Читать книгу Kleine Geschichte der deutschen Literatur - Kurt Rothmann - Страница 6
Оглавление1. Die alt- und mittelhochdeutsche Literatur1 (750–1350)
a) Denkmäler aus germanischer Zeit
Die germanischen Dichter der heidnischen Zeit kennen wir nicht. Denn vor der Christianisierung im 8. Jahrhundert schrieb und las im deutschen Sprachraum kaum jemand. Die sozialen Belange, meist kultisches und kriegerisches Brauchtum, fanden ihren Ausdruck in formelhaften Zaubersprüchen, Rätseln, Sprichwörtern und Merkversen2, die ausschließlich mündlich weitergegeben wurden.
Erst im 10. Jahrhundert schrieb ein Mönch in Fulda zwei solcher Zaubersprüche aus dem frühen 8. Jahrhundert auf. In karolingischer Minuskel3 schrieb er sie auf das leere Vorsatzblatt einer Messhandschrift aus dem 9. Jahrhundert. Man entdeckte die Sprüche 1841 in Merseburg und nennt sie darum die Merseburger Zaubersprüche. Der erste Spruch sollte der Gefangenenbefreiung dienen; er lautet:
Eiris sâzun idisi4, sâzun hera duoder.
suma hapt heptidun, suma heri lezidun,
suma clûbôdun umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun, invar vîgandun.
(Einst setzten sich Schicksalsfrauen, setzten sich hierhin und dorthin.
Einige knüpften Bande; einige hielten Heere auf;
Einige rissen an den Fesseln:
Entspring den Fesseln, entgeh den Feinden!)
Wie das Gebet will der Zauberspruch in die Wirklichkeit eingreifen, indem er die regierenden Mächte, Götter oder Dämonen, zur Handlung bewegt. Bewegende, magische Kraft traute man vor allem dem sprachbesonderen Wort zu. Im germanischen Zauberspruch liegt die Besonderheit in einer formelhaften Verdichtung: Auf die erzählerische Einleitung (spel ) und die dreigliedrige Vorbildhandlung (vgl. oben: Einige …; einige …; einige …) folgt in Befehlsform das eigentliche Mahn- oder Zauberwort (galstar ›Geflüster‹). Der zweite Merseburger Zauberspruch, der verrenkte Pferdebeine heilen soll, ist ebenso aufgebaut.
Ein weiteres germanisches Formelement ist der Stabreim (Alliteration). Der Stab- oder Anreim hebt die bedeutungsschweren Wörter im Vers durch gleichen Anlaut der betonten Stammsilben hervor: »hápt héptidun«. – Von den Konsonanten stabt (alliteriert) nur jeder mit seinesgleichen. Die Vokale dagegen staben sämtliche untereinander: »Éiris sâzun ídisi«.
Dem Mönch in Fulda war diese alte Form des Anreims offenbar nicht mehr geläufig; für das Mahnwort im letzten Vers benutzt er jedenfalls den viel jüngeren Endreim (vgl. Otfrid von Weißenburg, Kap. 1b):
insprinc haptbandun, invar vigandun.
Neben den Zaubersprüchen, Rätseln, Sprichwörtern und Merkversen kannten die Germanen den singbaren Text. Da gab es zum einen den leich (von gotisch laikan ›springen, tanzen‹), ein Bewegungslied, das ursprünglich rhythmische Arbeit oder Tanz begleitete; zum anderen gab es das liod, das als wini-liod (›Liebeslied‹) oder als Preis- und Heldenlied vorgetragen wurde. In den Preisliedern verherrlichte der adlige Dichter-Sänger (Skoph ›Schöpfer‹) die lebenden Herrscher, in den Heldenliedern die toten Heroen und die Werthaltungen ihrer Gesellschaft.
Wieder waren es Mönche in Fulda, die uns das einzige Beispiel eines deutschen Heldenliedes überliefert haben. Sie schrieben das nach einer älteren Vorlage um 810 oder 820 entstandene Hildebrandslied innen auf die Deckel eines Gebetbuches. Das Hildebrandslied erzählt einen tragischen Zweikampf zwischen Vater und Sohn. Nach dreißigjähriger Abwesenheit im Dienste Dietrichs von Bern kehrt Hildebrand heim. Er trifft auf seinen Sohn Hadubrand und gibt sich als dessen Vater zu erkennen. Hadubrand aber glaubt, sein Vater sei gefallen; er hält Hildebrands Auskunft für feige List und verhöhnt ihn. Nach dieser Beleidigung ist der Kampf für jeden ritterlichen Krieger unausweichlich.
Der Konflikt5 zwischen Ehrgebot und Vaterliebe ist ebenso wie seine Lösung durch das Schwert heroisch-heidnisch. Dennoch ruft Hildebrand bereits nicht mehr heidnische Götter an, sondern den christlichen Weltenlenker:
»welaga nu, waltant got [quad Hiltibrant], wewurt skihit.
ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante,
[…]
nu scal mih suasat chind suertu hauwan,
breton mit sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan. […]«
(»Weh, allmächtiger Gott [rief Hildebrand], jetzt vollzieht sich Unheilsschicksal.
Ich zog sechzig Sommer und Winter im Ausland umher.
[…]
Nun soll mich das eigene Kind mit dem Schwert (er)schlagen,
mit seinem Schwert treffen, oder ich selbst ihm zum Tode werden. […]«)
Der Text bricht nach 68 stabenden Langzeilen6 aus Raummangel mitten im Kampf ab. Aus anderen Überlieferungen des Stoffes und dem düsteren, ernsten Ton der germanischen Heldenlieder erschließt man, dass Hildebrand seinen Sohn tötet. – Erst in der Fassung des Jüngeren Hildebrandsliedes aus dem 13. Jahrhundert endet die Begegnung untragisch mit fröhlichem Wiedererkennen im Familienkreis.
Obgleich das Hildebrandslied mit seiner Tragik7 in knapper und zugleich anschaulicher Form ein literarästhetisch bedeutsames Kunstwerk ist, wird das Fragment8 aus Fulda heute meist nur noch als Ursprungszeugnis deutschsprachiger Dichtung zur Kenntnis genommen.
b) Die geistliche Dichtung des frühen Mittelalters
Die germanischen Heldenlieder, die Karl der Große (742 bis 814) hatte sammeln lassen, ließ sein Sohn, Ludwig der Fromme (778–840), aus religiösen Bedenken verbrennen. So kam es, dass die Tradition der vorchristlichen Dichtung abriss und nur althochdeutsche Schriften, die im Dienst christlicher Bekehrung standen, überliefert wurden: Glossen9, Interlinearversionen10, Abschwörungs- und Taufgelöbnisse, Gebete, Beichtformeln usw., geistliche Gebrauchsliteratur ohne Reiz und Nachwirkung, bis auf die Evangelienharmonie (abgeschlossen 863/871) OTFRIDS VON WEISSENBURG.
Der Theologe Otfrid wollte den Vornehmen seiner Zeit das Leben Jesu nahebringen, um die frommen Herrschaften vor dem Lärm der Welt und weltlicher Dichtung zu bewahren. Zugleich wollte er beweisen, dass man Christus nicht nur in klösterlichem Latein, sondern auch in der Volkssprache loben könne. Darum verarbeitete er in südrheinfränkischer Mundart die vier Evangelien zu einem einzigen Bericht, einer sogenannten Evangelienharmonie.
Das fünfbändige Erbauungsbuch mit seinen vier Widmungen, den Anfangs- und Schlussgebeten und den zahllosen erläuternden und moralisierenden Einschüben macht einen pomphaften, gelehrten Eindruck; und doch war es für die Geschichte der deutschen Literatur von bahnbrechender Bedeutung. Denn Otfrid entwickelte hier in Anlehnung an die lateinische Hymnendichtung den deutschen Endreim, der nun den alten Stabreim für immer ablöst.
Dieser formalästhetische Wandel vom Stabreim zum Endreim war keine Äußerlichkeit. Vielmehr verlangte der neue christliche Inhalt, der sich beständig gegen germanisch-heidnisches Gedankengut durchzusetzen suchte, ganz wesentlich nach einer eigenen sprachlichen Form. Nur so erklärt es sich, dass Otfrid mit seiner formalästhetisch wegbereitenden Leistung den unbekannten Dichter des Heliand (830) überflügelte, dessen Evangelienharmonie in altsächsischen Stabreimen wohl poetischer ist, aber in einer zu vermeidenden Formtradition stand.
Otfrids großartiger Beweis, dass man Gott nicht nur in den kirchlichen »Edelzungen«, Griechisch und Latein, loben könne, verfing zunächst nicht. Mit dem Ende der karolingischen Renaissance um 900 und dem Aufblühen der lateinischen Klosterkultur unter den Ottonen verschwand alle volkssprachliche Dichtung für rund hundertfünfzig Jahre. Wer damals überhaupt lesen und schreiben konnte, der konnte auch Latein und war damit zufrieden. Erst als es darum ging, die weltverneinenden Ideen der kluniazensischen Reform11 ins Volk zu tragen, besannen sich die Geistlichen wieder der Volkssprache.
Die Bußpredigten und Erinnerungen an den Tod waren anfänglich unbeholfene Versuche. Doch am Ende der neuen Bemühungen um die deutsche Sprache steht ein glanzvolles Beispiel dichterischer Prosa,12 in der auch der dogmatische Geist Clunys einer persönlicheren, gefühlsbetonten Frömmigkeit gewichen ist. Anstelle Christi rückt nun Maria in den Mittelpunkt kultischer Verehrung.
Das St. Trudperter Hohe Lied (um 1150) ist eine für Nonnen geschriebene Auslegung des Hohenliedes Salomonis. Der Bräutigam des biblischen Buches wird darin als der Heilige Geist gedeutet und die Braut als Maria, oder aber als die gläubige Einzelseele. Marias Empfängnis wird so zum Vorbild für die göttliche Empfängnis, die sich in jedem Menschen wiederholen kann. Vorbedingung für die mystische Vereinigung der Seele mit Gott ist tugendhaftes Leben; dazu fordert das Klosterbuch in kunstvollen Parallelismen13 auf:
Mögest du reine Gedanken haben;
so gewinnst du die Gehorsamkeit wieder
und den heiligen Glauben,
die Adam verlor
durch eitle Großsucht.
Mögest du freundliche Worte sprechen;
so gewinnst du die Geduld wieder
und die heilige Hoffnung,
die Eva verlor
durch die Begierde.
Mögest du gute Werke tun;
so gewinnst du die Demut wieder
und die heilige Liebe,
die der Teufel verlor
durch seine Überheblichkeit.
Wenn also der Mensch in Gedanken, Wort und Werken gut ist, wenn er sich in den Klostertugenden Gehorsamkeit, Geduld und Demut übt und in den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, wenn er, wie der Prolog14 verlangt, mit allen Seelenkräften nach den Kardinaltugenden strebt, »so wird der Mensch endlich eines mit Gott in der Weisheit«.
Man nennt die Mystik des St. Trudperter Hohen Liedes, die immer an die rationale Methode der Textdeutung gebunden ist, spekulativ; im Gegensatz zu der schwärmerischen, affektiven Nonnenmystik im 13. und 14. Jahrhundert.
Der neue Marienkult, der sich im Hohen Lied zeigt, steht im Zusammenhang mit anderen Mariendichtungen wie etwa Bruder Wernhers Driu liet von der maget (1172). Von hier empfing die weltliche Frauenverehrung des höfischen Minnesangs ihren Zug zur ideellen Übersteigerung.
c) Die höfische Dichtung des hohen Mittelalters
Nachdem die Bekehrung der Germanen zum Christentum abgeschlossen und die dogmatische Glaubensstrenge der Geistlichen in eine allgemeine, persönlichere Frömmigkeit übergegangen war, setzte eine Verweltlichung ein, die unter Friedrich Barbarossa (1152–1190) den Weg zu einem ersten klassischen Aufschwung der deutschen Literatur ebnete.
Der Grundgedanke des Kreuzzuges hatte den Ritter zum »Gottesstreiter« aufgewertet. Die tatsächlichen Kreuzzugserfahrungen seit 1096 hatten darüber hinaus den geistigen Horizont der Ritterschaft allmählich so sehr erweitert, dass sich der Ritterstand endlich mit gefestigtem weltbürgerlichen Selbstverständnis von der Vorherrschaft der Geistlichkeit befreite und eigene Maßstäbe für seine höfische Gesellschaft setzte.
Nicht länger wurden Weltverachtung und einsiedlerische Bußfertigkeit angestrebt, sondern Daseinsfreude und gesellschaftliche Kultur. Die neuen Tugenden hießen:
Die höfische Dichtung ging nicht darauf aus, gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden, sondern Muster aufzustellen, nach denen sich der höfische Zeitgenosse richten konnte.
Dieser gesellschaftliche Charakter der höfischen Dichtung fällt besonders am Minnesang auf. Die ›hohe Minne‹ gilt keiner Geliebten, die den Werbungen ihres Verehrers nachgeben dürfte; vielmehr wenden sich die Lieder an die hochgestellte, meist verheiratete Herrin im Mittelpunkt der höfischen Gesellschaft, an die hêre frouwe, die als Quelle festlicher Lebensfreude und seelischer Hochgestimmtheit vorgestellt wird. Um ihretwillen vollbringt der Ritter nicht nur kühne Waffentaten, um der Verehrten würdig zu sein, verhält sich der Ritter auch sonst in jeder Hinsicht ohne Fehl und Tadel. »Swer guotes wîbes minne hât, / der schamt sich aller missetât«, sagt Walther von der Vogelweide.
Die Gewährung ihrer Gunst bedeutet die Frau mit einem Lächeln, einem Blick, einem Neigen des Kopfes. Die Erotik ist in diesen Zeichen derart vergeistigt, dass es auf die persönlichen Züge der Frau eigentlich nicht mehr ankommt. Die dem Verhältnis zwischen Lehnsherrn und Dienstmann nachgebildete Beziehung zwischen der Herrin und ihrem Ritter hat rein symbolischen Wert. Entscheidend ist allein die (leidenschaftliche) Anbetung und die ihr entspringende läuternde Kraft. Eine Liebeserfüllung wäre hier unschicklich und würde alles zerstören.
Namhafte Sänger dieser hohen Minne waren Heinrich von Veldeke, Friedrich von Hausen, Heinrich von Morungen, Hartmann von Aue und Reinmar von Hagenau, genannt der Alte. WALTHER VON DER VOGELWEIDE (um 1168–1228), wohl der bedeutendste Lyriker15 der mittelhochdeutschen Zeit, sang zunächst unter dem Einfluss Reinmars am Wiener Hof:
Al mîn fröide lît an einem wîbe:
der herze ist ganzer tugende vol,
und ist sô geschaffen an ir lîbe
daz man ir gerne dienen sol.
Ich erwirbe ein lachen wol von ir.
des muoz sie gestaten mir;
wie mac siz behüeten,
ich enfröwe mich nâch ir güeten.16
(Meine ganze Freude ist eine Frau,
deren Herz voller Tugend ist.
Sie ist so schön,
dass man ihr gerne dient.
Vielleicht gelingt es mir, dass sie mir zulächelt.
Das muss sie mir gewähren;
wie könnte sie es mir versagen,
ich freue mich so auf ihren Gruß.)
Doch bald meinte Walther, dass die grundsätzliche Unerfüllbarkeit der Werbungen die Frauen hochmütig mache; er entschied:
ich wil mîn lop kêren
an wîp die kunnen danken.
waz hân ich von den überhêren?
Damit wandte sich Walther der sogenannten ›niederen Minne‹ zu. In seinen Mädchenliedern besingt er ungekünstelte, gegenseitige Gefühle, das Liebesglück, das, abgesehen vom Tagelied17, nur in der Ehe oder aber außerhalb der höfischen Standesgesellschaft erlaubt war. Die Töne, die Walther in diesen Liedern anschlägt, waren richtungweisend für die Entwicklung der Lyrik; sie sprechen auch uns heute noch unmittelbar an. Zeitlos schön wie Goethes »Mailied« ist Walthers Mädchenlied »Under der linden«.
Als Spruchdichter18 hat Walther sich mit den geistigen Problemen seiner Zeit auseinandergesetzt. Vorrangig war damals die Frage, wie die nunmehr bejahte Welt und das humanistische Menschenbild mit dem Jenseitsglauben in Übereinstimmung zu bringen seien. Die aus der Antike bekannten Güter:
werden dualistisch aufgeteilt: Besitz und Ansehen gelten als weltliches, die Gnade als geistliches Gut. Alle drei Güter zu erwerben, d. h. Gott und der Welt zu gefallen, war die schwere Aufgabe, die alle Herzen bewegte. Die höfischen Epiker haben immer wieder versucht, beispielhafte Lösungen zu entwerfen. Doch Walther hat auch hier Zweifel gegenüber der Idealisierung in der höfischen Dichtung:
[…] dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer welte solte leben.
deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der keines niht verdurbe.
diu zwei sint êre und varnde guot,
daz dicke ein ander schaden tuot.
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolte ich gerne in einen schrîn:
jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und weltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
([…] ich dachte lange darüber nach,
wie man leben solle.
Ich fand keinen Rat,
wie man drei Dinge
miteinander vereinen könne:
Die beiden ersten sind Ehre und Besitz,
von denen eines dem anderen abträglich ist,
das dritte ist die Gnade Gottes,
glänzender noch als die beiden anderen.
Die hätte ich gerne in einem Schrein,
aber das ist leider unmöglich,
dass Besitz und weltliches Ansehen und Gottes Gnade dazu in einem Herzen zusammenkommen.)
Gegenstand der höfischen Epik19 ist die âventiure20, das Abenteuer, in dem der Ritter nach êre strebt, nach Frauengunst und Waffenruhm. Das varnde guot fällt dem erfolgreichen Helden dabei zu, ohne dass er darauf aus wäre; er braucht es eigentlich nur, um seine milte damit zu beweisen.
HARTMANN VON AUE (um 1165–1215), der erste große Epiker deutscher Sprache, erschloss seinem Publikum die Artusepik des Franzosen Chrétien de Troyes. Er zeigt an zwei Artushelden, in welchen weltlichen Konflikt der Bewährung suchende Ritter möglicherweise gerät: Der Ritter Erec (1180/85) »verligt« sich aus übergroßer Liebe zu seiner Gattin Ênîte, d. h., er vergisst den ritterlichen Kampf. Der Ritter Iwein (um 1200) dagegen »verrîtet« sich und vergisst über dem Kämpfen seine Herrin Laudine. – Beide Ritter verletzen die mâze und werden darum aus der Tafelrunde des Königs Artus ausgeschlossen, bis sie ihre Fehler in weiteren Abenteuern wiedergutgemacht haben.
In seinen höfischen Legenden21 Gregorius (1187/89) und Der arme Heinrich (um 1195) geht es Hartmann von Aue um den bedrohlicheren Zwiespalt zwischen weltlicher êre und gotes hulde. Anknüpfend an die geistliche Dichtung des 12. Jahrhunderts, verlangt er im Widerstreit zwischen Gott und Welt die Aufopferung der weltlichen Güter und ein Sich-Ausliefern an die Gnade Gottes. Gregorius und der arme Heinrich weisen den Weg.
Gregorius ist das Kind geschwisterlicher Blutschande. Ausgesetzt und als Findling im Kloster erzogen, erringt er nach tüchtiger Ritterfahrt Gattin und Besitz. Doch die Gattin stellt sich als seine Mutter heraus. Siebzehn Jahre lang büßt Gregorius nun wie ein orientalischer Säulenheiliger seine Schuld, die allein im Nichtwissen bestand, bis er endlich von Gott zum Papst berufen wird.
Der arme Heinrich ist wie Gregorius ein »guter Sünder«. Er wird mitten im blühenden Leben vom Aussatz befallen. Demütig wie Hiob nimmt er die Erinnerung an den Tod hin, verschenkt seine Habe und lebt zurückgezogen auf einem Meierhof. Als das elfjährige Töchterchen des Bauern erfährt, dass das Selbstopfer einer reinen Jungfrau den armen Heinrich vom Aussatz heilen kann, will es den guten Herrn erlösen und sich den Himmel verdienen. (Die Todessehnsucht des Mädchens und Heinrichs Weltfreude veranschaulichen den Dualismus des Weltbildes.) Doch im Augenblick, als dem Mädchen das Messer an die Brust gesetzt wird, erkennt Heinrich den Widersinn des Opfers und die Pflicht, sich allein der Gnade Gottes zu überlassen. Er gebietet Einhalt und wird eben dadurch erlöst. Das opferbereite Mädchen nimmt er zur Gemahlin. – Der kurze, novellenhafte Text ist leicht im Original zu lesen.
WOLFRAM VON ESCHENBACH (um 1170–1220), der größte Epiker des deutschen Mittelalters, meinte, eine Harmonisierung zwischen Gott und Mensch müsse auch ohne Weltabkehr möglich sein. Als Modell einer Lösung bietet er die Laienfrömmigkeit des Gralsrittertums. In seinem Versroman Parzival (um 1200 – um 1210), dem ersten Entwicklungsroman (vgl. Kap. 4, Anm. 25) der Weltliteratur, führt Wolfram seinen Helden analog zur Heilsgeschichte (Paradies, Sündenfall, Erlösung) aus der Unerfahrenheit durch den Zweifel zum vorbestimmten Heil.
Parzival wird geboren, nachdem sein Vater in einer Aventiure gefallen ist. Seine Mutter Herzeloyde will ihn darum von allem Ritterwesen fernhalten. Sie lässt ihn in paradiesischer Unerfahrenheit aufwachsen. Als er dennoch aufbricht, um Ritter zu werden, steckt sie ihn in Torenkleider. In seiner »tumbheit« sieht Parzival nicht, dass Herzeloyde vor Gram über seinen Abschied stirbt. Er erschlägt in unritterlichem Kampf einen Artusritter und versäumt, den Gralskönig Anfortas nach seinem Leid zu fragen, weil er ein äußerliches Höflichkeitsgebot (»irn sult niht vil gevrâgen«) über spontanes Mitleid stellt. Als ihn die Gralsbotin darum verflucht, überfällt ihn der »zwîvel«. Er glaubt sich von Gott betrogen und kündigt ihm die Gefolgschaftstreue auf. Nach vielen Abenteuern und durch die Belehrung des Klausners Trevrizent begreift Parzival, dass nicht Trotz, sondern demütige Anerkennung unverschuldeter Schuld als Sünde nötig ist, um durch Gottes Gnade zum Heil, zur »saelde«, zu gelangen. Parzivals vorbestimmtes Schicksal erfüllt sich nach demütiger Umkehr, indem er Anfortas durch die Mitleidsfrage (»waz wirret dier?«) erlöst und selbst Gralskönig wird. – Der Dichter fasst zusammen:
swes lebn sich sô verendet,
daz got niht wirt gepfendet
der sêle durch des lîbes schulde,
und der doch der werlde hulde
behalten kan mit werdekeit,
daz ist ein nütziu arbeit.
(Wes Leben so sich endet,
Daß er Gott nicht entwendet
Die Seele durch des Leibes Schuld
Und er daneben doch die Huld
Der Welt mit Ehren sich erhält,
Der hat sein Leben wohl bestellt.
Wilhelm Hertz)
Der »wîse man von Eschenbach: laien munt nie baz gesprach«, lobte Wolframs Zeitgenosse Wirnt von Grafenberg in seinem Wigalois; und der Literaturhistoriker Fritz Martini stellt fest: von Parzivals Seelendrama »führt der innere Weg unmittelbar zu Goethes Faust«. Und doch gab es an dem vielgelesenen Epos auch sofort Kritik: GOTTFRIED VON STRASSBURG (um 1200) tadelte Wolfram als »vindaere wilder maere«, dessen dunkler Stil ohne Dolmetscher unverständlich sei; dagegen lobe er sich die »cristallinen wortelin« Hartmanns. Mit seinem Tristan (um 1210) führte Gottfried selbst die mittelhochdeutsche Epik durch eine betörend musikalische Sprache auf ihren formalen Höhepunkt.
Tristan wirbt für seinen Oheim König Marke um die Hand Isoldes und genießt durch ein Versehen den Liebestrank mit Isolde, den diese mit König Marke teilen sollte. In grenzenloser Liebe zueinander überschreiten Tristan und Isolde darauf alle gesellschaftlichen Gebote der Ehre und Treue und bezahlen ihr Glück mit ständiger Bedrohung, mit Verfolgung, Verbannung und Tod.
Im Prolog sagt Gottfried, es sei Aufgabe der Dichtung, des Guten in der Welt zu gedenken. In diesem Sinne wendet er sich mit seiner »senemaere«, dem Sehnsuchtsgedicht, an die Gemeinde der »edelen herzen«, die vom Andenken an die großen Liebenden zehren:
[…] ein man ein wip, ein wip ein man,
Tristan Isolt, Isolt Tristan.
[…]
Ir leben, ir tot sint unser brot.
sus [so] lebet ir leben, sus lebet ir tot.
sus lebent si noch und sint doch tot.
und ist ir tot der lebenden brot.
Mit dieser Anspielung auf die Eucharistie macht Gottfried die Liebenden zu Minneheiligen und verleiht ihrer Leidenschaft die Würde des Mysteriums. Doch entschieden diesseitig, verzichtet das Gedicht, das leider Fragment blieb, auf die christliche Metaphysik.
Die höfischen Versepen gaben mit ihrer idealisierten, märchenhaften Artuswelt Vorbilder für verfeinerte Lebensart durch Mäßigung (Erec, Iwein), Demut (Parzival) und Minne (Tristan). Das Nibelungenlied knüpft als Heldenepos an die vorchristliche Tradition des germanischen Heldenliedes an (vgl. Hildebrandslied, Kap. 1a) und unterscheidet sich daher wesentlich von der auf Läuterung bedachten Artusepik.
Zwar werden auch hier Ehre, Kampfesmut und Gefolgschaftstreue gepriesen, jedoch in heroisch-tragischer Unbedingtheit. Bis auf Rüdiger und Dietrich handeln die Helden des Nibelungenliedes nicht in Befolgung göttlicher Gebote und ohne Rücksicht auf ihre künftige Seligkeit.Sie stehen vielmehr als autonome sittliche Persönlichkeiten, von keinem dualistischen Zweifel gebrochen, einem Schicksal gegenüber, das sie unerbittlich in jene Ausweglosigkeit führt, in der sich der tragische Held behaupten muss: Ohne Klage oder Reue gehen sie voll maßloser Leidenschaft ihren Weg und triumphieren im rauschhaften Untergang. Erschüttert von der dämonischen Erhabenheit, verzichtet die Dichtung auf jedes moralisierende Urteil.
Die Verfasser der Legenden und der Artusepen nannten für gewöhnlich ihre Namen; die Dichter der Heldenlieder traten dagegen hinter ihrem Werk zurück. So wissen wir nicht, wer das Nibelungenlied geschrieben hat. Wahrscheinlich entstand es um 1200 am Hofe des Passauer Bischofs Wolfger.
Der Stoff, der hier in 39 Aventiuren vereinigt wurde, stammt aus sehr verschiedenen älteren Quellen. Der erste Teil streift als Vorgeschichte die Jung-Siegfried-Sagen22 (Hagen unterrichtet, wie der Drachentöter in den Besitz des Nibelungenhortes kam). Die Werbungsfahrt nach Island stützt sich auf alte Brünhildsagen, der Frauenstreit und Siegfrieds Tod auf eine jüngere, teilhistorische Sage der Merowinger. Kriemhilds Rache und vor allem der Untergang der Burgunder im zweiten Teil haben mit Etzel23 und Dietrich24 deutliche historische Wurzeln im 5. und 6. Jahrhundert.
Der unbekannte Dichter, der die heroische Handlung behutsam seiner Zeit anpasste, erzählt mit spürbarer Lebensnähe und voll innerer Beteiligung »in Kürenberges wise«; das heißt, er entwickelte aus der lyrischen Strophe25 des Kürenbergers die Nibelungenstrophe26, die zur Hauptversart des deutschen Heldenepos wurde. Das Nibelungenlied beginnt:
Uns ist in alten maeren wunders vil geseit
von helden lobebaeren, von grôzer arebeit,
von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen.27
(In alten Geschichten wird uns viel Erstaunliches berichtet: von ruhmwürdigen Helden, von großen Taten, von Freuden und Festen, von Weinen und Klagen, vom Kampf kühner Krieger sollt ihr jetzt Unerhörtes vernehmen.)
Ein Grundzug dieser Dichtung ist es, zu zeigen, »wie liebe mit leide ze jungest lônen kan« (»wie die Freude zuletzt im Leid endet«). Dementsprechend endet das Gedicht:
Ine kan iu niht bescheiden, waz sider dâ geschach:
wan ritter unde vrouwen weinen man dâ sach,
dar zuo die edeln knehte, ir lieben friunde tôt.
hie hât daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge nôt.
(Ich kann euch nicht berichten, was danach geschah: nur, dass man Ritter, Damen und Knappen den Tod ihrer Lieben beweinen sah. Damit endet die Geschichte vom Kampf der Nibelungen.)
34 Handschriften zeugen von der Beliebtheit dieser Dichtung, die oft nachgestaltet wurde, ohne uns je wieder so zu ergreifen wie in dieser frühen Form. Das Nibelungenlied ist nach Goethes Urteil »klassisch wie der Homer«.
d) Übergang zur bürgerlichen Dichtung des späten Mittelalters
Die höfische Literatur blühte in dem kurzen Zeitraum zwischen 1180 und 1220. Mit dem Niedergang des staufischen Kaisertums und der allmählichen Verlagerung der literarischen Zentren von den Fürstenhöfen in die Städte setzte die Verbürgerlichung der Literatur ein. Statt ein eigenes künstlerisches Programm zu entwerfen, ahmten bürgerliche Epigonen28 die Standesdichtung der Ritter nach. Die beliebten Stoffe wurden teils pseudohistorisch aufgeschwellt, teils zu vordergründigen Schwänken verkürzt oder auch moralisch lehrhaft ausgedeutet. Immer aber waren die Umwandlungen von so empfindlichem Formverlust begleitet, dass nur wenige denkwürdige Zeugnisse entstanden. Den Ursprung dieser Entwicklung findet man bereits bei Neidhart von Reuental und Wernher dem Gärtner.
NEIDHART VON REUENTAL (um 1180 – um 1240) dichtete schwungvolle Tanzlieder, die man nach Sommer- und Winterliedern unterscheidet. In diesen Liedern belustigt Neidhart die Hofgesellschaft, indem er ihr den dörper (›Bauer‹) im höfischen Gewand vorführt und zunächst mit den Stilbrüchen der Travestie29 spielt. Unversehens stellte sich aber die belachte Unstimmigkeit zwischen dem ideellen höfischen Anspruch und der groben Wirklichkeit als tatsächlich angemessenes Bild der Zeit heraus. Der Verfall des Ritterstandes und der Aufstieg des Bürgertums waren durch Spott nicht aufzuhalten. Umsonst wurden Neidharts Lieder immer beißender.
Nach bilderreichem Sommerlob oder knapperer Winterklage schildert Neidhart, untermischt mit Formeln des Minnesangs, wie sich die tanzsüchtige Dorfjugend unter der Linde oder winters in der ausgeräumten Stube lärmend vergnügt. Die höfisch aufgeputzten Bauerngecken verwickeln sich dabei nicht selten in Streit und Prügelei. Als Neidhart einsehen muss, dass sich der Ritter Reuental in diesem derben Milieu nicht behaupten kann, schmäht er Frau werltsüeze und zieht sich schmollend zurück.
WERNHER DER GARTENAERE reagiert auf die Zeichen der gesellschaftlichen Umschichtung weniger mit Spott als mit ernster Zeitkritik und didaktischer Mahnung.30 Er geht davon aus, dass die ständische Ordnung der Gesellschaft gottgewollt sei, und zeigt am Beispiel seines Meier Helmbrecht (1250/82), wie anmaßende Überschreitung der Standesgrenze den Frevler notwendig zum Untergang führt.
Der eitle Bauer Helmbrecht hört nicht auf die Warnung seines rechtschaffenen Vaters: »dîn ordenunge ist der phluoc«. Er putzt sich höfisch heraus und wird Raubritter. Er kränkt seine Eltern und verheiratet seine Schwester mit einem Spießgesellen. Am Ende wird er vom Henker geblendet und verstümmelt, vom Vater des Hofes verwiesen und von anderen Bauern aus Rache erhängt. Das Symbol31 seiner Überheblichkeit, die kunstvoll verzierte Haube, endet zerfetzt am Boden. – Das kleine novellistische Meisterwerk ist leicht im Original zu lesen.
Wie so oft in Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit nahmen die Menschen wieder häufiger Zuflucht zur Religion, nicht selten sogar zur mystischen Einkehr: Weltabgewandt, in die eigene Seele versenkt, suchten die Mystiker den tröstenden Beweis ihrer Gotteskindschaft in der unio mystica. Durch Askese des Leibes (Fasten, Schweigen, Wachen) bei gleichzeitiger Anstrengung aller Seelenkräfte (Denken, Fühlen, Wollen) wurde ihnen gelegentlich ihr »geist recht verstoln licht eins halben Ave Marien lang« (Tauler). Von diesem inneren Erleben beseligt, drängte es die Mystiker oft, ihre Visionen in überschwenglichen Worten mitzuteilen, so dass die deutsche Sprache gerade dieser religiösen Praxis eine außerordentliche Bereicherung des Wortschatzes auf dem Gebiet des Geistig-Seelischen verdankt.
Das eindrucksvollste dichterische Zeugnis deutscher Frauenmystik stammt von MECHTHILD VON MAGDEBURG (1207/10 – 1282/83). Es ist das Offenbarungsbuch mit dem Titel Das fließende Licht der Gottheit (1250–1281/82).
Die Begine Mechthild erlebte die mystische Vereinigung als geistliche Hochzeit mit Gott, als erotische Ekstase ihrer Seele. In Anlehnung an das Hohelied Salomonis (vgl. das St. Trudperter Hohe Lied, Kap. 1b) spricht ihr Seelenbräutigam:
Ich erwarte dich in dem Baumgarten der Liebe
und breche dir die Blume der süßen Vereinigung
und bereite dir da ein Bett
aus dem lustvollen Gras der heiligen Erkenntnis,
und die helle Sonne meiner ewigen Gottheit
bescheint dich mit dem heimlichen Wunder meiner Lust […].
Das ursprünglich niederdeutsche Buch berichtet in ausdrucksstarker, bildhafter Sprache von Mechthilds Visionen, Prophezeiungen und Lehren, bald in den Formen geistlicher Lyrik, hymnischer Gebete oder gereimter Sinnsprüche, bald in den Formen des Dialogs oder des Lehrgedichts.
Der Dominikaner MEISTER ECKHART (um 1260–1327) und seine Schüler HEINRICH SEUSE (um 1295–1366) und JOHANNES TAULER (um 1300–1361) führten später in ihren Predigten und Andachtsbüchern das mystische Denken fort. Meister Eckharts Spekulationen kreisten um die Vorstellung der Geburt Gottes in der Seele aus dem gottverwandten »Seelenfünklein«. Durch ihren Zug zum ganz Persönlichen bereitete die mystische Frömmigkeit allmählich den Boden für Luthers Reformation, in der das Heil des Menschen als allein vom Glauben (sola fidem) abhängend erklärt wurde (vgl. Kap. 2c).