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Оглавление6. Die Klassiker
Der Klassiker, lateinisch classicus, war ursprünglich ein römischer Bürger aus der höchsten Steuerklasse, dann, als scriptor classicus, ein Schriftsteller ersten Ranges. Dieser Qualitätsbegriff bekam historische Bedeutung, als die Humanisten der Renaissance die Kunst der griechisch-römischen Antike grundsätzlich zum Vorbild erhoben und ›klassisch‹ nannten. Ähnlich bezeichnet nun das Wort jeweils den Zeitraum, in dem einzelne Nationalliteraturen zur höchsten Blüte gelangen. In der deutschen Literatur kommt es nach der heute weniger bekannten mittelhochdeutschen Klassik um 1200 (vgl. Kap. 1c) noch einmal um 1800 zu einer jüngeren und darum noch stärker nachwirkenden Klassik. Diese hauptsächlich von Goethe und Schiller getragene Weimarer Klassik verdient ihren Namen nicht nur als eine zweite Gipfelleistung der deutschen Literatur, sondern auch weil sie an das Humanitätsideal und die antikisierende Kunstauffassung der Renaissance anknüpft und dadurch wie diese mit der Klassik der Antike in Verbindung steht.
Zu den unmittelbaren geistigen Grundlagen der Weimarer Klassik gehören vor allem das aufgeklärte rationale Bewusstsein von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen, aber auch die Erfahrungen pietistischer Seeleninnerlichkeit und irrationaler Gemütstiefe des Sturm und Drang.
Innerhalb des idealistischen Weltbildes der Klassiker unterscheidet Hermann August Korff1 Herders und Goethes Naturidealismus von Kants und Schillers Vernunftidealismus. Das Gemeinsame im Denken der Klassiker war eine humanistische Kulturverklärung auf dem Hintergrund des von Winckelmann entworfenen apollinischen2 Griechenbildes, in dem sich das Gute, Wahre und Schöne miteinander vereinen.
Als Wegbereiter der Klassik hatte Klopstock der deutschen Dichtersprache Würde verliehen, Lessing begriffliche Klarheit; Wieland hatte Anmut, Herder Kraft des Ausdruckes beigesteuert. Diese unterschiedlichen Vorzüge zusammengenommen und einem strengen Formwillen unterworfen ergeben nun das Ideal des »großen Stils«. Darin zielt die Bemühung der Klassiker auf ästhetische Harmonie und Vollendung und immer darüber hinaus zugleich auf die Bildung des Menschen.3
a) Goethe (1749–1832)
JOHANN WOLFGANG GOETHE, dessen erste Schaffensperiode in die Zeit des Sturm und Drang gefallen war, ging 1775 als Freund des achtzehnjährigen Herzogs Karl August nach Weimar, wo er – eben noch Stürmer und Dränger – nun durch seinen eigenen vorbildhaften Selbsterziehungsprozess den jungen Regenten dieses sächsischen Kleinstaates zu Verantwortungsbewusstsein und Pflichterfüllung führte und darüber für sich selbst Achtung und Freundschaft der Frau Charlotte von Stein gewann. – Neben dienstlichen Arbeiten und Reisen für die Kriegs- und Wegebaukommission entstand im Frühjahr 1779 das Schauspiel Iphigenie auf Tauris. Bei der Uraufführung auf einer Liebhaberbühne spielte Goethe selbst den Orest.
Das mehrfach überarbeitete Stück, das wie Egmont und Tasso erst später (1787) die endgültige Versfassung bekam, behandelt einen Ausschnitt aus dem Tantaliden-Mythos4:
Iphigenie, durch die Hand der Göttin Artemis vom Opferaltar nach Tauris entführt, dient dort unter dem Barbaren-König Thoas als Artemis-Priesterin. Sie bewegt Thoas dazu, von den landesüblichen Menschenopfern abzulassen. Doch als sie des Königs Werben um ihre Hand zurückweist, droht er, die Opferung anlandender Fremdlinge erneut einzuführen. Gerade da erscheinen Iphigenies Bruder Orest und dessen Freund Pylades. Orest, der, seinen Vater Agamemnon an Klytämnestra rächend, sich des Muttermordes schuldig gemacht hat und von den Furien verfolgt wird, ist wahnverstört. Apoll beschied ihm durch Orakelspruch: »Bringst du die Schwester, die an Tauris’ Ufer / Im Heiligtume wider Willen bleibt, / Nach Griechenland, so löset sich der Fluch.« Nun muss sich Iphigenie entscheiden, ob sie Thoas, der ihr vertraut, hintergehen, das Artemis-Bild rauben und mit Orest und Pylades entfliehen will, oder ob sie Thoas die Wahrheit sagen und sich, Bruder und Freund der Entscheidung des Barbaren anheimgeben will. Iphigenie entscheidet sich für Vertrauen und Aufrichtigkeit. Sie bittet die Götter: »Rettet mich / Und rettet euer Bild in meiner Seele!« Das ungeheure Wagnis dieser rückhaltlosen Tugendentscheidung überzeugt Thoas von der Idee der Humanität. Schweren Herzens lässt er Orest mit seiner Schwester ziehen. Und da Apoll, bei Goethe anders als bei Euripides (486–406), nicht das Götterbild seiner Schwester Artemis, sondern Orests Schwester meinte, ist mit Iphigeniens Heimkehr zugleich Orests Auftrag erfüllt und endlich der alte Fluch vom Geschlecht der Tantaliden genommen. – »Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit«, schrieb Goethe als Widmung in ein Exemplar des Textes. Es versteht sich, dass dieses Schauspiel, das Goethe selbst »ganz verteufelt human« nannte, neben Lessings Nathan als Muster des Humanitätsdramas gilt.
In den ebenfalls vor der Italienreise (1786–88) entworfenen, aber erst später vollendeten Dramen Egmont (1787) und Tasso (1790) zeigt Goethe zwei Sturm-und-Drang-Naturen, von denen die eine gerechtfertigt, die andere in ihre Grenzen gewiesen wird.
Lamoral Graf von Egmont (1522–1568) war der geschichtliche Statthalter von Artois und Flandern, den Herzog Alba als Führer des niederländischen Aufstandes gegen die Spanier enthaupten ließ. Bei Goethe findet man ihn nicht als Sechsundvierzigjährigen, der wie Schillers Marquis Posa um eine politische Entscheidung ringt, sondern als Jüngling, der seinem »Dämon« folgt5 und sich selbst verwirklicht, indem er trotz mannigfacher Warnungen dem tyrannischen Machthaber selbstbewusst und ohne schützende Winkelzüge entgegentritt. Egmont ist überzeugt, dass der »schon tot ist, der um seiner Sicherheit willen lebt«. Er sagt: »[…] dass ich fröhlich bin, die Sachen leicht nehme, rasch lebe, das ist mein Glück; und ich vertausch es nicht gegen die Sicherheit eines Totengewölbes. […] Wenn ihr das Leben gar zu ernsthaft nehmt, was ist denn dran?« – Doch anders als der vertrauensvolle Thoas lässt sich der hinterhältige Alba nicht durch vorbehaltlose Offenheit entwaffnen. Egmont muss sterben. Herzog Albas Sohn, dessen Freundschaft er gewann, verabschiedet Egmont mit den Worten: »Ich höre auf zu leben; aber ich habe gelebt. So leb auch du, mein Freund, gern und mit Lust, und scheue den Tod nicht!«
Auch der italienische Dichter Torquato Tasso folgt seinem Dämon;6 und dieser, sein geniales Talent, bringt ihn in Spannungen zu ebender Hofgesellschaft, die ihn fördert und begünstigt.7 Der Umstand, dass am Hof nicht schon »erlaubt ist, was gefällt«, sondern nur »erlaubt ist, was sich ziemt«, verlangt von Tasso die Mäßigung seines Temperaments. Aber gerade die Beschränkung durch gesellschaftliche Formen bedeutet eine schwer erträgliche Wesensbeschneidung für das Genie. Vom Überschwang unbeherrschbaren Gefühls hingerissen, verletzt Tasso die höfische Form. Als sein Gönner und seine Geliebte sich darauf von ihm zurückziehen, gerät er, »ein gesteigerter Werther«, an den Rand des Wahns. Ihm bleibt als einziger Trost das Bewusstsein, dass er sein Leid in Dichtung zu verwandeln vermag.
Egmont, Tasso und auch der Faust haben ihre Wurzeln im Sturm und Drang. Goethe brachte das Manuskript des Urfaust mit nach Weimar. 1790 gab er den Faust als Fragment heraus, 1808 den vollständigen ersten Teil. Den zweiten Teil vollendete er 1832, wenige Tage vor seinem Tod. Die Entstehung dieses großartigen Dramas zieht sich damit über fast sechzig Jahre hin. In dieser langen Zeit ging so viel mit in das Werk ein, dass das Ergebnis mit dem Wort ›Klassik‹ kaum zu fassen ist. Im Faust gibt es viel mehr Personen, Schauplätze und Episoden8 als in der Iphigenie oder im Tasso. Die Zeit springt mehrmals zurück oder scheint in Visionen überhaupt aufgehoben. So entsteht eine vielgestaltige, bilderreiche, mitunter rätselhafte Welt, die, im zweiten Teil verstärkt durch den persönlichen Altersstil Goethes, der Romantik fast näher steht als der Klassik.
Faust, der Teufelsbündler des alten Volksbuches (vgl. ↑), sucht bei Goethe nicht mehr bloß Reichtum und Macht, sondern er möchte erkennen, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält«. Wie die Gedichte von Brockes zeigten,9 ist dieser auf die Welt gerichtete Wissensdurst aber im Grunde ein deistischer Versuch (vgl. Kap. 4, Anm. 5), Gott zu erkennen. Ein Teufelsbund zu diesem Zweck ist weit weniger unmoralisch als der Pakt im Volksbuch. Doch, »es irrt der Mensch, solang’ er strebt«. Faust verstrickt sich in schwere Schuld. Bei seiner Verführung Gretchens wird deren Mutter durch einen Schlaftrunk vergiftet und ihr Bruder Valentin im Duell getötet. Faust flieht, und das entehrte und verlassene Gretchen wird als Kindermörderin hingerichtet.
Wie die Gretchentragödie steht auch die Handlung des zweiten, dramatisch weniger bündigen Teils im Rahmen der zwischen Faust und dem Teufel Mephistopheles geschlossenen Wette, wonach Faust, sobald er träger Zufriedenheit erliegt, dem Teufel die Seele schuldet. – Da aber Fausts Verführbarkeit durch Mephisto selbst wiederum Inhalt einer Wette ist, die Mephisto und Gott im Himmel abgeschlossen haben, kann Faust eigentlich nur mit Gott zugleich gewinnen oder verlieren. Doch dieser mysterienspielähnliche10 äußere Rahmen tritt im Bewusstsein des Zuschauers zurück, so dass im Zusammenspiel mit anderen verborgenen Widersprüchen jenes unauflösliche Geflecht von tragischer Schuld und Rechtfertigung entstehen kann, das noch Generationen begeistern wird. Und weil sich Goethes aus dem Volksbuch hervorgegangener Faust bewusst an jeden geistig aufgeschlossenen Menschen wendet, sollte sich auch der unerfahrene Leser weder durch den Ruhm noch durch wichtigtuerische Interpreten des Werkes abschrecken lassen, den Faust selbst zu lesen.
Im Streben nach vollendeter Form verglichen die Klassiker ihre Werke gern mit antiken Mustern. Dem Epos (vgl. Kap. 1, Anm. 19) als einer frühen, zugleich hochentwickelten Gattung galt dabei besondere Aufmerksamkeit. Seine Entwicklung war, ausgehend von Homer (Ilias, Odyssee), über Vergil (Aeneis) zu Dante (Divina Comedia) gegangen. Milton (Paradise Lost) hatte die Gattung neu belebt, die dann in Deutschland von Klopstock mit dem Messias aufgegriffen und schließlich von Voß mit der Luise ins Bürgerlich-Idyllische gewandt wurde. Hiervon angeregt, schrieb Goethe 1797 Hermann und Dorothea, ein Epos in neun Gesängen. Das seinerzeit vielgepriesene Werk verherrlicht jenes ruhige besitzbürgerliche Gemeinwesen, gegen dessen behaglich-behäbige Trägheit sich Werther aufgelehnt hatte. Auch heute scheint das ungebrochene Verhältnis zum Bürgertum in diesem klassischen Idyll manchem Leser fragwürdig. Die formgeschichtliche Entwicklung der Literatur hat jedenfalls gezeigt, dass sich der ursprünglich erhabene Gegenstand des Epos nicht einfach durch einen alltäglich biederen ersetzen lässt. Vielmehr blieb der von Goethe als »unreine Form« und von Schiller als »Halbbruder der Poesie« geringgeschätzte Prosaroman (vgl. Kap. 3d) der unangefochtene Erbe des formstrengeren Epos. Und Goethe, der einst durch den Roman von Werthers Leiden berühmt geworden war, gab dieser zukunftsträchtigen Gattung mit dem Wilhelm Meister ein weiteres Musterstück.
Der Entwurf, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, reicht wiederum in die Sturm-und-Drang-Zeit zurück; und wie der Faust wurde dieser »Urmeister« erst auf Schillers Drängen hin nach Goethes Italienreise weiterbearbeitet. Der erste Teil, Wilhelm Meisters Lehrjahre, erschien 1795 bis 1796; der zweite, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1821 (erweitert 1829). Die gut tausend Seiten umfassende Erzählung, deren Entstehung sich über ein halbes Jahrhundert hinzog, gilt als Muster eines Erziehungsromans11.
Wilhelm Meister möchte seine natürlichen Anlagen im humanistischen Sinne ganz entfalten und zu einer harmonischen Persönlichkeit ausreifen. Dazu scheint es ihm nötig, »eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken«. Weil dies aber in der Standesgesellschaft dem Adel vorbehalten ist, wendet sich der bürgerliche Kaufmannssohn dem Theater zu. Er sagt: »Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen.« Entsprechend der damals viel erörterten Bedeutung des Theaters für die Erziehung kommt der Held, dessen Vorname auf das dramatische Genie Shakespeare deutet, mit mannigfachen Formen des Theaterlebens in Berührung. Doch wie sich der urprüngliche Künstlerroman von der Theatralischen Sendung zum allgemeineren Erziehungsroman der Lehrjahre entwickelte, verloren das Theater und die künstlerische Meisterschaft des Helden an Gewicht. Wilhelm Meister bleibt Dilettant, das Theater bleibt eine von mehreren Durchgangsstationen auf seinem Bildungsweg. Die geheimnisvolle Turmgesellschaft, die über Wilhelm Meisters Entwicklung wacht, verlangt, dass der Mensch, dessen individuelle Bildung einen gewissen Grad erreicht hat, »lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen«. Mehr noch, die pädagogischen Freimaurer vom Turm meinen: »Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt.« Folgerichtig tragen Wilhelm Meisters Wanderjahre den Untertitel »Die Entsagenden«. Über die vielseitige Persönlichkeitsbildung (»mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«) wird nun die einseitige Fachausbildung gestellt. Gleich anfangs heißt es: »Sich auf ein Handwerk zu beschränken, ist das Beste. Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren eine Kunst, und der beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird.« – Wilhelm Meister wird Chirurg. Doch davon handelt das von Gedichten, Aphorismen12, Briefen, Tagebuchauszügen, Fachabhandlungen und novellistischen Episoden überquellende Buch nur am Rande. Wie im zweiten Teil des Faust löst sich in den Wanderjahren die bündige Form zugunsten einer romantisch lockeren Komposition symbolischer »Bezirke«. Eine der zahlreichen Einlagen konnte Goethe 1809 als selbständigen Roman ausgliedern:
Dieser Liebes- und Eheroman mit dem symbolischen Titel Die Wahlverwandtschaften zeigt an einem Modell, wie der Mensch im Konflikt zwischen Natur- und Sittengesetz durch Entsagung seine geistige Freiheit behaupten kann.
Enthält Goethes großer Bildungsroman manchen autobiographischen Zug, so enthält umgekehrt die klassische Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811–33) den Versuch, die gelebte Wirklichkeit dichterisch sinngebend nachzugestalten. Denn, so sagt Goethe, der sich nach Schillers Tod (1805) und nach der Begegnung mit Napoleon (1808) geschichtlich zu sehen begann, »ein Faktum unseres Lebens gilt nicht insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte«. Er erzählt sein Leben bis zum Aufbruch nach Weimar13 und begründet mit einem Überblick über die Literatur seiner Zeit ganz nebenbei im siebenten Buch die deutsche Literaturgeschichtsschreibung.
Goethes Lyrik aus dem ersten Jahrzehnt in Weimar, die den Übergang von der Geniezeit zur Klassik spiegelt, ist 1789 unter dem Titel »Vermischte Gedichte«14 im achten Band von Goethe’s Schriften erschienen. Klassisch im engeren Sinne, d. h. weniger liedhaft, weniger schwungvoll, sondern formal antikisierend und geistvoll betrachtend, sind die nach der Italienreise entstandenen Sammlungen der Römischen Elegien15 (1795), der Venetianischen Epigramme16 (1796) und die mit Schiller gemeinsam verfassten Xenien17 (1797). Auch die im Wettstreit mit Schiller entstandenen Balladen18 gehören hierher. Die Sonette19 (1815) kennzeichnen dann den Übergang zu Goethes Alterslyrik, aus der das Gedichtbuch West-östlicher Divan (1819) und die Trilogie der Leidenschaft (1827) hervorragen.
b) Schiller (1759–1805)
Nachdem FRIEDRICH SCHILLER 1782 aus Württemberg geflohen war (vgl. ↑), suchte er, von Geldsorgen, Krankheit und enttäuschten Hoffnungen geplagt, in sieben Wanderjahren eine neue Lebensgrundlage. Zunächst gewährte ihm Henriette von Wolzogen Zuflucht auf ihrem Gut Bauerbach in Thüringen. Dann, 1783, verpflichtete er sich bei Dalberg in Mannheim als Theaterdichter. Als er, schwer erkrankt, die von ihm geforderten drei Theaterstücke nach Jahresfrist nicht abliefern konnte und der kümmerliche Vertrag nicht verlängert wurde, reiste er 1785 zu dem damals erst brieflich bekannten Verehrer Körner, bei dem er für die nächsten zwei Jahre in Leipzig und Dresden zu Gast blieb. Denn Körner bezahlte nicht nur Schillers Schulden, sondern unterstützte seinen Freund auch ferner mit Rat und Tat. Dankbar begeistert schrieb Schiller das »Lied an die Freude« (1785), doch sein dramatisches Schaffen stockte. Das 1782 als Familientragödie entworfene Drama Don Carlos fand erst 1787 als politisches Ideendrama seinen Abschluss:
Philipp II. hat Elisabeth von Valois, die seinem Sohn Don Carlos anverlobt war, geheiratet. Don Carlos wirbt nun um die Gunst seiner jugendlichen Stiefmutter. Obgleich er zurückgewiesen wird, wecken und nähren Verleumder die Eifersucht seines Vaters. – Dieser familiäre Generations- und Liebeskonflikt wird von der bedeutsameren politischen Handlung um die Figur des Marquis Posa überlagert: Posa will seinen Jugendfreund Carlos bewegen, die Führung eines gegen den Unterdrücker Philipp gerichteten Aufstandes in Flandern zu übernehmen. Um Carlos für diese Aufgabe freizusetzen und zu verpflichten, wendet Posa Philipps eifersüchtigen Verdacht auf sich selbst und wird erschossen. Doch Philipp erfährt von Posas weiterreichendem Plan und von der Bereitschaft seines Sohnes, gegen die spanisch-katholische Zwangsherrschaft in den Niederlanden zu revoltieren. Philipp übergibt seinen Sohn Don Carlos dem Großinquisitor.20
Die fünfjährige Arbeitszeit am Don Carlos und die Tatsache, dass Schiller in den darauffolgenden elf Jahren überhaupt keine Dramen schrieb, lassen erkennen, wie schwierig für ihn der Übergang von den Sturm-und-Drang-Dramen seiner Jugendzeit zu den historischen Dramen der Klassik war.
In den elf Jahren zwischen dem Don Carlos und dem Wallenstein versuchte Schiller zunächst als Geschichtsschreiber Geld zu verdienen. Die aus der Arbeit am Don Carlos erwachsene Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (1788) brachte Schiller so viel Ansehen als Historiker, dass ihm Goethe eine unbesoldete Geschichtsprofessur in Jena vermitteln konnte. Durch eine kleine Pension von jährlich 200 Talern ermöglichte Herzog Karl August von Weimar seinem neuen Hofrat 1790, Charlotte von Lengefeld zu heiraten. Die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs (1791–93) sollte den Hausstand gründen helfen. Doch bald erkrankte Schiller so schwer, dass er sich nie wieder ganz davon erholen konnte. Zum Glück halfen der dänische Erbprinz Friedrich Christian von Augustenburg und Graf Ernst von Schimmelmann dem arbeitsunfähigen Dichter mit einer dreijährigen Ehrengabe von jährlich 1000 Talern. Schiller nutzte die Zeit wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu einem eingehenden Studium der Schriften Kants.
Der Auseinandersetzung mit Kant entsprangen Schillers Gedanken Über Anmut und Würde (1793),21 eine vorläufige Theorie des Schönen, die er 1795 in einen gesellschaftspolitischen Rahmen stellte und, seinem Wohltäter zum Dank, in einer Reihe von 27 Briefen an den Prinzen von Augustenburg niederlegte. Diese Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen gilt als pädagogische Programmschrift der deutschen Klassik; ihr Kernsatz lautet: »[…] es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.«
In dem Geburtstagsbrief, der 1794 die Freundschaft mit Goethe begründete, hatte Schiller Goethes intuitiven dichterischen Zugriff von dem eigenen spekulativen Zugriff unterschieden. Die Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795–96) weitet diesen Wesensunterschied zu einer dichterischen Typenlehre aus. Danach ist der Dichter entweder naiv (bzw. intuitiv) mit der Natur verbunden und erstrebt als Realist unbefangen »möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen«, oder er versucht sentimentalisch (bzw. spekulativ) seine durch Kultur und Zivilisation verursachte Entfremdung von der Natur zu überwinden, indem er als Idealist alles Wirkliche auf eine Idee bezieht. Dieser Unterschied ist leicht zu begreifen, wenn man Goethes und Schillers Lyrik miteinander vergleicht. Während Goethe im wesentlichen den im Sturm und Drang aufgenommenen volkstümlich-liedhaften Ton fortentwickelte, bewegte sich Schiller als Gedankenlyriker vorzugsweise auf philosophischem Boden. Über der Anschauung steht in seinen Gedichten immer die Idee.22
Das zeigen auch die Balladen, die Schiller 1797–98 im Wettstreit mit Goethe schrieb.23 – Griff Goethe gern magisch-dämonische Elemente der volkstümlichen Naturballade auf, so geht Schiller in seinen Balladen jeweils von einer Idee aus, die sich dann oft in lehrhaften, zumindest rhetorischen Sentenzen24 ausdrückt. Statt des ursprünglichen Liedtones bevorzugt Schiller eine dramatische Grundstruktur mit klarer Rollenverteilung, überraschenden Wendungen und dramatischer Zuspitzung der Handlung. Diese Ideenballaden, die sich weit von der herkömmlichen Volksballade entfernen, erfreuten sich besonderer Beliebtheit im Deutschunterricht der Schulen, so dass sie nicht selten zerlesen und dann auch parodiert wurden.
Nach der theoretischen Beschäftigung mit dem Schönen, dem Guten und dem dichterisch Wahren kehrte Schiller von der Geschichtsschreibung zur Dramendichtung zurück. Über der Prosadarstellung der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs war er immer stärker vom Charakter und Schicksal des kaiserlichen Generals Albrecht von Wallenstein gefesselt worden, jenes berühmten Feldherrn, der in geheimen Verhandlungen mit den Feinden stand und 1634 in Eger von den eigenen Soldaten ermordet wurde. – Ob Wallensteins List dem Kaiser, dem Reich oder nur ihm selbst nutzen sollte, konnte die Geschichtswissenschaft bis auf den heutigen Tag nicht klären, denn:
Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.
Gerade diese Zwielichtigkeit aber zog Schiller an. Nach der theoretischen Erörterung Über naive und sentimentalische Dichtung wollte er, der bisher nur idealistische Figuren auf die Bühne gebracht hatte, mit einem realistischen Helden beweisen, wie viel auch ein sentimentalischer Dichter an Wirklichkeit zu geben vermag.25
In über vierjähriger Arbeit schrieb Schiller die dramatische Trilogie26 mit den Teilen Wallensteins Lager (1798), Die Piccolomini (1799) und Wallensteins Tod (1799).
Wallenstein, der uneingeschränkte Befehlshaber des kaiserlichen Heeres, verabsäumt über verwerflichen Gedanken an Eigennutz und Verrat pflichtgemäß-sittliches Handeln. Durch sein Zaudern und durch zugelassenen Betrug seiner Nächstuntergebenen verliert er seine Handlungsfreiheit und wird zum Spielball derer, über die er zu verfügen gedachte. Betroffen fragt er sich in seinem großen Monolog27:
Wärs möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte?
Nicht mehr zurück, wie mirs beliebt? Ich müßte
Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, […]. (Tod, I, 4.)
Sein jugendlicher Freund Max Piccolomini verweist Wallenstein auf die idealistische Entscheidungsfreiheit:
Und wärs zu spät – und wär es auch so weit,
Daß ein Verbrechen nur vom Fall dich rettet,
So falle! Falle würdig, wie du standst.
Max selbst bewahrt sich auf diese idealistische Weise im Untergang die Freiheit,28 während den Realisten Wallenstein in tragischer Ironie (vgl. Kap. 8, Anm. 8) die gedungenen Häscher im Schlaf ereilen.
Der Erfolg des Wallenstein auf dem Weimarer Hoftheater und die Absicht, auch bei künftigen Proben eng mit Goethe zusammenzuarbeiten, veranlassten Schiller, mit seiner Familie von Jena nach Weimar zu ziehen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug war die Tragödie Maria Stuart (1800) fertig. – Wieder ein historisches Drama, das »das Realistische zu idealisieren« sucht; doch diesmal nicht in chronologischer Entfaltung eines zur Trilogie ausufernden Stoffes, sondern analytisch29 und knapp, mit strengem tektonischen Aufbau:30
Der erste Akt zeigt Maria Stuart, die schöne schottische Königin, die, früh verwitwet, den Mörder ihres zweiten Gatten geheiratet hat und, vom Thron verjagt, nach England flüchtete, wo ihr als Thronrivalin Elisabeths im Kerker das Todesurteil droht. Mortimer, der Neffe ihres redlichen Bewachers, ein heimlicher Konvertit, möchte die katholische Königin befreien und ihr zur Macht verhelfen.
Der zweite Akt zeigt Elisabeth an der Seite ihres Geliebten Lord Leicester (sprich [’lestə]). Sie vertröstet eine Gesandtschaft des französischen Königs, der um ihre Hand anhält, und hört ihren Staatsrat zum Urteil über Maria Stuart. Danach beauftragt sie insgeheim den jungen Mortimer, das schlechtbegründete Todesurteil an Maria durch Meuchelmord zu vollstrecken. Mortimer erklärt sich zum Scheine bereit und verrät Elisabeths Anschlag und seine eigenen Pläne Lord Leicester, an den ihn Maria verwiesen hatte.
Der dritte Akt bringt mit der durch Lord Leicester herbeigeführten Begegnung der beiden Königinnen den Höhepunkt. Durch unbarmherzige Härte fordert Elisabeth Marias Stolz heraus. Statt zu Versöhnung kommt es zu wechselseitigen Beleidigungen, wobei Maria in tragischer Ironie über Elisabeth triumphiert.
Der vierte Akt zeigt Königin Elisabeths Ratlosigkeit. Mortimers und Leicesters Pläne zur Befreiung Marias sind entdeckt. Leicester rettet sich mit knapper Not, indem er den Mitverschworenen Mortimer verrät und für Marias Todesurteil plädiert. Elisabeth unterschreibt das Urteil, jedoch ohne den Sekretär, dem sie es übergibt, anzuweisen, wie er mit dem Blutbefehl verfahren soll.
Im letzten Akt erscheint Maria zu sittlicher Freiheit geläutert. Sie ist bereit, das unverdiente Todesurteil als Sühne für die Schuld am Tode ihres zweiten Gatten anzunehmen. Sie geht im äußeren Glanz ihrer Schönheit und mit der Würde ethischer Selbstüberwindung zum Schafott. Elisabeth, die zum Schein ihrer Unschuld jenen Sekretär, dem sie das Todesurteil überließ, bestraft, wird von ihrem einzigen getreuen Rat verlassen. Und als sie nach ihrem Geliebten fragt, heißt es: »Der Lord lässt sich / Entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.«
In der »romantischen«31 Tragödie Die Jungfrau von Orleans (1801) steigert Schiller das historische Läuterungsdrama zur Legende; denn hier geht es nicht mehr nur um eine weltliche Sünderin, die sich sterbend zu majestätischer Würde erhebt, sondern um eine Heilige, die ihre Reinheit noch gegen die sanfte Regung der Liebe behauptet.
Jeanne d’Arc (historisch 1412–1431), die Tochter eines französischen Bauern, fühlt sich berufen, Frankreich im Hundertjährigen Krieg (1339–1453) gegen England zum Sieg zu verhelfen. Voraussetzung für die Erfüllung dieses übermenschlichen Auftrags ist jedoch, dass sie jeder persönlichen Neigung entsagt. – Johanna ist dazu bereit und siegt mit dem Schwert in der Hand, bis sie beim Anblick Lionels, den sie im Kampf überwunden hat, in einer Anwandlung von Liebe die Erfordernis ihrer himmlischen Sendung vergisst. Sie lässt den Feind entkommen, gerät darauf selbst in englische Gefangenschaft und wird bei ihren Landsleuten vom eigenen Vater der Hexerei bezichtigt. – Endlich sühnt sie die unerlaubte Rührung ihres Herzens durch den Opfertod für ihr Vaterland in einer letzten siegreichen Schlacht.
Da der Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung (vgl. Anm. 21) im wesentlichen innerseelisch bleibt, fehlt Johanna der eigentliche Gegenspieler. Die Bühnenwirksamkeit des Schauspiels beruht auf opernhaften Schlacht- und Krönungsszenen und auf der teils lyrisch, teils pathetisch überhöhenden Sprachgebung.
Das letzte von Schiller vollendete Schauspiel ist Wilhelm Tell (1804), ein äußerst beliebtes Stück, dessen philosophischer Kern oft durch volkstümliche Überbetonung der patriotischen Tendenz verdeckt worden ist. Denn das Wesentliche in diesem Kampf zwischen Tyrannei und Freiheit ist nicht zuerst der vaterländische Sieg, sondern, wie Werner Kohlschmidt sagt, »die sittliche Behauptung der Person im reißenden Strom der Geschichte«.
Der Habsburger König Albrecht beruft seine Parteigänger als Landvögte, um durch deren Willkürherrschaft die reichsunmittelbaren Schweizer Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden allmählich seiner Hausmacht zu unterwerfen. Angesichts der Verbrechen des Reichsvogts Geßler schließen sich führende Bürger zur Gegenwehr zusammen und schwören auf dem Rütli:
– Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
[…]
Bezähme jeder die gerechte Wut,
Und spare für das Ganze seine Rache,
Denn Raub begeht am allgemeinen Gut,
Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache.
Tell, der unpolitische Einzelgänger, gehört nicht zu den Eidgenossen, denn er glaubt:
Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden. [Und:]
Der Starke ist am mächtigsten allein.
Er weigert sich, den zur Schau gestellten Hut des Landvogts zu grüßen, wird von Geßler zu dem berühmten Apfelschuss vom Kopf seines Sohnes gezwungen und anschließend verhaftet. Den Fesseln entsprungen, kommt er zu der Einsicht, dass der Tyrannenmord unumgänglich ist. Nicht in solidarischer, allenfalls in stellvertretender Handlung für das unterdrückte Volk erschießt Tell den Tyrannen. Vor dem ehrsüchtigen Kaisermörder Parricida rechtfertigt er diesen Schuss aus Notwehr nicht als vaterländische Tat, sondern als sittliche Forderung der Menschlichkeit (im Sinne Kants).32