Читать книгу Kleine Geschichte der deutschen Literatur - Kurt Rothmann - Страница 12
Оглавление7. Zwischen Klassik und Romantik (1794–1811)
Goethes Alterswerk, der zweite Teil des Faust, Wilhelm Meisters Wanderjahre und die späte Lyrik, gehen bereits über den engen Rahmen des formgeschichtlichen Begriffs ›Klassik‹ hinaus. Noch schwerer lassen sich die Werke von Johann Peter Hebel, Jean Paul, Hölderlin und Kleist diesem Stilbegriff unterordnen. Diese Dichter, die, bis auf Jean Paul, zeitlebens im Schatten Goethes und Schillers standen, folgten weder dem klassischen noch dem romantischen Programm, sondern entfalteten unter den verschiedenen Stileinflüssen ihrer Zeit je ganz persönliche Eigenheiten.
JOHANN PETER HEBEL (1760–1826), der mit seinen Alemannischen Gedichten (1803) erstmals mundartlicher Dichtung zu literarischer Geltung verhalf, sammelte seine Kalendergeschichten im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes (1811) und lebt damit als volksnaher Meister epischer Kleinkunst fort.1 Weniger rührselig und etwas weltoffener als Claudius (vgl. Kap. 5b), war auch Hebel ein Idylliker, der erzählend die moralische Besserung seines Nächsten beabsichtigte und dabei wie Claudius auch nach 1789 vorrevolutionär apolitisch dachte.
Nicht zufällig schätzte Hebel den großen Erzähler JEAN PAUL (d. i. Johann Paul Friedrich Richter, 1763–1825), denn auch Jean Paul, den viele Zeitgenossen über Goethe stellten, wurzelte tief in der Empfindsamkeit (vgl. ↑) und hatte eine Vorliebe für merkwürdige Käuze und Sonderlinge, die das Glück im stillen Winkel zu genießen verstehen. Das Schulmeisterlein Wuz, Quintus Fixlein, der Armenadvokat Siebenkäs und Dr. Katzenberger sind solche Jean-Paulschen Romanhelden, die unter dem Einfluss englischer Romane des 18. Jahrhunderts (von Richardson, Fielding und vor allem Sterne) entstanden und dann ihrerseits auf die Erzähler des Realismus (Mörike, Stifter, Keller und Raabe) fortwirkten.
Das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal (1793), Hesperus, oder 45 Hundsposttage (1795), das Leben des Quintus Fixlein (1796), die Blumen-Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (1796–97) und die Flegeljahre (1804–05) sind die bekanntesten Titel Jean Pauls.
Als das »liebste und beste unter seinen Werken« bezeichnet er selbst seinen großen Erziehungsroman Titan (1800–03), an dem er zehn Jahre gearbeitet hat. »Titan sollte heißen Anti-Titan. Jeder Himmelsstürmer findet seine Hölle; wie jeder Berg zuletzt seine Ebene aus seinem Tale macht. Das Buch ist der Streit der Kraft mit der Harmonie«, erläutert Jean Paul. Seine Lektüre setzt allerdings einiges voraus: Lesegeduld und, wenn man nicht dauernd in den Kommentaren blättern will, literatur- und kulturgeschichtliche Kenntnisse der Zeit. Denn Jean Paul spielt auf manches an, das heute vergessen ist. Zudem ist dieser humoristische Erzähler alles andere als ein Systematiker. Die Kritik, die er im Titan an klassischen und romantischen Ideen übt, fließt oft unvermittelt ein und verwirrt nicht selten durch Inkonsequenzen. Mehr noch: nach dem Vorbild des Tristram Shandy (1760) von Laurence Sterne sind launige Einfälle, verschrobene Einschübe, phantastische Abschweifungen, Einmischungen des Erzählers, Gespräche, Briefe, Zitate, kurzum, punktuelle Einzelheiten derart stilbeherrschend, dass der Leser darüber leicht den Faden verliert, zumal die Handlung selbst durch Kindesvertauschung, Intrigen, Doppelgängermotive und Gestaltentausch durch Masken, Wachsfiguren und schauerromantische Apparaturen eine so unwahrscheinliche Verwicklung erfährt, dass ihre Knalleffekte manchen Kriminalroman in den Schatten stellen.2 – Was diesen Roman lesens- und liebenswert macht, sind der Humor, über den sich Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik (1804, besonders § 31 f.) theoretisch äußert, und die bilderreiche Sprache, die alle Wirklichkeit beseelt, in phantasievolle bewegte Visionen auflöst und dadurch unmittelbar zum Gemüt spricht.3
Jean Paul, der nur vier Jahre jünger war als Schiller und diesen um zwanzig Jahre überlebte, hinterließ ein umfangreiches Romanwerk, das zwar heute schwer zugänglich ist, wegen seiner nachhaltigen Wirkung aber zu einem wichtigen Glied in der Entwicklung deutscher Erzählkunst wurde. Ganz anders sehen Leben, Werk und Wirkung Hölderlins aus:
FRIEDRICH HÖLDERLIN (1770–1843) fiel nach einer kurzen Schaffenszeit von anderthalb Jahrzehnten in eine geistige Umnachtung, in der er noch fast vierzig Jahre seines Lebens hindämmerte. Weder Schiller, unter dessen Einfluss Hölderlins frühe Reimhymnen entstanden, noch Goethe erkannten den Wert der Dichtungen Hölderlins; und so blieb dieser geniale Dichter das ganze 19. Jahrhundert hindurch unbeachtet, bis Wilhelm Dilthey4 und der George-Kreis Hölderlins Bedeutung entdeckten und dem Leser des 20. Jahrhunderts erschlossen.
In Lauffen am Neckar geboren und in Nürtingen aufgewachsen, studierte Hölderlin gleichzeitig mit Schelling und Hegel Theologie am Tübinger Stift. Da er aber nicht als Theologe leben mochte, nahm er eine durch Schiller vermittelte Hofmeisterstelle5 bei Charlotte von Kalb an und ging mit seinem Zögling für kurze Zeit nach Jena. Schiller bot Hölderlin die Mitarbeit an der Zeitschrift Die Horen an und veröffentlichte dessen Entwurf zu dem Briefroman Hyperion 1794 in der Thalia. Doch Hölderlin entzog sich bald dem Weimarer Einfluss. Er ging als Lehrer nach Frankfurt, wo er in der Familie des Bankiers Gontard die Hausherrin Susette Gontard unter dem Namen »Diotima« schwärmerisch verehrte, bis seine Anwesenheit nach drei Jahren für den Gatten untragbar wurde. Nach zwei weiteren Versuchen als Hauslehrer in der Schweiz und in Frankreich kehrte Hölderlin 1802 krank nach Nürtingen zurück. Im selben Jahr starb Susette, der Hölderlin in seinen Gedichten und in Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797–99) ein großartiges Denkmal gesetzt hat.
Hyperion, ein junger Grieche, sieht die Vergangenheit seines Vaterlandes mit den Augen Winckelmanns (vgl. ↑ und Kap. 6, Anm. 2) und betrauert den Verlust der »edlen Einfalt und stillen Größe«. Sein eigener elegischer Charakter und das stürmisch drängende Temperament seines Freundes Alabanda lassen ihn zwischen Reflexion und Tatendrang schwanken und vergeblich versuchen, »Eines zu sein mit allem, was lebt«. – Endlich findet er diese All-Einheit6 sinnbildlich verkörpert in der Schönheit Diotimas und glaubt, beflügelt von der Liebe zu ihr, Geist und Herz seines Volkes zu der verlorenen Harmonie antikisch vollkommenen Menschentums zurückführen zu können. – Entgegen der Warnung Diotimas nimmt Hyperion auf Alabandas Veranlassung teil am Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken (historisch 1770). Doch er muss einsehen, dass mit einem plündernden und mordenden Partisanenheer kein »Elysium gepflanzt« werden kann. Das Unternehmen scheitert, und beschämt sagt sich Hyperion als der Geliebten unwürdig von Diotima los. Diotima, die Hyperion versteht, entsagt der Verbindung mit ihm und stirbt. In ihrem letzten Brief tröstet sie den Geliebten mit pantheistischen Gedanken:
Die schöne Welt ist mein Olymp; in diesem wirst du leben, und mit den heiligen Wesen der Welt, mit den Göttern der Natur, mit diesen wirst du freudig sein. […] ich hab es gefühlt, das Leben der Natur, das höher ist, denn alle Gedanken – wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schade so groß? – Ich werde sein. Wie sollt ich mich verlieren aus der Sphäre des Lebens, worin die ewige Liebe, die allen gemein ist, die Naturen alle zusammenhält? wie sollt ich scheiden aus dem Bunde, der die Wesen alle verknüpft? […] Wir trennen uns nur, um inniger einig zu sein, göttlicher friedlich mit allem, mit uns. Wir sterben, um zu leben. […] Priester sollst du sein der göttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon.
Hyperion, unglücklich und enttäuscht über das kleinlichnüchterne Wesen der Deutschen in seinem Exil, findet tatsächlich Trost in der Natur.
Die Sprache in Hölderlins Briefroman ist bekenntnishaft und gefühlsdurchströmt, monologisch und von lyrischem Wohlklang, denn Hölderlin, der wie Hyperion seine geistige Heimat im antiken Griechenland suchte und dem es wie keinem anderen gelang, griechische Mythen und Versformen mit empfindsam-romantischer Innigkeit zu verbinden, ist einer der größten deutschen Lyriker. »Hyperions Schicksalslied« und die Gedichte »An die Parzen« und »Hälfte des Lebens« fehlen in keiner modernen Lyrik-Anthologie7.Das einsame lyrische Ich in Hölderlins Gedichten spricht wie Hyperion meist religiös verehrend, mehr andeutend als ausmalend, immer wieder über Griechenland, Diotima und die Natur.8
Wie der Erzähler Jean Paul und der Lyriker Hölderlin ging auch der Dramatiker HEINRICH VON KLEIST (1777 bis 1811) zwischen Klassik und Romantik seinen eigenen Weg. Er blieb von seinen Zeitgenossen unbeachtet und setzte seinem krisenreichen Leben mit vierunddreißig Jahren freiwillig ein Ende. Sein Werk wurde wie Hölderlins Dichtungen zunächst vergessen und erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt und gewürdigt.
Kleist, der eine Offizierslaufbahn abbrach, um sich geisteswissenschaftlich zu bilden, wurde von der Begegnung mit der Philosophie Kants tief erschüttert. Denn er missverstand Kants heuristische9 Trennung von Ding an sich und Erscheinung (in der Kritik der reinen Vernunft) als Beweis für die grundsätzliche Unfähigkeit des Menschen, zwischen Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden. Aus der Verwirrung durch die von ihm vermeinten allgegenwärtigen Täuschungen, meinte Kleist, helfe allein traumhaft unreflektiertes Handeln aus instinktsicherem Gefühl.
In der zum Verständnis Kleists wichtigen Studie Über das Marionettentheater10 (1810) wird die schwerelos frei pendelnde Marionette zum mythischen Sinnbild der von keiner Reflexion gestörten Anmut. Zwei als Beispiel dienende Anekdoten11 zeigen, »daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt«. – Das Problem vom trügenden Schein der Wirklichkeit und der Versuch, die Wahrheit traumhaft zu erfühlen, ist ein vielfach abgewandeltes Thema der Dichtungen Kleists.
In dem Schauspiel Amphitryon (1807) überwindet Alkmene die verwirrenden Täuschungen Jupiters durch das unerschütterliche Gefühl treuer Liebe. In der Penthesilea (1808) führt die Verwirrung des Gefühls gegenüber dem Griechen Achill zu einer leidenschaftlichen Hassliebe der Heldin, wie andererseits der traumerwachsenen Gefühlssicherheit des glücklicheren Käthchen von Heilbronn (1808) die beharrlichste Hingabebereitschaft entspringt.
Gefühlsregiert handelt auch der nachtwandlerische Prinz Friedrich von Homburg (1811): In Gedanken mit einem schönen Traumerlebnis beschäftigt, überhört er bei der Befehlsausgabe am Morgen der Schlacht seine Aufgabe im taktischen Plan und führt, den militärischen Befehl missachtend, seine Truppe nach der »Ordre des Herzens« voreilig zum Sieg. Der Große Kurfürst, der darauf besteht, »dass dem Gesetz Gehorsam sei«, weil es dem Vaterland nicht gleichgültig sein kann, »ob Willkür drin, ob drin die Satzung herrsche«, lässt den Prinzen, der einen glänzenderen Sieg verscherzt hat, durch ein Kriegsgericht zum Tode verurteilen. Der Prinz hält das Urteil zunächst für eine bloße Formsache und macht es durch trotzige Uneinsichtigkeit dem Kurfürsten unmöglich, ihn zu begnadigen (denn die Gnade setzt ja die Anerkennung des Rechts voraus). Als der Prinz bald vor dem drohenden Ernst des Urteils in demütigende Todesfurcht fällt und bereit ist, alle Ehre dem nackten Leben zu opfern, ruft der Kurfürst ihn selbst zur Entscheidung auf:
Die höchste Achtung […]
Trag ich im Innersten für sein Gefühl:
Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten
Kassier ich die Artikel: er ist frei! –
Als Richter in eigener Sache überwindet der Prinz durch die Kraft des Ethos seine Todesfurcht. Seine freiwillige Anerkennung des Schuldspruches ermöglicht die Begnadigung. Nach der Versöhnung des allgemeinen Gesetzes ist der Kurfürst bereit, auch das innere Gebot des einzelnen anzuerkennen. Dass er dieses Kleistsche Organ der Welterfassung nicht, wie es zunächst schien, mit gesetzloser Willkür verwechselte, bewies er, indem er sich selbst an das Gefühl des Prinzen wandte. Nun trägt er dazu bei, dass sich des Prinzen hochfliegender Traum erfüllt: Er gibt dem Sieger von Fehrbellin Prinzessin Natalie zur Frau.
Heiter abgewandelt erscheint das Thema von Wahrheit und Täuschung im Lustspiel Der zerbrochne Krug (1808). Dort versucht der Dorfrichter Adam, der sich durch Schwindelei und Erpressung das holdselige Evchen gefügig machen wollte, als Ankläger, Richter und Verfolgter im selben Fall seine nächtliche Nachstellung zu vertuschen. Er spinnt aus lächerlichen, dreisten Lügen ein Netz, in dem er sich endlich selber fängt. Sein komischer Vertuschungsversuch steht in einem ironischen Gegensatz zum analytischen Aufbau des Spiels (vgl. Kap. 6, Anm. 29).
Als Erzähler von Anekdoten und Novellen12 stellt Kleist gern unwahrscheinliche Tatsachen dar.13 Dabei geht es, im Gegensatz zur idealen Anmut der Marionette, fast immer um das Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten von Mensch und Natur.
In der Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1801) erschießt der misstrauende Gustav »knirschend vor Wut« Toni, seine treue Braut, die zu seiner Rettung eine gefährliche Doppelrolle spielen musste.
In der Novelle Das Erdbeben in Chili (1807) gerät zuerst die Natur, dann die von einem Priester aufgehetzte Menge außer sich. Das durch das Erdbeben (1647) vom Tode gerettete Liebespaar Jeronimo und Josephe wird, als es für seine wundersame Rettung danken will, vom aufgebrachten Christenpöbel erschlagen.
Die Marquise von O… (1808) lässt
durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.
Als auf diese Anzeige ihr vermeintlicher Wohltäter erscheint, verliert die Marquise all ihre Sicherheit und ruft: »[…] auf einen Lasterhaften war ich gefaßt, aber auf keinen – – – Teufel!«
Michael Kohlhaas (1808) endlich gerät über ein Unrecht, das ihm widerfährt, so sehr außer sich, dass er raubend und mordend für die Idee des Rechtes streitet.
Das alles erzählt Kleist in einer unverwechselbaren und unnachahmlichen Weise; bald lakonisch, im spröden Kanzleistil des Chronisten, bald mit atemlos drängender Dramatik, immer aber mit größter Detailgenauigkeit, so dass auch das Außerordentlichste den Ausdruck der Wahrhaftigkeit bekommt.