« (Prometheus) und zum »All-Gefühl« (Mahomet) gesteigert, das die Welt ergreift und dem berauschten Genie anverwandelt: »Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt, und macht große Schritte durch dieses Leben.« (S. Anm. 11.)
c) Das Drama
Für die genialische Gefühlsunmittelbarkeit war die dramatische Gebärde die angemessenste und darum bevorzugte Ausdrucksweise. Ein Dramentitel wurde folgerichtig zum Namen der literarischen Epoche. Allerdings ist das Drama Sturm und Drang (1776), das ursprünglich und besser Wirrwarr heißen sollte, weniger zeittypisch als etwa Die Zwillinge (1776) oder Das leidende Weib (1775) desselben Verfassers FRIEDRICH MAXIMILIAN KLINGER (1752–1831).
Das Trauerspiel Die Zwillinge, mit dem Klinger einen Dramenwettbewerb gewann, behandelt das seinerzeit beliebte Motiv vom Bruderzwist: Der maßlose und genialisch unbeherrschte Guelfo erschlägt seinen ausgeglicheneren Bruder Ferdinando aus Eifersucht an dessen Hochzeitsmorgen und fällt unter dem rächenden Streich des Vaters. – Ähnlich geht es bei JOHANN ANTON LEISEWITZ (1752–1806) im Julius von Tarent (1776) zu. Schiller griff das Motiv von den verfeindeten Brüdern in den Räubern (1781) auf und später noch einmal in der Braut von Messina (1803).
Klingers gesellschaftskritische Ehebruchtragödie Das leidende Weib entstand unter dem Einfluss von Lessings Emilia Galotti (vgl. ↑) und dem Hofmeister von JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ (1751–1792), dem man das Drama lange zuschrieb.
Im Vergleich zu Klingers wirrer Phantasie zeigt Lenz einen fast naturalistischen Blick für die Wirklichkeit. Auf eigene Erfahrungen zurückgreifend, zielt Lenz mit seinen Dramen erklärtermaßen auf gesellschaftliche Veränderung.
Lenz kam wie Herder als Hofmeister nach Straßburg. Er empfand die Abhängigkeit des in adligen Familien dienenden Hauslehrers als beschämend für alle Beteiligten und trat daher in seiner Tragikomödie Der Hofmeister (1774) für die klassenlose staatliche Erziehung ein:
Die von ihrem Hofmeister Läuffer verführte Schülerin Gustchen bekommt ein Kind und geht darauf ins Wasser, wobei sie gerade noch von ihrem Vater gerettet werden kann. Der Hofmeister entmannt sich vor Reue und heiratet anschließend seine Schülerin Lise aus der Dorfschule. Die episodenreiche Nebenhandlung fängt das Hallenser Studentenleben ein.
Der biographische Anlass zur Tragikomödie Die Soldaten (1776) war das trügerische Eheversprechen des kurländischen Offiziers Baron von Kleist, den Lenz als Hofmeister zur Straßburger Garnison begleitet hatte.
Die schöne, ehrgeizige Marie sinkt durch die Großmannssucht ihrer bürgerlichen Eltern und die Intrigen eines hochmütigen, adligen Offizierskorps zur Dirne herab und wird von Stolzius, ihrem bürgerlichen Bräutigam, an dem Verführer Desportes gerächt. – »Das sind die Folgen des ehlosen Standes der Herren Soldaten«, heißt es am Schluss; und »damit die übrigen Gattinnen und Töchter verschont bleiben«, wird »eine Pflanzschule von Soldatenweibern« gefordert.
Lenz, der eine Lösung des Problems innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung suchte, schrieb auch eine Abhandlung Über die Soldatenehen und wandte sich in dieser Sache später an Herzog Karl August von Weimar. Doch nicht die etwas merkwürdigen Reformvorstellungen, sondern die literarischen Vorzüge des Stückes wiesen in die Zukunft. Lenz baute Die Soldaten »shakespearisierend« aus einer atektonischen (vgl. Kap. 3, Anm. 23), offenen Reihe von 35 Splitterszenen, in deren kürzester nur sechs Worte gesprochen werden. Doch Wort und Gebärde sind überall so fein auf Charakter und Situation abgestimmt, dass Lenz als Begründer des sozialkritischen Milieudramas in die deutsche Literaturgeschichte einging. Büchner, der den von Lenz begonnenen Weg fortführen sollte, beschrieb in einem Novellenbruchstück das Entstehen der geistigen Umnachtung, die über Lenz, den begabten Jugendfreund und Rivalen Goethes, 1778 hereinbrach.
Emilia Galotti, Das leidende Weib, Der Hofmeister,Die Soldaten – immer wieder wurden die Spannungen der Standesgesellschaft in Verführungsdramen behandelt. Aber erst die Zuspitzung zum Motiv der Kindesmörderin in den Balladen,16 in der Gretchentragödie des Urfaust und in dem Drama Die Kindermörderin (1776) von HEINRICH LEOPOLD WAGNER (1747–1779) veranschaulicht die ganze Gefährdung der Frau in dieser Zeit. Das sich selbst verwirklichende Genie, der Kraftmensch, war meistens ein Mann, war ein »Kerl« wie GOETHES Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773).
Nachdem Goethe sein Studium in Straßburg als Lizentiat der Rechte beendet hatte, eröffnete er 1771 in Frankfurt eine Anwaltspraxis. Es dauerte aber nicht lange, bis sich Goethes Spaß an der Gerichtsrhetorik erschöpft hatte und das junge Genie die Arbeit kurzerhand fallenließ, um sich einer ihm ebenbürtigen Gestalt aus der vaterländischen Vergangenheit zuzuwenden. Das heißt, Goethe stilisierte den an sich wenig ehrbaren Raubritter Götz von Berlichingen zu einem wehr- und wahrhaftigen Ritter, zu einem Stürmer und Dränger im historischen Gewand. Im Text heißt es über den urwüchsigen Raufbold: »Er ist das Muster eines Ritters, tapfer und edel in seiner Freiheit, und gelassen und treu im Unglück.« Sein Gegenspieler ist der verweichlichte Höfling Weislingen, der sich durch den »Händedruck eines Fürsten, und das Lächeln einer schönen Frau« verführen lässt, seinem Freund Götz den Treueid zu brechen. Danach plagt den Wankelmütigen das Gewissen. Weislingen vergleicht sich mit Götz und klagt: »Ich mag mir vorlügen, ihn hassen, ihm widerstreben … O warum muß ich ihn kennen, oder warum kann ich nicht der zweite sein.« – »Sein Dasein ist ein Monument deiner Schwäche. Auf! Zerstörs, da noch Zeit ist«, hetzt die schöne Verführerin Adelheid, die Weislingens Hassliebe zu Götz für sich nutzen möchte. Doch als Weislingen zaudert, verwirft sie ihn verächtlich: »Du bist von jeher der Elenden einer gewesen, die weder zum Bösen noch zum Guten einige Kraft haben.« Adelheid lässt Weislingen vergiften.
Auch Götz bricht einen Eid. Er hatte auf Weislingens Betreiben dem Kaiser Urfehde (Friedensversprechen mit Verzicht auf Rache) schwören müssen. Doch als die Bauern aufstehen, um gegen ihre Leibeigenschaft zu kämpfen, wird Götz, der anders als Weislingen nicht der Eitelkeit, sondern der Stimme seines redlichen Herzens gehorcht, Anführer der Bauern und übt noch einmal »in einer ehrlichen Fehd« das Faustrecht. Gefangen genommen, spricht er: »Stirb, Götz – Du hast dich selbst überlebt […]. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen.« Herders schwarzseherischer Geschichtsauffassung entsprechend wird Götz ein Opfer des Zeitgeistes. Die letzten Worte klagen und mahnen: »Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß! […] Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!«
Obgleich das Stück mit 50 Einzelszenen einen epischen Zug hat und, wie Goethe gegen Eckermann bekannte, auf dem Theater nicht recht gehen wollte, erregte es doch durch seine historisierende und volkstümlich-kraftvolle Sprache sowie durch die offene dramatische Form großes Aufsehen. Die jungen Stürmer und Dränger sahen und priesen in Götz ihr Ebenbild.
Hatte Goethe mit seinen frühen Dramen Götz von Berlichingen (1773), Clavigo (1774) und Stella (1776) das Theater des Sturm und Drang eröffnet, so hat es Schiller mit seinen Jugenddramen Die Räuber (1781), Fiesco (1783) und Kabale und Liebe (1784) vollendet.
JOHANN CHRISTOPH FRIEDRICH SCHILLER (1759–1805) wurde als Sohn eines Wundarztes in Marbach am Neckar geboren. Nach dem Wunsch der Eltern sollte er Theologe werden, aber Herzog Karl Eugen verpflichtete den begabten Schüler zum Besuch der Militär-Akademie in Stuttgart. Unter den strengen Vorschriften in dieser Bildungskaserne litt Schiller sieben Jahre. Obgleich den Zöglingen der Karlsschule schöngeistige Literatur zu lesen verboten war, las Schiller viel; unter anderem auch Schubarts Erzählung Zur Geschichte des menschlichen Herzens. Hiervon angeregt und beflügelt vom Hass gegen Karl Eugen, beschloss Schiller: »Wir wollen ein Buch machen, das aber durch den Schinder absolut verbrannt werden muß!« So entstanden Die Räuber. Nach einem beispiellosen Theatererfolg der Uraufführung in Mannheim bekam Schiller wegen unerlaubter Reise dorthin von Karl Eugen vierzehn Tage Arrest. Der Herzog bestimmte: »[…] bei Strafe der Kassation schreibt Er keine Komödien mehr.« Schiller dachte an Schubart, den der Herzog bereits vier Jahre unrechtmäßig gefangen hielt, und floh aus Württemberg.
In den Räubern verkörpern die feindlichen Brüder Karl und Franz Moor den guten und den bösen Menschen. Karl ist der verlorene Sohn, der nach jugendlich ausschweifenden Studienjahren zu seinem Vater und seiner Braut heimkehren möchte. Franz, wie Shakespeares Richard III., ist der gekränkte Zweitgeborene, der mit kalter Überlegung und zynischer List einen Keil zwischen den gemütvollen Karl und seinen guten Vater treibt. Durch seines Bruders gefälschte Briefe verkennt Karl die Liebe seines Vaters; und von der Enttäuschung niedergeschlagen, zweifelt er gleich an der ganzen Menschheit und ihrer sittlichen Ordnung. Er wird zum Räuberhauptmann, um Gerechtigkeit walten zu lassen, wo immer er kann. Doch die Untaten seiner Bande verstricken ihn in so tiefe Schuld, dass am Ende eine Umkehr unmöglich scheint. Erst nachdem er die List seines Bruders und seinen eigenen tragischen Irrtum eingesehen hat, gewinnt Karl die innere Freiheit, sich im eigenen Untergang von der Räuberbande zu lösen. Karl ist endlich bereit, die unvollkommene irdische Ordnung als Stellvertreterin einer höheren Ordnung anzuerkennen:
[…] da steh ich am Rand eines entsetzlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähnklappern und Heulen, daß zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrund richten würden. Gnade – Gnade dem Knaben, der Dir vorgreifen wollte – […]. Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigte Gesetze versöhnen, und die mißhandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers – eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet – dieses Opfer bin ich selbst. […] Ich geh, mich selbst in die Hände der Justiz zu überliefern.
Karls politisch-revolutionärer Aufbruch gegen die Tyrannen wird mit dem Einlenken in diese fromme idealistische Privatlösung zurückgenommen. »Der Verirrte tritt wieder in das Geleise der Gesetze«, heißt es in Schillers Vorrede.
Auch in dem republikanischen Trauerspiel von der Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783) geht es um einen erhabenen Bösewicht; diesmal um einen historischen aus dem Jahre 1547. Und wieder gilt Schillers Aufmerksamkeit nicht der politischen, sondern der menschlichen Seite des Falles:
Fiesco, der kraftvolle Tatmensch, möchte Genua vor der Tyrannei des Gianettino Doria bewahren. Hinter der Maske eines leichtlebigen Genießers bereitet er klug berechnend die Verschwörung gegen den alten, patriarchalischen Dogen Andreas Doria und dessen anarchischen Neffen Gianettino vor. Doch der leidenschaftlich entschlossene Republikaner Verrina sieht, dass Fiesco Brutus und Caesar in einer Person ist, sieht, wie dessen angeborene Führernatur zwischen Bürgertugend und persönlichem Ehrgeiz schwankt. – »Ein Diadem erkämpfen ist groß. Es wegwerfen ist göttlich«, sagt sich Fiesco. »Sei frei, Genua, und ich dein glücklichster Bürger!« – Verrina aber ist sicher: »Den Tyrannen wird Fiesco stürzen, das ist gewiß! Fiesco wird Genuas gefährlichster Tyrann werden, das ist gewisser!« Und tatsächlich erliegt Fiesco der Verführung durch die Macht. Spitzfindig spekuliert er: »Wenn auch des Betrügers Witz den Betrug nicht adelt, so adelt doch der Preis den Betrüger. Es ist schimpflich, eine Börse zu leeren – es ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es ist namenlos groß, eine Krone zu stehlen.« Vergeblich warnt Fiescos Gattin Leonore vor den Folgen der Machtanmaßung. Der Anschlag gegen die Dorias ist noch nicht zu Ende geführt, da lässt sich Fiesco zum Herzog ausrufen und wird von Verrina ertränkt. – Diesen Schluss, der mit Verrinas Rückkehr zu Andreas Doria der gescheiterten Verschwörung allen Sinn entzieht, hat Schiller verschiedentlich geändert. In der Mannheimer Fassung entsagt Fiesco der Krone; in einer anderen Fassung stellt sich Verrina nach dem Mord an Fiesco dem Gericht des befreiten Volkes.
Den Schluss und Höhepunkt der Sturm-und-Drang-Dramatik bildet Schillers bürgerliches Trauerspiel Kabale und Liebe (1784), das zuerst nach der Heldin »Luise Millerin« heißen sollte.
Ähnlich wie in Lessings Emilia Galotti (vgl. ↑) scheitern Luise, die bürgerliche Geliebte, und ihr adliger Bräutigam Ferdinand an Standesunterschieden und Hofintrigen; nur, dass hier – kennzeichnend für den Sturm und Drang – die Liebe und der Wunsch nach ihrer freien Entfaltung leidenschaftlicher brennen und dass die zeitgemäße und wirklichkeitstreuere Darstellung in einer revolutionären Anklage gegen den Absolutismus aufflammt.
Der Stadtmusikant Miller möchte seine Familie schützen, indem er zur Einhaltung der Standesgrenzen auffordert und dem Präsidenten von Walter sagt: »Dero Herr Sohn haben ein Aug auf meine Tochter; meine Tochter ist zu schlecht zu Dero Herrn Sohnes Frau, aber zu Dero Herrn Sohnes Hure ist meine Tochter zu kostbar, und damit basta!« – Luise beugt sich dieser bürgerlichen Denkweise und Moral: »Mein Anspruch war Kirchenraub, und schauernd geb ich ihn auf. […] Ich entsag ihm für dieses Leben. Dann, Mutter – dann, wenn die Schranken des Unterschieds einstürzen – wenn von uns abspringen all die verhaßte Hülsen des Standes – Menschen nur Menschen sind –« Aber Ferdinand glaubt, das Ideal seiner Liebe gegen die Wirklichkeit der Gesellschaft durchsetzen zu können. Mit der großen Gebärde des Genies ruft er:
Wer kann den Bund zwoer Herzen lösen, oder die Töne eines Akkords auseinanderreißen? – Ich bin ein Edelmann – Laß doch sehen, ob mein Adelbrief älter ist als der Riß [Entwurf] zum unendlichen Weltall? oder mein Wappen gültiger als die Handschrift des Himmels in Luisens Augen: Dieses Weib ist für diesen Mann? […] Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen deiner Liebe. […] Mir vertraue dich. Du brauchst keinen Engel mehr – Ich will mich zwischen dich und das Schicksal werfen […]. Frei wie ein Mann will ich wählen, daß diese Insektenseelen am Riesenwerk meiner Liebe hinaufschwindeln.
Doch als Luise zögert, ihre Kindespflicht gegen den Vater zu vergessen und die für sie gottgewollte Ordnung zu zerbrechen, missdeutet Ferdinand diese »kalte Pflicht gegen feurige Liebe«. Sein Zweifel liefert ihn dem Spiel der höfischen Ränke aus. Er wähnt sich von Luise betrogen und – »einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel« – vergiftet sie und sich selbst. Die Gewissheit des nahen Todes entbindet Luise von dem Eid, den sie ihren Peinigern gab. Sterbend enthüllt sie ihrem Geliebten, welchem Trug er zum Opfer gefallen ist.
d) Der Roman
Die Romane des Sturm und Drang knüpften gern an die Lebensbeschreibungen und die erbaulichen Bekenntnisse aus der pietistisch geprägten Empfindsamkeit an, denn die neue Brief- und Tagebuchform erlaubte den monologisierenden Herzen, die ganze Spannweite zwischen lyrischverhaltenem und dramatisch-brausendem Ausdruck auszuschöpfen. Das beste Beispiel hierfür ist GOETHES Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774).
Goethe war 1772 nach Wetzlar gegangen, um dort am Reichskammergericht juristische Erfahrungen zu sammeln. Doch stattdessen verliebte er sich in Charlotte Buff, die bereits verlobt war. Auch Maximiliane La Roche,17 in die sich Goethe anschließend in Ehrenbreitstein verliebte, heiratete bald einen anderen. Als Goethe nun noch erfuhr, dass sich sein Wetzlarer Kollege, Lessings junger Freund Jerusalem, wegen unglücklicher Liebe zu einer verheirateten Frau erschossen habe, entledigte sich der Dichter seines »großen Trübsinns« durch den Roman von Werthers Leiden.
In ländlicher Umgebung erholt sich Werther von einem Liebeskummer. Er liest Homer und zeichnet nach der Natur. Als er mit Lotte einen Ball besucht und Lotte, von einem Gewitter gefühlvoll gestimmt, den Namen »Klopstock« seufzt, ist Werther überwältigt vom Gleichklang ihrer Herzen. Aber Lotte ist verlobt. Ihr Bräutigam, großzügig zwar gegen Werther, ist ein Pedant, der Selbstmörder verurteilt, statt sie zu bemitleiden. – Werther sucht Ablenkung durch berufliche Tätigkeit in einer anderen Stadt. Er kann sich aber nicht mit den Vorschriften und Zwängen der Arbeitswelt abfinden. Nach der kränkenden Ablehnung im Kreis einer adligen Gesellschaft kehrt er zu Lotte, die inzwischen geheiratet hat, zurück. Er liest ihr in Abwesenheit ihres Gatten seine Ossian-Übersetzung (vgl. Anm. 5) vor, und als sich darüber erneut ihre Seelenverwandtschaft offenbart, vergisst er sich und tritt der Geliebten zu nahe. Lotte entflieht, und Werther beschließt sein Ende. Er bittet Lottes Gatten unter dem Vorwand einer Reise um zwei Pistolen und erschießt sich.
Das Außerordentliche an dieser Geschichte ist Werthers Gefühlstitanismus. Im Glück rührt die Natur Werther zu Tränen. Sein berühmter Brief vom 10. Mai schließt mit den Worten: »[…] ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« Der unglückliche Werther sieht in derselben Natur »nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheur«. Dieser Subjektivismus und der als »Krankheit zum Tode« entschuldigte Selbstmord lösten lange Erörterungen aus, in denen der Sturm der Begeisterung für die Leidenschaft siegte. Werther wurde ein ungeheurer europäischer Bucherfolg mit zahllosen ernsten und parodistischen Nachahmungen. Napoleon las den Roman siebenmal. Man handelte mit Chodowieckis Illustrationen zu dem Buch, mit Werther-Nippes und Eau-de-Werther-Parfüm; man kleidete sich wie Werther, und wo sich die Werther-Mode zum schlimmsten Werther-Fieber steigerte, soll es stilechte Selbstmorde gegeben haben.
Auch Anton Reiser, der vom Weltschmerz erfüllte Held eines psychologischen Romans von KARL PHILIPP MORITZ (1756–1793), trug den Werther in der Tasche; und Werthers Schwermut »führte [auch] ihn mit schnellen Schritten an den Fluss, wo er die unerträgliche Bürde dieses elenden Daseins abwerfen wollte«. Doch die lehrhafte Tendenz, mit der der Erzähler alles Autobiographische dieser inneren Geschichte des Menschen ins Beispielhafte wendet, belässt es bei diesem mahnenden Wink. Mit feinen psychologischen und soziologischen Beobachtungen zeigt Moritz im Anton Reiser (1785–90), welchen quälenden Umständen der genialische Mensch aus der unteren Gesellschaftsschicht bei seinem Streben nach Selbstverwirklichung ausgesetzt war. Ein höchst aufschlussreiches Buch für den Leser, der die geschichtliche Wirklichkeit der Geniezeit sucht.
Der wenig ansehnliche Anton Reiser identifizierte sich mit Werther bis auf das, was »die eigentlichen Leiden Werthers anbetraf […] denn ein Mensch der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein«. Diese Seite des Genies verkörpert der Held des Romans Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787) von JOHANN JAKOB WILHELM HEINSE (1746–1803). Ardinghello ist ein florentinischer Maler, adlig, schön und vielseitig begabt. Er entfaltet in völliger Übereinstimmung mit sich selbst sein Genie in kraftvoller Sinnlichkeit und ästhetischem Genuss und gründet am Ende mit seinen Geliebten und Freunden einen Inselstaat, in dem dionysische Sinnenfreude herrscht. Heinses hedonistische Gesinnung,18 die an Wielands Agathon anknüpft und zu den Künstlerromanen der Romantik überleitet, stieß auf Goethes und Schillers Kritik. Dennoch bleibt dieser Roman ein großartiges Zeugnis für das Selbstverständnis und das Selbstgefühl des Genies.