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4. Aufklärung (1720–1785)

a) Das neue Weltbild

Die Philosophie der Empiristen1 und Rationalisten2 verminderte auch in Deutschland allmählich den Einfluss dogmatischer Theologen auf das Geistesleben. Die seit Luther verbreitete Seelenangst, das dualistisch zerrissene Weltbild mit der durch den Religionskrieg unterstützten pessimistischen Weltverneinung und der bis zu Gryphius reichende Wunder- und Gespensterglaube wichen im Licht der Vernunft einem neuen Optimismus. Die im 17. Jahrhundert so vielgeschmähte Welt hielt man nun mit LEIBNIZ (1646–1716) für die »beste aller möglichen Welten«. Das Glücksstreben richtete sich jetzt auf das Diesseits, das Denken auf die Nützlichkeit. An die Stelle religiösen Bekehrungseifers traten vernünftige Belehrung und die Idee der Toleranz. Das zur Zeit des Erasmus von Rotterdam verlorengegangene Ideal der Humanität (vgl. Kap. 2b) begann sich im 18. Jahrhundert durchzusetzen. Am Ende der Epoche gab IMMANUEL KANT (1724–1804) die gern zitierte Begriffsbestimmung:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.3

Diese durch naturwissenschaftliche Erfolge gesteigerte Wertschätzung der Vernunft bedrängte zwar jede Orthodoxie, doch nicht die subjektive Herzensfrömmigkeit, die ebenso wie der Rationalismus auf dem Grundgedanken der Toleranz baute. Wie selbstverständlich fiel daher die Verteidigung des Glaubens den Pietisten zu, den Anhängern jener von Jacob Spener (1635–1705) ins Leben gerufenen Bewegung des deutschen Protestantismus, die sich zwischen 1670 und 1740 von der erstarrenden kirchlichen Institution löste, um in privaten religiösen Zusammenkünften, in sogenannten Konventikeln, einen bis zur Rührseligkeit gehenden Seelen- und Freundschaftskult zu pflegen. Man belauschte seine Seele nach inneren Gotteserlebnissen, die dann in schwärmerischer Erbauungsliteratur, in Autobiographien, Briefen, Tagebüchern und ähnlichen Formen als »Bekenntnisse einer schönen Seele« (Goethe) niedergelegt wurden.

Diese Geisteshaltung, in der man oft mehr eine Ergänzung als einen Gegensatz zum Rationalismus sah, ist später in säkularisierter Form unter dem Namen ›Empfindsamkeit‹ in die Literaturgeschichte eingegangen. Empfindsamkeit (1740–1780) macht das Gefühl zum Maßstab, meint das Aufgeschlossensein für innerseelische Regungen sowie die Bereitschaft und das Vermögen, empfundene oder beobachtete Stimmungen zu zergliedern und fein abgestuft wiederzugeben.

Für die deutsche Literatur der Aufklärungszeit waren die geistesgeschichtlichen Strömungen des Rationalismus, des Pietismus und der Empfindsamkeit von größerer Bedeutung als die stilgeschichtliche Entwicklung des Barock zum Rokoko4; denn die harmlose, spielerische Rokokodichtung (1730–1750) beschränkte sich in der Nachfolge des antiken Lyrikers Anakreon (6. Jh. v. Chr.) zu sehr auf das Lob der Liebe, des Weines und heiterer Geselligkeit.

b) Lehrgedicht und Lyrik

Die Vernunft, die sich vormals der theologischen Dogmatik zu beugen hatte, sucht am Anfang ihrer Freisetzung deistische Gottesbeweise.5 Wie der Philosoph Leibniz in seiner Theodizee (1710) versucht der Dichter BARTHOLD HEINRICH BROCKES (1680–1747) in der vielbändigen Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott (1721–48) »den Schöpfer im Geschöpf« zu erkennen. Unablässig weist Brockes auf Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur, um aus der Harmonie der Welt auf einen vernünftigen Schöpfer zu schließen. Er meint:

Wer also jederzeit mit fröhlichem Gemüt

In allen Dingen Gott als gegenwärtig sieht,

Wird sich, wenn Seel und Leib sich durch die Sinne freuen,

Dem großen Geber ja zu widerstreben scheuen.

ALBRECHT VON HALLER (1708–1777), der viel von Brockes lernte, schrieb nach einer botanischen Studienreise in die Berner Bergwelt das Lehrgedicht Die Alpen (1729). Das oft überarbeitete Gedicht in zehnzeiligen Alexandriner-Strophen mischt in den Erlebnis- und Studienbericht kulturkritische Gedankengänge und Stilzüge der Schäferdichtung. Haller öffnet seinen Zeitgenossen die Augen für die Schönheit des Schweizer Hochgebirges, das man bis dahin als abstoßend wild ansah, und stellt, Rousseau vorwegnehmend, das einfache Leben der Gebirgsbewohner über das bequeme naturferne Leben in den Städten. – Obgleich das Gedicht Vorbild klassizistischer Landschaftsschilderungen wurde, kritisierte Lessing im Laokoon (vgl. ) diese Art beschreibender Dichtung.

Dieselbe Kritik trifft das Lehrgedicht Der Frühling (1749) von EWALD VON KLEIST (1715–1759), denn auch Kleist, der sich u. a. auf Haller beruft, verfährt nach dem Grundsatz »ut pictura poesis«6 und reiht auf einem Spaziergang hübsch geschaute Einzelbilder aneinander, ohne das betrachtende Gedicht durch eine Handlung zu einer Einheit zu verknüpfen. Dennoch fand die gefühlvolle idyllische Verklärung des Landlebens und der Natur wegen des damals noch ungewöhnlichen Hexameters7 außerordentliche Beachtung.

Den Höhepunkt gefühlvoll beschaulicher Naturbetrachtung bilden SALOMON GESSNERS (1730–1788) Idyllen (1756). Geßner, der auch Landschaftsmaler und hervorragender Kupferstecher war, fand: »Es ist eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittelst derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen.« Dementsprechend malen seine Idyllen (vgl. Kap. 3, Anm. 20) in wohllautender Prosalyrik paradiesische Landschaften, in denen sanftmütige Hirten und schöne Schäferinnen mit griechischen Namen in völliger Übereinstimmung mit einer gartenähnlichen Natur leben. Aus den abgerundeten, fein stilisierten Visionen weht der Geist der griechischen Dichter Theokrit und Longos. Schiller, der an der Form der Idyllen die Vereinigung von Natur und Geist schätzte, bedauerte zugleich ihr elegisches Moment.8 Die Idyllen, sagt er, »stellen unglücklicherweise das Ziel hinter uns, dem sie uns doch entgegenführen sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung einflößen«.

Nicht weniger wirklichkeitsfern als Geßner in den rückwärtsgewandten Idyllen sind die Anakreontiker HAGEDORN (1708–1754), GLEIM (1719–1803), Uz (1720–1796) und GÖTZ (1721–1781), die in leichten, unverbindlichen Liedern Freundschaft und heitere Geselligkeit preisen. – Hagedorn gab den Anstoß:

Ihr Dichter voller Jugend,

Wollt ihr bei froher Muße

Anakreontisch singen,

So singt von milden Reben,

Von rosenreichen Hecken,

Vom Frühling und von Tänzen

Von Freundschaft und von Liebe; [so weit, so gut]

Doch höhnet nicht die Gottheit,

Auch nicht der Gottheit Diener,

Auch nicht der Gottheit Tempel.

Verdienet, selbst im Scherzen,

Den Namen echter Weisen.

Gleim erfüllte das Programm mit stets neuer »Einladung zum Tanz«:

Kein tödliches Sorgen

Beklemmet die Brust!

Mit jeglichem Morgen

Erwach ich zur Lust.

Hier unter den Reben,

Die Bacchus gepflanzt,

Mir Schatten zu geben,

Sei heute getanzt!

Freund Uz stimmt ein:

Seht den holden Frühling blühn!

Soll er ungenossen fliehn?

Fühlt ihr keine Frühlingstriebe?

Freunde, weg mit Ernst und Leid!

In der frohen Blumenzeit

Herrsche Bacchus und die Liebe.

Und so geschah es denn auch – zumindest dem Wort nach in dieser harmlosen, aber langlebigen Modelyrik, die im Biedermeier noch einmal wiederkehren sollte.

Der bekannteste und beliebteste Dichter um die Mitte des 18. Jahrhunderts war CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT (1715–1769). Gellert, der nach einer wissenschaftlichen Abhandlung über die Theorie der Fabel9 in Leipzig Professor der Poesie, Eloquenz und Moral wurde, bewies mit seinen Fabeln und Erzählungen (1746 und 1748), dass er die von Äsop (6. Jh. v. Chr.) und La Fontaine (1621 bis 1695) zu uns gekommene Gattung auch praktisch im Griff hatte. Seine 143 Versfabeln erzählen in paarweise gereimten Jamben kleine Begebenheiten, die häufig in einer Nutzanwendung münden. Diese Moral klingt bei Gellert nie gebieterisch, sondern ist immer als eingängige Empfehlung formuliert, so wie Kritik und Spott bei ihm nie verletzen. Die Form der Fabel entsprach dem aufklärerischen Bedürfnis nach unterhaltender Belehrung; der bis in heutige Lesebücher reichende Ruhm Gellerts gründet aber vor allem auf jener Liebenswürdigkeit und dem in Deutschland seltenen Geschick, große Kunstfertigkeit mit volkstümlicher Schlichtheit zu verbinden.

Auf dem Hintergrund der erbaulichen, empfindsamen, verspielten oder moralisch-vernünftelnden Poesie der Zeit wirkte Klopstocks Lyrik wie eine Offenbarung. FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK (1724–1803) fühlte sich wie Johann Christian Günther (vgl. Kap. 3c) zur Dichtung berufen. Doch wusste er anders als Günther dieser Berufung unbedingte Geltung zu verschaffen. Bereits als Schüler fasste Klopstock den Plan zu einem Epos, das ihm die Unsterblichkeit eines Homer oder Milton verleihen sollte; und tatsächlich machten die ersten beiden Gesänge des Messias (1748–73) den kaum dreißigjährigen Klopstock über Deutschlands Grenzen hinaus berühmt und sicherten ihm die Lebensgrundlage als erstem deutschen Berufsdichter. Klopstock, der sich ganz als priesterlichen »Sänger des Herrn« verstand und daraus ein bisher nie gekanntes Selbstbewusstsein der Dichterwürde ableitete, verdankt seine bahnbrechende Wirkung allerdings weniger dem Messias als den frühen Oden und Elegien. In diesen seit 1748 erschienenen und 1771 gesammelten Gedichten fallen nicht nur zum erstenmal seit Günther wieder geistiges Erleben und Dichten zusammen, vielmehr entdeckt Klopstock hier die Lyrik als eine rhythmische Bewegung, die sich von allen vorgegebenen Regeln zu befreien vermag. Über Hexameter und Ode10 findet er, zuerst 1754 in dem Gedicht »Die Genesung«, den Weg zu den freien Rhythmen, die, reimlos und unabhängig von festen Metren und Strophenformen, unmittelbar dem Gefühl folgen.

Klopstock befasst sich in seinen Gedichten ausschließlich mit erhabenen Gegenständen, mit Gott, Freiheit und Vaterland, mit Unsterblichkeit, Natur und Freundschaft. Das wirklich Gegebene ist ihm dabei jeweils nur Ausgangspunkt für den irrationalen Flug der Begeisterung und der Ergriffenheit. Die »Elegie« auf die künftige Geliebte, die Gedichte »Der Zürchersee«, »Das Rosenband«, »Die Frühlingsfeier«, »Die frühen Gräber« und die Ode auf den »Eislauf« zeigen unter anderem jene erste rückhaltlose Aussprache hymnisch gesteigerter Empfindungen, die den nachfolgenden Lyrikern Mut machte, hinter modischen Klischees hervorzutreten.

c) Poetik und Drama

Der erste Literaturtheoretiker der Aufklärungszeit war der Leipziger Professor für Philosophie und Dichtkunst JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED (1700–1766). Er schrieb 1730 den Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, »Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Überall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe«.

Als Aufklärer wendet sich Gottsched gegen die wildwuchernde Phantasie und den aufgeblasenen Stil der spätbarocken Opern und der volkstümlichen Stegreifspiele. Er möchte in hochsprachlichen Alexandrinern Vernunft und Geschmack, d. h. Dramen in Übereinstimmung mit den poetischen Regeln, zur Geltung bringen. Seine poetischen Regeln gehen aber über das hundert Jahre ältere Buch von der Deutschen Poeterey (Opitz, vgl. Kap. 3a) kaum hinaus. Gottsched erhebt die drei Einheiten des Aristoteles (vgl. Kap. 3, Anm. 13) zum Gesetz und behält die äußerliche Unterscheidung zwischen Tragödie und Komödie, die Einteilung der Stilebenen (vgl. Kap. 3, Anm. 7) und auch die Ständeklausel (vgl. ) bei; nur dass jetzt alles ohne Wunder oder Geister vernünftig zuzugehen hat und dass statt des Glaubens jetzt die Moral an erster Stelle steht. Gottscheds Anweisung für den Dramatiker lautet:

Der Poet wählet sich einen moralischen Lehrsatz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit eines Satzes erhellet. Hiernächst suchet er in der Historie solche berühmte Leute, denen etwas ähnliches begegnet ist; und von diesen entlehnet er die Namen, für die Personen seiner Fabel; um derselben also ein Ansehen zu geben. Er erdenket sodann alle Umstände dazu, um die Hauptfabel recht wahrscheinlich zu machen; und das werden die Zwischenfabeln, oder Episodia nach neuer Art, genannt. Dieses theilt er dann in fünf Stücke ein, die ohngefähr gleich groß sind, und ordnet sie so, daß natürlicher Weise das letztere aus dem vorhergehenden fließt […].

So trocken wie diese Anweisung geriet denn auch das Musterstück Sterbender Cato (1731), das Gottsched aus zwei zeitgenössischen Cato-Dramen zusammenbastelte. Dennoch war das Stück sehr erfolgreich und half dem Literaturprofessor in praktischer Zusammenarbeit mit der Theaterdirektorin Caroline Neuber (1697–1760), der herabgekommenen Schauspielkunst beim bildungsbeflissenen Bürger neues Ansehen zu verschaffen. Gottscheds und der Neuberin Theaterreform, die in einer Vertreibung des Hanswurst ihren symbolischen Ausdruck fand, führte Literatur und Bühne wieder zusammen und gab dem damals allzu leichtgenommenen Geschäft der Komödianten Ernst und Würde.

Widerspruch erfuhr Gottsched zuerst 1740 von den Zürichern BODMER (1698–1783) und BREITINGER (1701–1776). Die Schweizer meinten, Dichtung wende sich keinesfalls ausschließlich an den Verstand, sondern auch an das Gemüt; darum gehe es nicht an, die Einbildungskraft auf die wirkliche Welt zu beschränken, vielmehr sei es das Vorrecht der dichterischen Phantasie, auch in nur denkbare Welten vorzudringen, solange sich das Wunderbare in der Poesie mit dem Wahrscheinlichen verbinde.

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729–1781) beginnt seinen berühmten 17. Literaturbrief (1759) mit den Worten:

»Niemand«, sagen die Verfasser der Bibliothek11, »wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.«

Ich bin dieser Niemand; ich leugne es geradezu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte.

Lessing, der seine Laufbahn als Dramatiker selbst mit einer bei der Neuberin uraufgeführten Typenkomödie im französischen Stil begonnen hatte, wirft Gottsched die Abhängigkeit von den französischen Klassizisten Corneille, Molière und Racine vor, denn er hat erkannt, dass das Genie und die Leidenschaftlichkeit Shakespeares dem deutschen Wesen und Geschmack weit besser entsprechen als das rationalistische, französierende Theater.

In den 52 Theaterkritiken, die Lessing während seiner Arbeit am Hamburger Nationaltheater schrieb und unter dem Titel Hamburgische Dramaturgie12 (1767–69) veröffentlichte, wird die Kritik an Gottsched und den französischen Klassizisten fortgeführt; sie mündet in eine grundsätzliche Erörterung der Dramenkunst.

Lessing weist nach, dass Corneille die Poetik des Aristoteles erst nach Beendigung seines Dramenwerkes gelesen und den alten Theoretiker, auf den sich die Franzosen als Autorität beriefen, zur eigenen Rechtfertigung falsch ausgelegt hat. – Aristoteles definierte:

Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von bestimmter Größe in gewählter Rede, derart, daß jede Form der Rede in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben diesen Affekten bewerkstelligt wird.13

Die Furcht, erläutert Lessing, meint hier nicht, wie Corneille es wollte, den Schrecken vor dem dramatischen Helden, nicht ein Gruselmoment (terreur), das wahlweise und unabhängig vom Mitleid eingesetzt werden kann, sondern gemeint ist die Furcht für den Helden aus einer unlösbar mit dem Mitleiden verbundenen Sorge des Zuschauers um sein eigenes Schicksal:

[…] es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.

Das Mitleid setzt einen Helden voraus, der unverdient leidet, die Furcht einen Helden, mit dem sich der Zuschauer identifizieren kann. Darum verwirft Lessing mit Aristoteles den »völligen Bösewicht«, aber auch den passiven Märtyrer als dramatischen Helden. – Da das dramatische Spiel seine Wirkung aus der Identifikation des Zuschauers mit dem Helden zieht, kommt es überdies auf die Glaubwürdigkeit der Handlung an. Und nur insofern sie die Glaubwürdigkeit unterstützen, haben die drei Einheiten für Lessing Bedeutung. Schlüssigkeit der Handlung, Natürlichkeit der Charaktere und Folgerichtigkeit in allen Beweggründen sind ihm wichtiger als die strenge Wahrung der Einheit von Ort und Zeit. Lessing zeigt, dass gerade die krampfhafte Bemühung der Franzosen um die Einheit von Ort und Zeit zu unglaubwürdigen Verrenkungen im Handlungsablauf geführt hat, ein Grundfehler, der dem dramatischen Genie Shakespeare niemals unterlaufen wäre.

So gründlich wie Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie die herrschende Meinung über die aristotelischen Dramenregeln überprüfte, so gründlich untersuchte er in der Schrift mit dem Titel Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Nachahmungstheorie, die aus der Poetik des Horaz erwachsen war (vgl. Kap. 4, Anm. 6).

JOHANN JOACHIM WINCKELMANN (1717–1768), dessen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) die Griechenbegeisterung der deutschen Klassik prägten, hatte, mit einem Seitenhieb auf Vergil, darauf hingewiesen, dass der Laokoon14 des spätgriechischen Bildhauers nur seufze, während der Laokoon in der Aeneis laut schreie und so die »edle Einfalt und stille Größe« vermissen lasse, die das Hauptkennzeichen griechischer Meisterwerke der bildenden Kunst seien. Lessing, der dagegen anführt, dass auch in Homers Epen die Götter und Helden schreien, nimmt Winckelmanns Bemerkung zum Anlass, nach dem Grund für die unterschiedliche Darstellung zu fragen. Seine Antwort lautet: nicht der künstlerische Rang bedingt den Unterschied, sondern die unterschiedliche Natur der Künste; denn Lessing schlussfolgert:

Die Anschauungsform der Malerei ist der Raum. Hauptgegenstand der Malerei sind Körper. Das Gestaltungsmittel ist das Nebeneinander von Form und Farbe. – Die Anschauungsform der Poesie dagegen ist die Zeit. Hauptgegenstand der Poesie sind Handlungen. Das Gestaltungsmittel ist das Nacheinander der gesprochenen oder geschriebenen Sprache.

Will nun der Maler Handlungen darstellen, so kann er dies »nur andeutungsweise durch Körper«, indem er einen prägnanten Augenblick, »eine sichtbare stehende Handlung«, festhält. – Will der Dichter Körper darstellen, so kann er dies »nur andeutungsweise durch Handlungen«; Beispiel: »Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muss sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück vor Stück umtun; […]. Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malet.«

So falsch in der Dichtung die Nachahmung der Natur durch handlungslose Beschreibung ist (Lessing denkt an die Gedichte von Brockes, Haller und Ewald von Kleist, vgl. Kap. 4b), so falsch wäre es in der bildenden Kunst, eine fortschreitende Handlung darzustellen. Der Schrei eines Laokoon ist in der Dichtung am Platz, weil er dort vorübergeht; in einem Bildwerk zur Dauer erstarrt, wäre dieser »transitorische Moment« viel schwerer erträglich und würde bei längerer Betrachtung unwahr wirken. – Mit seiner einleuchtenden Abgrenzung der Künste hat Lessing die auf Horaz gründenden Nachahmungstheorien seiner Zeit widerlegt und der Sturm-und-Drang-Ästhetik15 den Weg geebnet. (Vgl. in diesem Zusammenhang den inzwischen von der Neurologie festgestellten Funktionsunterschied zwischen den Hemisphären des menschlichen Gehirns.)

Was Lessing als Literaturtheoretiker forderte, hatte er selbst als Dichter bereits zum Teil erfüllt. Entsprechend der Einsicht, dass sich der bürgerliche Zuschauer, um Erschütterung seines Herzens durch Furcht und Mitleid zu erfahren, mit dem dramatischen Helden identifizieren muss, hat Lessing mit der Ständeklausel (vgl. ) gebrochen und 1752 mit Miss Sara Sampson ein bürgerliches Trauerspiel geschrieben.

Dieses nach Cardenio und Celinde (Gryphius, vgl. Kap. 3b) erste bürgerliche Trauerspiel verzichtet auf den höfischen Heldentypus des französierenden Theaters. Der Name im Titel verrät die Hinwendung zu englischen Vorbildern. Anstelle eines weltbewegenden mythologischen Heroismus sucht das Stück in Anlehnung an Richardsons Roman Clarissa (1748, deutsch 1788) und Lillos Drama The London Merchant (1731, deutsch 1752) den Konflikt der empfindsamen Seele. Die in Prosa verfasste Tragödie weckt das Mitleid der Zuschauer durch den »moralisch rührenden Konflikt zwischen Tugendgehorsam und Herzenszärtlichkeit« (Benno von Wiese) und durch der Heldin innere Schönheit im Unglück:

Miss Sara, die von ihrem Geliebten Mellefont entführt worden ist, leidet wegen ihres verlassenen Vaters Gewissensbisse. Mellefonts frühere Geliebte Marwood setzt den Vater auf Saras Spur. Dieser kündigt mit seiner Ankunft den Liebenden zugleich seine Verzeihung an. Die eifersüchtige Marwood, die mit so viel Güte nicht gerechnet hat, vergiftet Sara. Doch von ihres Vaters Güte bewegt, vergibt die sterbende Sara ihrer Mörderin. Über den Tod der edlen Geliebten verzweifelt und voll Reue, dass er sie nicht geehelicht hat, richtet sich Mellefont selbst, nachdem er wie Sara seine und der Marwood Tochter Arabella der Obhut des Alten empfohlen hat.

Nicht weniger bahnbrechend als das erste bürgerliche Trauerspiel war Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück (1767).

Lessings frühe Lustspiele, Der junge Gelehrte, Der Misogyn, Die alte Jungfer und Der Weiberfeind, folgen der überlieferten Form der Typenkomödie. Da wurden einseitig charakterisierte Helden, meist vor der Vernunft ihrer Diener, als Narren verlacht. Das hatte sich überlebt. Lessing mochte nicht mehr wie einst Molière auf die komische Vernichtung ausgehen. Er trat jetzt auch in der Komödie für den wirklichkeitsnäheren »gemischten Charakter« ein. In der Hamburgischen Dramaturgie formuliert er das neue Ziel:

Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerlichen Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken.

Lächerlich wirkt in Minna von Barnhelm das unbeeinflussbare Ehrgefühl des Majors von Tellheim. Doch Tellheims Beschränktheit ist keine Narrheit; sie rührt aus einem wohlbegründeten tragischen Konflikt: Der preußische Major, der im Siebenjährigen Krieg16 für die sächsischen Stände als Bürge eintritt, verliert dabei nicht nur sein Vermögen, sondern kommt gerade durch diese Großmut in ehrenrührigen Verdacht und wird als Offizier verabschiedet. Wegen dieser Umstände löst er seine Verlobung mit Minna von Barnhelm. Das ist für ihn ein unabdingbares Gebot, das nur durch eine sachliche Ehrenrettung, wie sie am Ende des Stückes erfolgt, aufgehoben werden kann. Minnas Überredungskunst muss daran scheitern. Doch die liebenswürdige Sächsin erkennt Tellheims Befangenheit in seiner Tugendgesinnung als Schwäche und wendet gegen diesen Mangel an innerer Freiheit eine lustspielhafte List. Da Tellheim nicht gegen seine Grundsätze zu bewegen ist, dreht Minna den Spieß herum. Sie selbst gibt den Verlobungsring mit der bitteren Bemerkung zurück, dass sie um Tellheims willen enterbt worden sei. War es erst Ehrensache für den unglücklichen Tellheim, die glückliche Minna zu meiden, so ist es nun gleichfalls Ehrensache, sich mit der vermeintlich unglücklichen zu verbinden: »[…] ihr Unglück hebt mich empor, ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen –«

Freilich, die List wird entdeckt, und nichts wäre durch Minnas helle Vernunft und Heiterkeit gewonnen, käme am Ende nicht als deus ex machina17 das Handschreiben des Königs, das Tellheims Ehre wiederherstellt.

Problematischer ist die Tragödie der Emilia Galotti (1772). – Ursprünglich war es der tyrannische Dezemvir Appius Claudius, der sich (449 v. Chr.) in Virginia verliebte und seine Macht missbrauchte, die sittsame Plebejerin ihrem Verlobten Icilius zu entreißen. Um Virginias Freiheit und Tugend zu retten, tötete der Vater Virginius seine Tochter und löste damit den Sturz der Regierung aus.

Lessing, der das Geschehen auf einen absolutistischen Kleinstaat im Italien seiner Zeit überträgt, lässt den Umsturz beiseite und richtet den Blick auf den moralisch-seelischen Zwiespalt des bürgerlichen Vaters und seiner Tochter.

Emilia fürchtet die Nachstellungen des Prinzen von Guastalla, der ihren Bräutigam Graf Appiani ermorden ließ, nicht zuletzt aus der Sorge, verführbar zu sein. Ihr Wort »Ich stehe für nichts« hat man oft getadelt und oft zu rechtfertigen versucht. – Das Rührende der Tragödie liegt in des Vaters Odoardo Bereitschaft, seiner Tochter die Bewährungsprobe abzunehmen. Odoardo wagt nicht mehr, Emilias Schicksal gelassen dem Lauf der »besten aller möglichen Welten« anheimzugeben; er wagt noch nicht den Fürstenmord, der nach 1789 in seinem Fall verübt worden wäre; so bleibt ihm nur der übereilt beschlossene Mord an seiner Tochter, das heißt eine gegen ihn selbst gekehrte Ohnmachtstat, auf die, wie Kommerell sagt, das Zwielicht stoischen Übermenschentums fällt. Heute legt man Emilia Galotti gern als »eines der ersten politischen Dramen der neueren deutschen Literatur« aus und sieht in dem Stück Lessings eindeutige »Wendung gegen feudalistische Machtanmaßung und Willkür«.

Als Lessings eigentliches Vermächtnis gilt das in Blankversen18 geschriebene »dramatische Gedicht« Nathan der Weise (1779).

Lessing hatte als Bibliothekar in Wolfenbüttel unter dem Titel Fragmente eines Ungenannten (1774 ff.) religionskritische Schriften aus dem Nachlass des Deisten (vgl. Anm. 5) Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) veröffentlicht und sich damit die heftigste Kritik strenggläubiger Theologen, vorab des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze (1717–1786), zugezogen. Der öffentlich ausgetragene Streit mit Goeze, der für Lessing kein gleichrangiger Gegner war, hatte so viel Sprengkraft, dass Lessings Dienstherr, Herzog Karl von Braunschweig, unter dem Druck der Kirche seinem Bibliothekar in dieser Sache das Wort verbot. Lessing aber, dem es mehr um eine triftige Kritik der Orthodoxie ging als um den Spaß, Pastor Goeze zu foppen, brachte das Problem im Nathan auf die Bühne.

Im Jerusalem der Kreuzzüge stoßen Vertreter der drei großen Offenbarungsreligionen, Anhänger des jüdischen, des christlichen und des mohammedanischen Glaubens, zusammen. Den Kern des sich daraus entfaltenden Ideendramas bildet eine aus Boccaccios Decamerone (1349/53) stammende Beispielgeschichte im dritten Akt. Der in die Verteidigung seines Glaubens gedrängte Nathan überzeugt mit dieser klug abgewandelten Parabel19 seine Gegner, dass der Wert geoffenbarter Religionen sich einzig in der sittlichen Bewährung ihrer Anhänger beweisen könne. Die aufgeklärte Vernunft gebietet:

Es eifre jeder seiner unbestochnen

Von Vorurteilen freien Liebe nach!

Zum Zeichen, dass wahre Religion auch wahre Humanität bedeutet, stellt sich am Schluss heraus, dass die anfangs verfeindeten Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen untereinander verwandt sind.

Das Schauspiel bleibt mit seiner märchenhaften Fabel und mit dem idealisierten Helden hinter Lessings eigenen Forderungen nach glaubwürdiger Handlung und wirklichkeitsnahen gemischten Charakteren zurück. Lessing wusste das und verteidigte das Wunderbare seines im Nathan gestalteten Lebensideals mit der Bemerkung: »[…] die Welt, wie ich sie mir denke, ist eine ebenso natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen, daß sie nicht ebenso wirklich ist.« –Solange Humanität und Toleranz pädagogische Ideale sind, wird Lessings Nathan in den Leselisten der Schulen ganz oben stehen. Im Dritten Reich war das Stück verboten.

d) Roman und Verserzählung

Der aus dem höfischen Versepos entstandene Roman, der sich über Volksbuch und Ritterroman im Barock zum heroisch-galanten, zum Schäfer- und zum Schelmenroman entwickelt hatte (vgl. Kap. 3d), wurde im 18. Jahrhundert aufklärerisch, empfindsam und moralisch. Diese neuen Züge konnten sich zunächst durchaus mit bewährten alten Motiven verbinden.

Der schiffbrüchige Schelmuffsky, der hinter dem Garten des Bürgermeisters von Amsterdam »anländete«, nahm nur einen Topf Sauerkraut in Besitz; aber schon Simplicissimus war auf einer unbewohnten Südseeinsel gestrandet, die so schön war, dass er beschloss, für immer dort zu bleiben. Jetzt hatte Daniel Defoe (1660?–1731) im Robinson Crusoe (1719, deutsch 1720) das abenteuerliche Scheitern zu einer höchst lehrreichen Erfahrung gestaltet und damit unzählige Nachahmer angeregt. Beispielhaft für den religiös-aufklärerischen Geist der Zeit gelang JOHANN GOTTFRIED SCHNABELS (1692–1752) Robinsonade Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines geborenen Sachsens, auf der Insel Felsenburg (1731–43):

Albert Julius strandet mit Kapitän Lemelie, van Leuven und dessen Braut Concordia auf einer Südseeinsel. Lemelie hat es auf Concordia abgesehen. Er ermordet van Leuven, läuft dann aber in Alberts Messer. Als Albert über seine heimliche Liebe zu Concordia zu sterben droht, bricht Concordia dem toten van Leuven die Treue und heiratet Albert. Mit seinen Kindern, anderen Schiffbrüchigen und wenigen geladenen Einwanderern gründet Albert einen idyllischen patriarchalischen Inselstaat, der, ohne Geld und Standesunterschiede, das tugendfromme Gegenbild zum absolutistischen Staat wird. Durch die Verbindung des Robinson-Motivs mit einer pietistischen Staatsutopie20 rückt die einsame Insel vom Verbannungsort Gescheiterter zur Zuflucht Rechtschaffener aus einer verdorbenen Welt auf. So kündigt sich hier bereits Rousseaus Kulturpessimismus an.

Die meisten Leser der Romane kamen aus der Leserschaft der pietistischen Erbauungsliteratur und der nach englischen Vorbildern entstandenen »Moralischen Wochenschriften«21. Diese Leser, die wie der englische Philosoph Shaftesbury (1671–1713) das Schöne und das Gute mit ein und demselben Organ erfassten, durchlitten mit schwärmerischer Lust die von den schönen Seelen in der Dichtung geübte tugendvolle Entsagung erotischer Erfüllung. Darum verflochten die Erzähler ihre groben Motive aus den barocken Abenteuerromanen immer enger mit aufklärerischer Tugendgesinnung und empfindsamer Innerlichkeit. GELLERT, der auch in seinen Versfabeln kunstfertig für Moral eintrat (vgl. Kap. 4b), lieferte mit dem Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747–48) einen »Musterfall moralischer Planwirtschaft« (Martin Greiner):

Die wohlerzogene Heldin, die als sechzehnjährige Waise den schwedischen Oberst Graf G. heiratet, wird wegen ihrer Schönheit vom Prinzen S. verfolgt. Der Prinz schickt den Grafen im Nordischen Krieg (1700–1721) an die Front und verurteilt ihn nach verlorener Schlacht zum Tode. In einem Abschiedsbrief mahnt der Graf seine junge Frau zur Flucht nach Holland mit Freund R. Die Gräfin, die voll mütterlicher Fürsorge ihres Gatten frühere Geliebte mitnimmt, heiratet dort nach einigen Jahren Freund R. – Da kommt der totgeglaubte Graf aus sibirischer Gefangenschaft zurück, und die Gräfin wird wieder Gattin ihres ersten Gemahls. Nach dessen Tod schlägt sie die Hand des inzwischen geläuterten Prinzen S. aus und kehrt zu Freund R. zurück, der vormals so edelmütig verzichtet hatte. – Intrigen, Geschwisterehe und Giftmord in der Nebenhandlung begleiten das tugend- und vernunftgesteuerte Leben der schwedischen Gräfin von G …

Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (1769–73) von JOHANN TIMOTHEUS HERMES (1738–1821) nimmt dagegen kein gutes Ende. Nicht nur, dass Sophie nicht weiter als bis Königsberg kommt – Betrug, Spionage und Entführung halten sie im Preußen des Siebenjährigen Krieges auf –, sondern diese schöne Waise kann sich zwischen zwei auf der Reise kennengelernten Liebhabern nicht entscheiden und verspielt, anders als die schwedische Gräfin von G., die Gunst beider. Sophies doppelsinniges Abschiedswort: »Ich geh’ nach Sachsen und komm’ als die Braut des würdigsten Mannes zurück«, nimmt ihr rechtschaffener Wohltäter Puf für ein Eheversprechen, und als solches versteht und achtet es auch der andere Liebhaber namens Less. ., auf den Sophie nun vergeblich wartet. Sophies Zögern gegenüber Puf gilt als leichtfertige Tändelei und als undankbare Sprödigkeit. Less . . empfindet mit Puf und schreibt empört an den gemeinsamen Freund Gros: »[…] lassen Sie uns nach dem ganzen Maß unsrer Kenntnis und Erfahrung drauf denken, die Sprödigkeit und alles, was unter diesen weiten Titel gehört, so verhaßt zu machen, als einige gutgesinnte Sittenlehrer die Frechheit verhaßt gemacht haben.« Das eben beabsichtigt auch Hermes mit seinem Briefroman. Doch Sophies doppelsinniges Ausweichen vor Pufs Eheangebot gründete nicht in Sprödigkeit, sondern im Verlangen, den Gatten selbst zu wählen und sich darin nicht zufälligen Gegebenheiten anzupassen wie die schwedische Gräfin von G. Dieser Eigensinn, der hier fehlschlug, fand günstigere Bedingungen in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771).

Wielands Kusine SOPHIE VON LA ROCHE (1731–1807) schrieb mit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim ein Beispiel vorbildlicher Mädchenerziehung und wurde schlagartig berühmt als erste Romanschriftstellerin.

Wieder ist die Heldin eine schöne, wohlerzogene Waise. Eine gewissenlose Tante möchte sie zur Mätresse des Landesherrn machen. Das Fräulein flüchtet in die Ehe mit Lord Derby, aber dieser Casanova lässt die »Trauung« von einem als Pfarrer verkleideten Diener durchführen, um das schändlich entehrte Fräulein bald wieder zu verlassen. Das wechselvolle Schicksal folgt den von Richardson und Gellert her bekannten Motiven. Neu an der Geschichte ist, dass das Fräulein von Sternheim ihre Erniedrigung durch einen selbstbewussten Entschluss zur Sozialtätigkeit überwindet und an einer Gesindeschule unterrichtet. Diese Selbständigkeit der Heldin begeisterte Herder, Goethe, Lenz und die ganze junge Generation der Stürmer und Dränger, die hier bereits einen Anflug von Selbstbefreiung und Selbstbestimmung witterten und darüber vergaßen, dass das eigentliche Erziehungsideal der La Roche quietistische Gelassenheit war.

Ein ausgeprägtes Zeugnis rationalistischer Aufklärung ist der Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773–76) von CHRISTOPH FRIEDRICH WILHELM NICOLAI (1733–1811). Lessings Freund Nicolai war durch eine streng pietistische Schule22 zu einem kämpferischen Freigeist geworden, der in allen seinen Schriften für Gewissensfreiheit eintrat.

Der aufrechte, etwas schrullige Pfarrer Sebaldus Nothanker hält sich nicht an das Dogma von der Ewigkeit der Höllenstrafen. Von dem orthodoxen Superintendenten Stauzius23 zur Rede gestellt, bekennt er, »er glaube nicht, daß es Menschen gezieme, der Güte Gottes Maß und Ziel zu setzen«. Wegen dieser Ansicht wird er des Amtes enthoben. Mit seiner Stelle verliert er sein Haus; seine Frau und ein Kind sterben darüber. Durch orthodoxe unduldsame Menschen verliert Sebaldus Nothanker auf einer langen leidvollen Wanderung immer wieder die Lebensgrundlage, sobald er frei seine Meinung sagt und dazu steht – und das tut er nun einmal.

»Weg!« rief Sebaldus, dessen Gemüt durch mannigfaltiges Unglück verbittert war, »weg mit den Geistlichen, sie sind an allem meinem Unglücke schuld! wehe mir! wenn ich mich wieder an sie wenden sollte!«

Zuletzt hilft ihm ein Lottogewinn.

Den damals viel gelesenen Erzählern der frühen Aufklärungszeit lag das Triviale24 oftmals allzu nahe. Die große Ausnahme war CHRISTOPH MARTIN WIELAND (1733– 1813), der neben Klopstock und Lessing der dritte Wegbereiter der Klassik war.

Wieland entstammte einer in Biberach ansässigen pietistischen Pfarrersfamilie. Von Haller und Klopstock beeindruckt, glaubte Wieland zunächst, er müsse selbst ein seraphischer Dichter werden; und Bodmer, bei dem Wieland lange Zeit zu Gast war, unterstützte den frommen, aber abwegigen Selbstentwurf seines begabten Schülers. Nach drei Verlobungen jedoch, nach erweiterter Lektüre rationalistischer Aufklärer, wie Voltaire, und nach der Aufnahme in aristokratische Kreise verwandelte sich der Seraph in sein Gegenteil; er wurde zum lebensfrohen Rokokodichter mit einer eigenen Philosophie der Grazien. Für den Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit, den Wieland in schwärmerischer Religiosität eben noch durch Entsagung verdrängen wollte, findet er nun eine ästhetische Lösung: Die Welt der Sinne wird voll bejaht, ihr Genuss aber durch mäßigende Vernunft, durch spöttische oder weise Überlegenheit und Anmut des Geistes zur Lebenskunst erhoben. Wie solche Lebenskunst zu erwerben sei, schildert Wieland in der Geschichte des Agathon, dem ersten großen Entwicklungsroman25 der neueren deutschen Literatur (in drei Fassungen 1766, 1773 und 1794 erschienen):

Der schöne Jüngling Agathon neigt, wie einst der junge Wieland, zu religiöser Schwärmerei. Doch der Betrug eines Priesters und die Nachstellungen einer liebestollen Oberpriesterin vertreiben ihn aus dem Tempel in Delphi.

Agathon flieht nach Athen, wo er zunächst Schüler des idealistischen Philosophen Platon, dann Politiker wird. Durch Mut und Aufrichtigkeit gewinnt er zwar die Liebe des Volkes, doch er scheitert am Hass der Reichen und des eigennützigen Adels:

Als Staatsverbrecher verbannt, fällt er in die Hände von Seeräubern und wird in Smyrna als Sklave an den Sophisten Hippias verkauft.

Hippias, ein genusssüchtiger Zyniker, der in einem »Tempel ausgekünstelter Sinnlichkeit« residiert, möchte Agathons idealistischen Humanitätsglauben zerstören: Er führt Agathon, dessen Idealismus er nicht fortschwatzen kann, schließlich zu der bezaubernden Hetäre Danaë, die in der Rolle der seelenvollen Unschuld den Jüngling betören soll. Doch Danaë wird stattdessen selbst von echter Liebe zu Agathon ergriffen und geläutert. – Aus Zorn darüber enthüllt Hippias Danaës Vergangenheit, worauf der enttäuschte Agathon entflieht.

Er wird Politiker am Tyrannenhof des Platonschülers Dionysius von Syrakus, scheitert an Hofintrigen und landet im Gefängnis.

Hippias meint, nun endlich sei Agathon vom Idealismus geheilt. Der Sophist bietet dem gefangenen Idealisten an, sein Nachfolger in Smyrna zu werden, doch Agathon lehnt ab. Er wird stattdessen von dem weisen Archytas von Tarent ausgelöst.

In der kleinen Republik Tarent, die Archytas im Sinne des Aufklärers Kant lenkt, findet Agathon Danaë wieder und auch seine delphische Jugendliebe Psyche, in der er jetzt seine Schwester erkennt. Die utopische Gesellschaft von Tarent, in der die Weisheit (Archytas) regiert und das Schöne (Danaë) wie das Gute (Psyche) beheimatet ist, ist ein Staatswesen, dem sich Agathon mit Vergnügen und Eifer dauerhaft widmen kann in der Überzeugung, »daß wahre Aufklärung zu moralischer Besserung das einzige ist, worauf sich die Hoffnung besserer Zeiten, das ist, besserer Menschen gründet«.

Die in großartiger Prosa scheinbar umständlich ausgebreitete Geschichte des Agathon ist durchwoben von heiterer Ironie und feinen erotischen Stimmungen.26 Lessing rühmte den Roman als den ersten und einzigen für den denkenden Kopf; und Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796), der die geringgeachteten Romane als Nachfolgeform der Epen rechtfertigte, stützte seinen Versuch über den Roman (1774) vorzüglich auf Wielands Agathon.

Anspruchsloser und dadurch für manchen Leser noch vergnüglicher sind Die Abderiten (1774, Umarbeitungen 1778 und 1781). – Abdera war das antike Schilda, die Abderiten die Schildbürger, die ihren einzigen berühmten Sohn, Demokrit27, für wahnsinnig hielten und in dem Prozess um eines Esels Schatten ihren Staat aufs Spiel setzten, bis sie von heiliggehaltenen Fröschen aus Abdera vertrieben wurden und nun verstreut in aller Welt zu finden sind.

Noch zwei Verserzählungen Wielands verdienen besondere Beachtung: Musarion, oder die Philosophie der Grazien (1768) und Oberon (1780).

Musarion veranschaulicht humorvoll die notwendige Verteidigung der Erotik gegen Moralheuchelei und erläutert Wielands obenerwähntes Ideal einer harmonischen Vereinigung von Vernunft und Gefühl in der moralischen Schönheit, in der Anmut.28

Im märchenhaften Oberon verknüpft Wieland die Parodie mittelalterlicher Ritterepen mit einer idealen Liebesgeschichte. Dieses »Meisterwerk poetischer Kunst« (Goethe) steht thematisch im Zusammenhang mit den großen Humanitätsdichtungen des 18. Jahrhunderts29 und schlägt eine Brücke zwischen Rokoko und Romantik.

Kleine Geschichte der deutschen Literatur

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