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Оглавление2. Die frühneuhochdeutsche1 Literatur (1350–1600)
Die Autoren der frühneuhochdeutschen Literatur wollten vor allem unterhalten und belehren. Sie bedienten sich dazu der unterschiedlichsten literarischen Formen; meist jedoch, ohne diese zu wirklicher ästhetischer Bedeutung zu bringen. So stehen dem neuen Formenreichtum dieser Epoche verhältnismäßig wenige hervorragende Einzelwerke gegenüber.
Auf dem Gebiet der Lyrik entwickelte sich aus dem höfischen Minnesang der bürgerliche Meistersang. Aus den Liedern der niederen Minne entstand das Volkslied, das oft durch Kontrafaktur2 zum Kirchenlied weiterverwandelt wurde.
Durch Prosa-Auflösungen der mittelhochdeutschen Versepen entstanden als sogenannte Volksbücher die ersten Helden-, Ritter- und Abenteuerromane. Kürzere Erzählungen wie Fabeln, Novellen, Schwänke und Fazetien3 wurden, angeregt durch Boccaccios Decamerone (1349/53), vielfach gesammelt und gebündelt herausgegeben. – Für das religiöse Publikum gab es Predigtsammlungen und erbauliche Andachts-, Gebets- und Sterbebüchlein.
Das geistliche Spiel, das aus der lateinischen Liturgie der Ostermesse hervorgegangen war, führte bald zur dialogischen Darstellung des Heilsgeschehens anlässlich anderer Kirchenfeste. Den ursprünglichen Osterspielen traten Weihnachtsspiele, Fronleichnams- und Passionsspiele zur Seite, deren immer volkreichere Aufführungen endlich aus der Kirche auf den Marktplatz verlegt werden mussten, wo sie in der Schwellform mehrtägiger Festspiele oft die Bürgerschaft ganzer Städte beherrschten. – Neben dem geistlichen Spiel gab es als weltlichen Vorläufer des Dramas das possenhafte Fastnachtspiel mit dem Hang zu grobianischer Verwilderung. Beide volkstümlichen Vorformen wurden nach der Reformation vom humanistischen Schuldrama abgelöst. Das Humanistendrama, das zuerst der lateinischen Sprach- und Redeschulung diente, knüpfte an das antike Drama an und führte die Spieldauer und die Zahl der Darsteller auf ein vernünftiges Maß zurück. Als auf Anregung Luthers und Melanchthons (1497–1560) das Schuldrama in deutscher Sprache Konfliktstoffe der Reformation aufgriff, antwortete die Gegenreformation mit dem sogenannten Jesuitendrama (vgl. Kap. 3b).
Darüber hinaus bediente man sich in der geistig-politischen Auseinandersetzung der alten Form des Streitgesprächs, des öffentlichen Briefes und neuerdings der Flugschrift und des Flugblattes. In allen diesen Formen aber sprachen die Autoren mit Vorliebe allegorisch (vgl. Kap. 3, Anm. 14), lehrhaft (vgl. Kap. 1, Anm. 30) und satirisch (vgl. Kap. 8, Anm. 11).
a) Volkstümliche Schriftsteller
Als Totenklage für seine Frau Margaretha verfasste der Schulrektor und Notar JOHANNES VON TEPL (um 1350 bis 1414) in Saaz ein Streitgespräch mit dem Tode. Einem dichterischen Topos4 folgend, stellt er sich darin dem Tod als ein Mann der Feder vor: »Ich bins genant ein ackerman, von vogelwat ist mein pflug, und wone in Behemer lande.« Das in der Form eines mittelalterlichen Gerichtsprozesses angelegte Streitgespräch heißt danach Der Ackermann aus Böhmen (kurz nach 1400).
Des Raubes und Mordes angeklagt, begegnet der Tod dem Ackermann zuerst mit kaltem Spott. Nachdem sich der aufgebrachte Kläger aber mäßigt und der Dialog5 von dem persönlichen Anlass zu einer grundsätzlichen Betrachtung von Leben und Tod übergeht, rät der Tod begütigend zu stoischer und augustinischer Weltverachtung:
[…] alles irdisch ding und lieb muß zu leide werden. Leid ist liebes ende, der freuden ende trauren ist, nach lust unlust muß komen, willens ende ist unwillen. Zu solchem ende laufen alle lebendige ding.
Der Ackermann verteidigt gegenüber solchen Hinweisen auf Nichtigkeit und Vergänglichkeit die Schönheit des Lebens und das menschliche Glücksverlangen; bis nach 32 Kapitelchen, in denen abwechselnd der Tod und der Ackermann sprechen, im 33. Kapitel das Urteil Gottes ergeht:
Der klaget, das nicht sein ist; diser rümet sich herschaft, die er nicht von ihm selber hat. Jedoch der krieg ist nicht gar one sache: ir habet beide wol gefochten. Den twinget leid zu klagen, disen die anfechtung des klagers, die warheit zu sagen. Darumb: klager, habe ere, Tod, habe sige, seit [weil] jeder mensche das leben dem Tode, den leib der erden, die sele uns pflichtig ist zu geben.
Mag dies Ende auch mittelalterlich sein, neu ist sicher die gepflegte Prosa, in der zum erstenmal die Stilmittel der lateinischen Rhetorik virtuos in deutscher Sprache gehandhabt werden. Der formale Rang, dazu die gedankliche Tiefe machten den Ackermann aus Böhmen allerdings zu einem anspruchsvollen Buch. Die große Leserschaft wünschte volkstümlicheren Stoff:
Einzigartig vor Goethes Werther ist in der deutschen Literatur der europäische Bucherfolg, den der Straßburger Rechtsgelehrte SEBASTIAN BRANT (1458–1521) mit seinem Narrenschiff (1494) erzielte. Dieses Buch, das bereits im Erscheinungsjahr drei Raubdrucker beschäftigte, das gleich zweimal ins Lateinische übersetzt wurde und dessen Text Geiler von Kaisersberg 1498/99 in einem Zyklus von 146 Predigten auslegte, rief die zweihundert Jahre lang beliebte Narrenliteratur ins Leben. Den Verfasser Brant verglichen die begeisterten Zeitgenossen mit Petrarca, mit Dante, ja, mit Homer.6 – Wie Sokrates meinte Brant, Sünde und Untugend hätten ihre Ursache allein in Unkenntnis. Um durch Belehrung die sündhafte Narretei zu vertreiben, wählt Brant daher den unterhaltsamen Weg der negativen Didaktik und lässt in 112 flugblattähnlichen Kapiteln die personifizierten Laster Revue passieren. Er sagt:
Den narren spiegel ich diß nenn
In dem ein yeder narr sich kenn
Wer yeder sy wurt er bericht
Wer recht in narren spiegel sicht
Wer sich recht spiegelt
der lert wol
Das er nit wis sich achten sol.
Das ist nämlich der Hauptfehler der Narren, dass sie ihre Narrheit nicht eingestehen wollen:
Eyn narr ist wer gesprechen dar
Das er reyn sig von sünden gar
Doch yedem narren das gebrist
Das er nit syn will
das er ist.
Dabei wäre Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung:
Dann wer sich für ein narren acht
Der ist bald zů eym wisen gmacht.
Wo Brant mit christlicher Sündenschelte auf den Glauben verweist, spürt man noch mittelalterlichen Ernst und Eifer; doch wo er den innerweltlichen Narren vor der Vernunft lächerlich macht, weht der frischere Wind bürgerlich-humanistischer Satire.
Johannes von Tepl, der Elsässer Sebastian Brant und seine Landsleute, der berühmte Prediger GEILER VON KAISERSBERG (1445–1510), der Pädagoge JAKOB WIMPFELING (1450–1528), THOMAS MURNER (um 1475–1537) und später der Jurist JOHANN FISCHART (um 1546–1590) waren eigentlich Gelehrte, die sich nur um der breiteren Wirkung ihrer Lebenslehre willen an den volkssprachigen Hörer und Leser wandten. HANS SACHS (1494–1576) dagegen war selbst ein Mann aus dem Volke: Nürnberger Bürger, Schuhmachermeister und literaturbegeisterter Autodidakt, der jeden Stoff, dessen er gewahr wurde, aufgriff und, mit einer biederen Moral versehen, in Knittelverse7 brachte. Wenn ihm die Moral eindrucksvoll genug schien, bearbeitete er denselben Stoff gleich mehrfach als Lied, als Erzählung und als Spiel. Auf diese Weise reimte der Unermüdliche über sechstausend Dichtungen zusammen. In seinen Meisterliedern bemühte sich Hans Sachs vergeblich um volksliedhafte Natürlichkeit. Die in den Tabulaturen, den Regelbüchern der Singschulen, vorgeschriebene Behandlung von Sprache, Reim, Betonung usw., deren Regelhaftigkeit beim Vortrag von »Merkern«8 überwacht wurde, zwang jeden Meistersinger zu handwerklicher Pedanterie und Künstelei.9 Aber als Schwankerzähler und als Dichter von Fastnachtspielen wird Hans Sachs heute noch geschätzt.
Das Fastnachtspiel ist wohl kaum, wie man lange Zeit glaubte, aus alten Fruchtbarkeitsriten hervorgegangen. Es entstand viel eher unabhängig von solchen Maskeraden um 1430/40 in Lübeck und Nürnberg als belustigender, seltener als besinnlicher Beitrag zum Fastnachtstreiben.
Hans Sachs, Meister dieses anspruchslosen Volksschauspiels, hat 85 Fastnachtspiele hinterlassen, die zum Teil heute noch aufgeführt werden. Diese durchschnittlich 340 Verse umfassenden Dialoge zwischen drei bis sechs Personen sind anschaulich und ohne überflüssiges Wort ganz und gar für ein realistisches Spiel voll treuherzigen Humors eingerichtet. Wer den Fahrenden Schüler im Paradies (1550), Das Kälberbrüten (1551) oder Das heiße Eisen (1551) liest, sollte sich den Text immer gespielt vorstellen.
Das Fastnachtspiel war ein wichtiger Schritt zur Entwicklung des deutschen Dramas. Wichtiger noch für die Entwicklung des Romans war das sogenannte Volksbuch. Das Aufkommen des Papiers und Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (1453) verbilligten die Herstellung der Bücher so wirkungsvoll, dass es plötzlich möglich wurde, die wachsende bürgerliche Leserschaft mit den beliebtesten Erzählstoffen des Mittelalters zu versorgen.
Das Wort ›Volksbuch‹10 meint im weiteren Sinne volkstümliche Lesestoffe unterschiedlichster Herkunft: etwa die Prosa-Auflösungen der mittelhochdeutschen Versepen wie Tristan und Isolde (1484) und die Wunderschöne Historie11 von dem gehörnten Siegfried (1726); auch die Erzählungen nach französischen Vorbildern wie die Liebesgeschichte von Melusine (1456) und Die schöne Magelone (1535). – Die Volksbücher im engeren Sinne verarbeiten wie JÖRG WICKRAMS (um 1505 – vor 1562) Rollwagenbüchlein (1555) Erzählungen und Schwänke, die bis dahin nur mündlich überliefert worden waren. Sie kristallisieren sich um historische Personen wie beim Kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel (1515) und in der Historia von D. Johann Fausten (1587); oder sie sind einem bestimmten Thema zugeordnet wie im Lalebuch (1597) und den Schildbürgern (1598).
Das Gemeinsame aller Volksbücher ist die gedankliche Schlichtheit und das vordergründige Interesse am Stoff bei einfacher, oft derber Darstellung.
b) Die Gelehrten
Wie die Geistlichen im 10. und 11. Jahrhundert (vgl. Kap. 1b) schrieben die deutschen Gelehrten des 15. und 16. Jahrhunderts in eigener Sache lateinisch; allerdings nicht das im Laufe der Zeit abgewirtschaftete Kirchenlatein, sondern ein gepflegtes ciceronianisches Latein. Das hatte äußere und innere Gründe:
Nachdem griechische Gelehrte 1453 auf der Flucht vor den Türken Manuskripte der antiken Schriftsteller aus Konstantinopel nach Italien gebracht und daselbst eine Rückbesinnung auf die römische Antike ausgelöst hatten, wurde der Ruf ad fontes (›zurück zu den Quellen!‹) bald von allen europäischen Gelehrten verbreitet und befolgt. Die Rückwendung zur Antike, die für die Italiener12 ein politischer Akt der nationalen Selbstbesinnung gegenüber der französischen und deutschen Fremdherrschaft war, führte in Deutschland zur Entdeckung humanistischer Bildung überhaupt.
Humanitas (›Menschlichkeit‹) nannte Cicero »die ethisch-kulturelle Höchstentfaltung der menschlichen Kräfte in ästhetisch vollendeter Form«.13 Diese neuentdeckte Würde der Persönlichkeit setzt den freien Gebrauch der Vernunft voraus. Darum verlangten die Humanisten, die das neue Menschenideal vor allem im Redner, im Dichter und im Philosophen verwirklicht sahen, die Befreiung der Wissenschaft und Bildung von der Vormundschaft der Kirche und der scholastischen Philosophie. So wurden die Schulen und Universitäten, die eigentlich eine innere Erneuerung durch Verbindung antiker Weisheit mit christlicher Ethik anstrebten, unversehens zu Wegbereitern der Reformation; d. h. ebenjener Bewegung, die mit ihren radikaleren Forderungen dem Humanismus um 1550 ein Ende bereitete.
Der aus Pforzheim stammende Jurist JOHANNES REUCHLIN (1455–1522) war überzeugt davon, dass Sprachverständnis Weltverständnis sei. Er schrieb ein lateinisches Wörterbuch, eine griechische Grammatik und begründete mit seiner hebräischen Sprachlehre die moderne deutsche Hebraistik und Orientalistik. Als nun der konvertierte Kölner Jude Johannes Pfefferkorn (1469–1522/23) von Kaiser Maximilian I. verlangte, man solle die hebräische Literatur der Juden verbrennen, wurde auch der sprachgelehrte Jurist um ein Gutachten gebeten: Reuchlin wies Pfefferkorns Ansinnen zurück und empörte damit die konservativen Kölner Dominikaner, die Reuchlin im Verlauf des sogenannten Hebraismusstreites vor ein Inquisitionsgericht zerrten. Doch die reformfreudigen Humanisten unterstützten Reuchlin, und dieser veröffentlichte die Zuschriften seiner Gesinnungsfreunde unter dem Titel Clarorum virorum epistolae, latinae, graecae et hebraicae variis temporibus missae ad Joannem Reuchlin Phorcensem (1514).
Als fingiertes Gegenstück zu diesen »Briefen berühmter Männer« erschienen ein Jahr darauf die Epistolae obscurorum virorum, die »Briefe der Dunkelmänner«, in denen die Humanisten, vor allem der Erfurter CROTUS RUBEANUS (um 1480 – um 1545) und sein Freund Ulrich von Hutten die obskuren Ansichten der spätscholastischen Finsterlinge durch scheinbare dümmliche Beipflichtung dem Spott aller »clarorum virorum« auslieferten.
Der eindrucksvollste Vertreter des Humanismus war ERASMUS VON ROTTERDAM (1469?–1536). Dieser weltbürgerliche Gelehrte, der studierend Frankreich, Italien und England bereist und sich dann (1521) in Basel niedergelassen hatte, stand mit fast allen europäischen Geistesgrößen seiner Zeit im Briefwechsel. Seinem englischen Freund Thomas Morus widmete er 1509 Das Lob der Torheit. Darin preist die personifizierte Torheit sich selbst und verkündet mit großem rednerischen Aufwand vom Katheder herab, wie wohltätig sie als Gefühlsdusel, als blinder Dünkel oder als schwärmerische Ergriffenheit auf den Menschen wirke. Die Ständekritik ist hier viel nuancierter als bei Sebastian Brant, die Ironie so überlegen und so fein, dass sich der Leser oft fragen muss, ob das Lob ernst oder spöttisch gemeint ist. Die Lebenslust und das harmlose Glück, die der menschlichen Einfalt entspringen, behandelt Erasmus mit versöhnlicher Heiterkeit; schärfer wird seine Satire, wo sie sich gegen die scholastische Theologie und die Missstände der römischen Geistlichkeit wendet. Da ist, nur halb im Scherz, manches von dem gesagt, was Luther wenige Jahre später laut und mit kompromisslosem Ernst wiederholen sollte. Doch der auf Ausgleich und Toleranz bedachte Erasmus sah voraus, welche Gefahr Luthers religiöse Radikalisierung für die literarische Renaissance14 der Antike und die aufblühende Bildung bedeuten würde; darum lehnte er es ab, öffentlich für Luther Partei zu ergreifen.
Nicht so der jüngere ULRICH VON HUTTEN (1488–1523), der im zweiten Teil der »Dunkelmännerbriefe« leidenschaftlich für Reuchlin polemisiert hatte und enttäuscht war, als Reuchlin, wie so mancher Humanist, von Luther abrückte. Hutten, der seit 1520 Luthers Sache verfocht, wählte statt der Vita contemplativa des humanistischen Philologen die Vita activa des streitbaren Publizisten.15 In seiner Clag vnd vermanung gegen den übermässigen, vnchristlichen gewalt des Bapsts zu Rom vnd der vngeistlichen geistlichen (1520) sagt er: »Latein ich vor geschriben hab, / das was eim yeden nit bekandt. / Yetzt schrey ich an das vatterlandt / Teütsch nation in irer sprach, / zů bringen dißen dingen rach –« Begeistert aufgenommen wurde »Ain new lied herr Vlrichs von Hutten« (1521), das mit dem Wahlspruch »Ich habs gewagt« allen Pfaffen den Kampf ansagt.
c) Der Reformator
Latein war nicht nur die Sprache der deutschen Gelehrten. Latein war von Anfang an die übernationale Verwaltungssprache der römischen Kirche und eine Fachsprache der Geistlichen. Um die Volkssprache bemühten sich die Geistlichen vorzüglich dann, wenn sie besonders breite Wirkung suchten: wie etwa im 9. Jahrhundert Otfrid von Weißenburg mit seiner Bekehrungsabsicht (vgl. Kap. 1b), wie im 11. Jahrhundert die Verfechter der kluniazensischen Reform und wie vor allem jetzt Luther anlässlich seiner Glaubensreform.
MARTIN LUTHER, am 10. November 1483 in Eisleben geboren und 1546 daselbst gestorben, geriet durch die augustinische Lehre von der Prädestination, wonach Gott den einen Teil der Menschheit zur Seligkeit, den anderen zur Verdammnis vorherbestimmt hat, in Seelennot, bis ihm im Wintersemester 1512/13 über dem Studium des Römerbriefes der befreiende Gedanke von der Gnadengerechtigkeit Gottes kam: Das Evangelium, sagt Paulus (1,16 f.), »ist eine Krafft Gottes / die da selig machet / alle / die daran gleuben / […] / Sintemal darinnen offenbaret wird die Gerechtigkeit / die fur Gott gilt / welche kompt aus glauben in glauben / Wie denn geschrieben stehet / Der Gerechte wird seines Glaubens leben.« Und Römer 3,28: »So halten wir es nu / Das der Mensch gerecht werde / on des Gesetzes werck / alleine durch den Glauben.« Luther nennt den Römerbrief »das rechte Heubtstücke des newen Testaments«, das ihm nun im Licht der Heilsverheißung für alle Gläubigen strahlt: Wer an Christus glaubt, ist gerettet durch Gottes Gnade; der guten Werke bedarf es dazu nicht.
Rechtfertigt aber allein der Glaube den sündigen Menschen vor Gott, so bedarf es auch nicht mehr der kirchlichen Mittlerschaft, vielmehr ist damit das Gewissen des einzelnen auf sich selbst gestellt. Zölibat, Wallfahrt, Seelenmesse, Fürbitte der Heiligen und dergleichen verlieren nach Luthers Textverständnis ihren Sinn. Besonders aber empörte Luther der Ablasshandel, der Erlass vermeintlicher Höllenstrafen gegen Geld. Als der päpstliche Ablassprediger Johann Tetzel (1456–1519) in Thüringen auftauchte, fand Luther es an der Zeit, über die »Kraft der Ablässe« zu diskutieren; schließlich war der Ablass noch nicht durch das katholische Dogma »definiert«.
Die 95 Thesen, die Luther am 31. Oktober 1517 als Grundlage für die Diskussion an der Wittenberger Schlosskirche anschlug, waren für seine Kollegen bestimmt und darum in lateinischer Sprache abgefasst. Niemand folgte jedoch der Einladung, und so fand die angekündigte Disputation nicht statt. Der weltgeschichtliche Wirbel entstand vielmehr ganz unbeabsichtigt durch die gedruckten Abzüge der Thesen, die Luther seinen Freunden geschickt hatte und die nun als Einblattdruck schnell die Runde machten.
Nachdem Luthers Reformvorschläge einmal in die Öffentlichkeit gelangt waren und der Streit darum anhob, warb der Reformator in deutscher Sprache beim Adel und im Volk um Gleichgesinnte. In der Flugschrift16 An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) bittet Luther die regierenden weltlichen Stände, sich der Kirche, die zur Reformation aus eigener Kraft nicht mehr fähig sei, anzunehmen. Die nominellen Träger des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sollten Ernst machen und den christlichen Glauben gegen die römischen Päpste verteidigen:
Die Romanisten haben drei Mauern17 mit großer Schlauheit um sich gezogen, mit denen sie sich bisher geschützt, so daß sie niemand hat können reformieren, wodurch die ganze Christenheit greulich gefallen ist. Zum ersten: Wenn man sie bedrängt hat mit weltlicher Gewalt, haben sie behauptet und gesagt, weltliche Gewalt habe kein Recht über sie, sondern im Gegenteil: geistliche sei über die weltliche. Zum andern: Hat man sie mit der Heiligen Schrift wollen strafen, setzen sie dagegen: es gebühre die Schrift niemandem auszulegen, denn dem Papst. Zum dritten: dreuet man ihnen mit einem Konzilio, so erdichten sie, es könne niemand ein Konzilium berufen denn der Papst. So haben sie die drei Ruten uns heimlich gestohlen, damit sie ungestraft bleiben könnten, und haben sich in die sichere Festung dieser drei Mauern gesetzt, alle Büberei und Bosheit zu treiben, die wir denn jetzt sehen; […].
Nun helf’ uns Gott und geb’ uns der Posaunen eine, damit die Mauern Jerichos wurden umgeworfen, […].
Luther entkräftet die päpstlichen Rechtsansprüche und macht 27 sachliche Vorschläge zu »des christlichen Standes Besserung«.
In dem Traktat18 Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) erklärt Luther, ausgehend von 1. Kor. 9,19 und Römer 13,8, die Hauptgrundsätze des reformierten Glaubens: die Rechtfertigung durch den Glauben und den freiwilligen Dienst am Nächsten als Analogie zu Gottes Gnadengerechtigkeit.
Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigem, verdammtem Menschen ohn alle Verdienste rein umsonst und aus eitel Barmherzigkeit gegeben durch und in Christo vollen Reichtum allen Frommseins und Seligkeit, so daß ich hinfort nichts mehr bedarf denn glauben, es sei also. Ei, so will ich solchem Vater, der mich mit seinen überschwenglichen Gütern so überschüttet hat, wiederum frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt, und gegen meinen Nächsten auch werden ein Christ, wie Christus mir geworden ist.
Luthers anschauliche und eingängige Beweisführung voll unverblümter Entschiedenheit überzeugte und begeisterte viele seiner Zeitgenossen.19 Angesichts der mannigfach verdorbenen Geistlichkeit hörte man gern, dass der Christ in Glaubensfragen allein das Wort Gottes zu studieren und anzuerkennen habe.
Luther gab zu diesem Zweck im September 1522 Das Neue Testament Deutsch20 und 1534 die erste vollständige Bibelübersetzung heraus. Er bediente sich in der Übersetzung des Ostmitteldeutschen und erläuterte: »Ich habe eine allgemein verständliche Sprache und keine besondere; daher kann man mich in Nieder- und Oberdeutschland verstehen. Ich rede nach der sächsischen Kanzlei, der alle deutschen Fürsten folgen.«21
Nach dem Grundsatz: so wortgetreu wie nötig und so frei wie möglich, übertrug Luther die hebräischen und griechischen Quellen22 in die gehobene Umgangssprache seiner Zeit und schuf damit ein Prosawerk, das in seiner sprachlichen Kraft und Schönheit bis hin zu Brecht als vorbildlich empfunden werden sollte.
Die Übersetzer vor Luther vermochten sich nicht von ihrer lateinischen Vorlage zu lösen. Ein kleiner Vergleich kann Luthers Überlegenheit verdeutlichen; z. B. 1. Kor. 13:
Luther rechtfertigt seine gelegentlich freiere Übersetzung im Sendbrief vom Dolmetschen (1530) mit der Erklärung:
[…] man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, […] sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.
Bei der Neuordnung des Gottesdienstes machte Luther das volkssprachliche Kirchenlied zum Bestandteil der Liturgie. Er gab damit den Anstoß zu einem umfangreichen Liedschaffen. Das erste lutherische Gesangbuch war das Geystliche gesangk Buchleyn (Wittenberg 1524). Es enthielt 32 deutsche und 5 lateinische Lieder; 24 Lieder stammen von Luther, der bis 1543 noch 12 weitere Lieder dichtete. Das berühmteste ist die Umdichtung des 46. Psalms (Vers 2–8): »Ein feste Burg ist vnser Got«.