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8. Romantik1 (1798–1835)

a) Ältere oder Frühromantik

Kant hatte in seiner Erkenntnistheorie dargelegt, dass der Mensch gemäß seinen Anschauungsformen das »Ding an sich« nur als Erscheinung begreifen kann. Kants Schüler, JOHANN GOTTLIEB FICHTE (1762–1814), versuchte diese Trennung zwischen Objekt und begreifendem Subjekt zu überwinden, indem er in seiner Wissenschaftslehre (1794 bis 1795) nicht von den Dingen, sondern vom allgemeinen Bewusstsein ausging und das absolute Ich zum Bestimmenden allen Seins machte. Er erklärte: Das Ich setzt erstens sich selbst und zweitens das Nicht-Ich. Durch die gegenseitige Beschränkung von Ich und Nicht-Ich entsteht die Welt als Erscheinung.2 – Das heißt, die Erscheinung der Welt beruht nach Fichte nicht auf einem äußeren Ding an sich, sondern sie wird durch eine solipsistisch3 anmutende freie Tathandlung des absoluten Ich hervorgerufen, durch die sich selbst setzende und beschränkende Einbildungskraft.

Fichte, der diesen subjektiven Idealismus seit 1794 an der Universität in Jena lehrte, begeisterte mit seiner Behauptung von der Unabhängigkeit des Bewusstseins die Vertreter der Frühromantik,4 denn diese huldigten dem der Wirklichkeit überlegenen Geist, der Phantasie und der poetischen Schöpferkraft, die das ganze Leben prägen sollten.

FRIEDRICH SCHLEGEL, der im 116. Athenäum-Fragment5 das Programm der Frühromantik niederlegte, schrieb 1798:

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik6 in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.

NOVALIS formuliert in seinen Fragmenten (1799–1800):

Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ur[sprünglichen] Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – […] es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.

Die mit Fichtes subjektivem Idealismus philosophisch behauptete Freiheit des Bewusstseins kehrt hier in der programmatischen Dichtungstheorie als literatur- und gesellschaftsprägende »Willkür des Dichters« wieder. Und ähnlich wie die Wissenschaftslehre die starre Grenze zwischen Außenwelt und Bewusstsein aufzuheben suchte, so bemüht sich auch die romantische Dichtung überall um Entgrenzungen:

Die allumfassende »Universalpoesie« beschäftigt sich mit dem Unendlichen, mit den grenzenlosen Bereichen menschlicher Sehnsucht, mit dem Unbewussten, mit Traum, Mystik und Dämonie. Sie hebt die Grenzen auf zwischen Glauben und Wissen, Wissen und Kunst, Kunst und Religion. Sie betont die Wechselbeziehung aller Künste und strebt das Gesamtkunstwerk an. Das bedeutet im Großen die von Schlegel geforderte Vermischung aller Gattungen und im Kleinen die Synästhesie7. Doch weil die Universalpoesie »progressiv«, das heißt immer im Werden begriffen ist und ihre hochgesteckten Ziele kaum je erreicht, bevorzugen die Romantiker gegenüber der klassisch-tektonischen Einheit die offene Form des Fragments. Ja, aus dem Wissen um die Unmöglichkeit, das Unendliche im endlichen Kunstwerk darzustellen, erwächst für Schlegel die grundsätzliche Forderung nach der romantischen Ironie8, mit der der Künstler die durch sein Werk hervorgerufene Illusion selbstkritisch zerstört, um jede Endgültigkeit und Erstarrung des »progressiven« schöpferischen Spiels zu vermeiden.

Schiller hatte 1795 AUGUST WILHELM SCHLEGEL (1767 bis 1845) zur Mitarbeit an seinen literarischen Zeitschriften (Die Horen, Musen-Almanach, Allgemeine Literaturzeitung) eingeladen. Wenig später kam auch dessen Bruder, FRIEDRICH SCHLEGEL (1772–1829), nach Jena. Dort setzten sich beide, August Wilhelm als Professor und Friedrich als Student, mit Fichte auseinander. Fichtes Philosophie gab ihnen den Grundstein zur eigenen Weltanschauung und erleichterte es dem Brüderpaar aus Hannover, mitten in der Hochburg der Klassik den literaturtheoretischen Keim zur romantischen Gegenbewegung zu legen. – Nachdem es wegen Friedrich Schlegels Horen-Kritik bereits 1796 zum Bruch mit Schiller gekommen war, begannen die Schlegels als gewandte Kritiker Goethe gegen seinen erzklassischen Freund auszuspielen; und Goethe ließ sich das Lob der jungen Leute gefallen; denn kunstverständig lenkten diese die Aufmerksamkeit der Leser endlich von Goethes Jugenderfolgen (Werther und Götz) auf den Wilhelm Meister. Als Literaturtheoretiker, -historiker, -kritiker und als Übersetzer Shakespeares und Calderóns hatten die Schlegels eine breite Wirkung. Doch eigene bedeutende Dichtungen haben sie nicht hervorgebracht. Selbst Friedrich Schlegels »Liebesroman« Lucinde (1799) ist nur noch von geschichtlichem Belang.

Den Ursprung romantischer Dichtung verkörperte das Berliner Freundespaar Wackenroder und Tieck. WILHELM HEINRICH WACKENRODER (1773–1798), der Sohn eines hohen preußischen Beamten, musste auf Wunsch seines fürsorglichen, strengen Vaters der eigenen musischen Begabung und Neigung entgegen Rechtswissenschaft studieren. Er ging an die Universität Erlangen und unternahm dort Ausflüge nach Ansbach, Bamberg, Bayreuth und Nürnberg. Die überwältigenden Eindrücke, die Wackenroder hier in der Begegnung mit der katholischen Kultur des fränkischen Barock erfuhr, versuchte er in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) wiederzugeben. – In Lebensschilderungen berühmter italienischer Maler, im Lob Dürers und in Überlegungen darüber, »Wie und auf welche Weise man die Werke der großen Künstler der Erde eigentlich betrachten und zum Wohle seiner Seele gebrauchen müsse«, prägte Wackenroder den religiös-unkritischen Erlebnisstil romantischer Kunstgenießer.9 – »Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger« am Ende der Aufsatzsammlung enthält Wackenroders eigene Tragik; da heißt es:

Diese bittere Mißhelligkeit zwischen seinem angebornen ätherischen Enthusiasmus, und dem irdischen Anteil an dem Leben eines jeden Menschen, der jeden täglich aus seinen Schwärmereien mit Gewalt herabziehet, quälte ihn sein ganzes Leben hindurch.

Wie Berglinger nach einer großen künstlerischen Leistung »in der Blüte seiner Jahre« stirbt, so stirbt auch der fünfundzwanzigjährige Wackenroder bereits ein Jahr nach Erscheinen der Herzensergießungen.

Wackenroders schreibgewandter Freund LUDWIG TIECK (1773–1853), der bereits an den Herzensergießungen mitgearbeitet hatte, führte die romantische Auseinandersetzung mit der Kunst in dem Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) fort. In Anlehnung an Wilhelm Meister geht der Dürer-Schüler Franz auf Wanderschaft; zuerst in die Niederlande und dann nach Rom, wo er sein einfältigfrommes Wesen ablegt, sich der sinnenfreudigen italienischen Malerei öffnet und wie Heinses Malergenie Ardinghello (vgl. Kap. 5d) ein unbürgerliches Künstlerdasein genießt. Die romantischen Wanderungen des vagabundierenden Lebenskünstlers sollten mit einer Rückkehr zur altdeutschen Art und Kunst am Grabe Dürers symbolisch enden. Doch der Roman, der mit seinen Künstlergesprächen die romantischen Maler10 beeinflusste, blieb Fragment.

Unter dem Titel Phantasus (1812–16) fasste Tieck seine für die Entwicklung der Romantik bedeutsamen Dichtungen zusammen. Hier erscheint neben den früher veröffentlichten Märchen, von denen Der blonde Eckbert (1797) und Der Runenberg (1804) besonders charakteristisch sind, eine erweiterte Fassung des komisch dramatisierten Gestiefelten Kater (1797). Das ist eine lustige Märchenparodie und zugleich eine witzige Theater- und Literatursatire11 – voll übermütiger romantischer Ironie.

Der Frühromantiker Friedrich von Hardenberg (1772 bis 1801), der sich NOVALIS12 nannte, sah in der dichterischen Phantasie den Weg zu einer zweiten, höheren Wirklichkeit. Als im Jahre 1797 seine Braut im Sterben lag, schrieb er: »Meine Phantasie wächst, wie meine Hoffnung sinkt – wenn diese ganz versunken ist und nichts zurückließ als einen Grenzstein, so wird meine Phantasie hoch genug sein, um mich hinaufzuheben, wo ich das finde, was hier verloren ging.« – Tatsächlich entstanden aus der Erschütterung über den Tod der fünfzehnjährigen Sophie von Kühn die sechs Hymnen13 an die Nacht (1797 ff.). In rhythmischer Prosa und in Versen feiert Novalis hier die »heilige, unaussprechliche, geheimnisvolle Nacht« als »eine neue, unergründliche Welt«, in der ihm die Geliebte durch eine erlösende, mystische Wiederbegegnung zum Symbol einer eigenen, tiefen Religiosität wird.

Verwandte biographische Motive14 erscheinen in dem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen wieder, das Tieck und Friedrich Schlegel 1802, nach dem frühen Tod Friedrich von Hardenbergs, herausgegeben haben.

Ofterdingen, den die Romantiker für den historischen Dichter des Nibelungenliedes hielten (vgl. ), erfährt in diesem Künstlerroman die Erweckung zum Dichtersänger; diese wird vorausgedeutet durch den Traum von jener blauen Blume, die hernach zum Symbol (vgl. Kap. 1, Anm. 31) der romantischen Poesie überhaupt werden sollte. Er reist mit Kaufleuten vom Eisenacher Musenhof des Landgrafen Hermann von Thüringen15 nach Augsburg, wo er Schüler des Dichters Klingsohr16 wird und dessen Tochter Mathilde heiratet. Mathilde stirbt; und Heinrich, dem wie Novalis die tote Geliebte zur geistigen Leitfigur wird, begibt sich auf Pilgerschaft. Friedrich Schlegels Forderung entsprechend, dass der romantische Roman eine »Enzyklopädie17 des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums« sein müsse, erschließen Gespräche über das Leben in Natur und Kunst, über das Wesen der Dichtung in Historien und Märchen und eine poetisch-phantastische Mythisierung des Lebens18 dem Leser einen guten Teil der frühromantischen Kunst- und Weltanschauung, die für Novalis mehr als nur Theorie war.

Das weltanschauliche Gegenbild zu den Hymnen an die Nacht findet der Leser in den Nachtwachen (1804) von BONAVENTURA19. Die Nacht ist hier keine Quelle mystischen Trostes, sondern Ausdruck für ein schwerdurchschaubares Dasein, für ein sinnleeres, nichtiges und groteskes Chaos. Das darin hoffnungslos verlorene Ich des Erzählers sieht sich in seinen grundsätzlichen Zweifeln am Sinn der Welt bestätigt und reagiert mit beißender Satire auf die Bequemlichkeit oder Beschränktheit seiner Zeitgenossen, die sich selbsttrügerisch in einen rettenden Glauben flüchten. Am Schluss heißt es: »Die stürzenden Titanen sind mehr wert, als ein ganzer Erdball voll Heuchler, die sich ins Pantheon durch ein wenig Moral und so und so zusammengehaltene Tugend schleichen möchten!«

Der Erzähler, der von einem Alchimisten und einer Zigeunerin während einer Teufelsbeschwörung gezeugt und als Findelkind bei einem Schuster aufgezogen wurde, tut sich als satirischer Poet und Bänkelsänger (vgl. Kap. 13, Anm. 23) hervor, bis er, wegen Beleidigung der Autoritäten, ins Tollhaus gebracht wird. Dort trifft er die Schauspielerin wieder, die mit ihm in Shakespeares Hamlet aufgetreten war und sich aus dem gespielten Wahnsinn der Ophelia nicht wieder »herauszustudieren« vermochte. Der ehemalige Hamlet verliebt sich in die Verwirrte und wird, nachdem diese im Kindbett gestorben ist, aus dem Tollhaus verbannt. Er spielt nun bei einem Marionettentheater den Hanswurst und den König. Als auch die Puppen von der Zensur beschlagnahmt werden, verdingt er sich als Nachtwächter. Auf seinen nächtlichen Gängen beobachtet er das unsinnige und schändliche Treiben seiner Zeitgenossen. Da kommt ihm die fixe Idee, »statt der Zeit die Ewigkeit auszurufen« und zum Jüngsten Gericht zu blasen. Daraufhin wird er »von einem singenden und blasenden Nachtwächter auf einen stummen reduziert«. – Das gedankenreiche Buch, das allein die rücksichtslose Ehrlichkeit des Freigeists und allenfalls wahre irdische Liebe von seiner satirischen Kritik ausnimmt, schließt, rund dreißig Jahre vor Georg Büchners Werk, mit dem Widerhall des Nichts.

b) Jüngere, Hoch- oder Spätromantik

Etwa zehn Jahre nach Beginn der romantischen Bewegung in Berlin und Jena übernahm eine nur wenig jüngere Generation um 1805 in Heidelberg die Führung. Ihre bekanntesten Vertreter waren Clemens Brentano, Achim von Arnim, Joseph von Görres (1776–1848), die Brüder Grimm und Eichendorff. Dazu kamen Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann in Berlin. Diese jüngeren Romantiker verzichteten auf die philosophischen Spekulationen und die theoretisch-kritischen Überlegungen der Jenaer Romantiker und wandten sich stattdessen unmittelbar den poetisierenden oder gar dämonisierenden Darstellungen des Lebens im dichterischen Text zu. Dabei bewegten sie sich in geistigen Strömungen, die zu einem wesentlichen Teil vom Sturm und Drang ausgegangen waren. So kehrte zum Beispiel Hamanns Ablehnung des aufklärerischen Rationalismus (vgl. Kap. 5a) in einem irrationalen Hang zum Phantastischen, Magischen und Dämonischen wieder. Herders Entdeckung der Geschichtlichkeit (vgl. Kap. 5a) entwickelte sich in der Nachfolge der erwähnten Romane von Wackenroder, Tieck und Hardenberg zu einer allgemeinen Geschichtsverklärung des deutschen Mittelalters. Und Herders Hinwendung zum mutmaßlichen Ursprung der Poesie in der Sammlung schlichter Volkslieder setzte sich nun in Sammlungen von Märchen, Sagen und Volksbüchern fort.

Im Gegensatz zu dem weltbürgerlichen Idealismus der Aufklärer und Klassiker aber nahm das aufkeimende Geschichts- und Volksbewusstsein der Romantiker unter dem politischen Druck der Napoleonischen Fremdherrschaft bald einen stark patriotischen Zug an. Die Hochschätzung religiöser und nationaler Ideen führte die Romantiker zur Anerkennung der starrsten Institutionen von Kirche und Staat, führte zur Konversion und, nach den Befreiungskriegen (1813–15), zur politischen Restauration. Im November 1815 zog Friedrich Schlegel, vom Papst mit dem Christusorden ausgezeichnet und von Metternich (1773–1859) zum kaiserlich-königlichen Legationsrat ernannt, in den Frankfurter Bundestag ein. Nur wenige Dichter vertraten mutig wie Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und die Brüder Grimm eine liberalere politische Gesinnung.20

Ein führender Kopf im Kreise der Heidelberger Romantiker war CLEMENS BRENTANO (1778–1842). Als Sohn aus der kinderreichen Ehe des Frankfurter Kaufmanns Pietro Antonio Brentano mit Goethes Jugendfreundin Maximiliane La Roche war Clemens Brentano ein Enkel der ersten deutschen Romanschriftstellerin Sophie La Roche (vgl. Kap. 5d mit Anm. 17 und Kap. 4d). Dieser Enkel Clemens betrat 1801 die literarische Bühne mit dem »verwilderten Roman« Godwi, einer stimmungsvollen, ironischen Erzählung, die so verworren ist wie Jean Pauls Titan (vgl. ) und so vielschichtig wie Tiecks Märchendrama Der gestiefelte Kater (vgl. ).

Größeren Ruhm errang Brentano durch die Sammlung deutscher Volkslieder, die er 1805 zusammen mit seinem Freund und künftigen Schwager ACHIM VON ARNIM (1781 bis 1831)21 unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn herauszugeben begann. Der erste Band dieser durch Herders Volkslieder (1778–79) angeregten Sammlung ist Goethe gewidmet, der, in Erinnerung an seine eigene Sammlertätigkeit in Straßburg, freundlich urteilte: »[…] das hie und da seltsam Restaurierte, aus fremdartigen Teilen Verbundene, ja das Unterschobene ist mit Dank anzunehmen.« Die Brüder Grimm allerdings, die den letzten Band bearbeiteten und deren man gern als Begründer der Germanistik gedenkt, urteilten anders. Sie lehnten das Ipsefact, das selbstverfasste und unterschobene Lied, als Fälschung der Überlieferung ab. Doch wie auch immer, für den Benutzer gilt, was Heine 1833 im Pariser Exil schrieb: »Dieses Buch kann ich nicht genug rühmen, es enthält die holdseligsten Blüten des deutschen Geistes, und wer das deutsche Volk von einer liebenswürdigen Seite kennen lernen will, der lese diese Volkslieder.«22

Brentano hat sich auch mit Volksmärchen beschäftigt, jedoch nicht in der Absicht, eine ordnende Sammlung zu schaffen. Die seit 1811 bearbeiteten und postum erschienenen Rheinmärchen (1846) sind eine verschachtelte, von Episode zu Episode fortschreitende, freie Entfaltung und Umformung bekannter Märchenmotive. Das Eigentümliche dieser Fabulierkunst lässt sich auch gut an dem Kunstmärchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838) beobachten. In der Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817) mischt Brentano in der für die Spätromantik charakteristischen Weise realistische und märchenhafte Elemente zu einer ergreifenden Schicksalsnovelle. – Allen diesen Erzählungen gemeinsam ist eine wohlklingende musikalische Sprache, denn Brentano war ein hervorragender Lyriker, der es verstand, volksliedhafte Motive und Töne in kunstvolle Klanggebilde romantischer Stimmungslyrik zu verwandeln. So z. B. in seinem berühmten Gedicht »Abendständchen«:

Hör, es klagt die Flöte wieder,

Und die kühlen Brunnen rauschen,

Golden wehn die Töne nieder –

Stille, stille, laß uns lauschen!

Holdes Bitten, mild Verlangen,

Wie es süß zum Herzen spricht!

Durch die Nacht, die mich umfangen,

Blickt zu mir der Töne Licht.

Brentano, der nur wenige seiner romantischen Dichtungen selbst veröffentlichte, kehrte 1817 in den Schoß der katholischen Kirche zurück, schrieb in vierundzwanzig Bänden die Visionen einer stigmatisierten Nonne auf und führte danach ein unstetes Wanderleben.

Nicht als Dichter, sondern als Philologen waren die Brüder JACOB und WILHELM GRIMM (1785–1863 und 1786–1859) bahnbrechende Förderer der deutschen Sprache und Literatur. Denn sie kümmerten sich mit unermüdlichem Fleiß um die Sammlung und Herausgabe altdeutscher Texte, um Wörterbuch, Grammatik und Sprachgeschichte und legten damit den Grundstein zur deutschen Germanistik23. Doch die volkstümliche und weltliterarische Bekanntheit verdanken die Brüder Grimm ihrer Sammlung deutscher Kinder- und Hausmärchen (1812, 1815 und 1822), die nach der Lutherbibel das meistgedruckte Buch in deutscher Sprache sind.

Von Brentano und Arnim angeregt, hatten die Grimms 1806 mündlich überlieferte Märchen zu sammeln begonnen; doch anders als Tieck in seinen Volksmärchen (1797), anders als Arnim und Brentano, suchten die Gebrüder Grimm zumindest anfänglich eine »unverfälschte« Wiedergabe. In der Vorrede schreibt Wilhelm Grimm:

Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein, als möglich war, aufzufassen […]. Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden […]. In diesem Sinne existiert noch keine Sammlung in Deutschland, man hat sie [die Märchen] fast immer nur als Stoff benutzt, um größere Erzählungen daraus zu machen, die willkürlich erweitert, verändert, was sie auch sonst wert sein konnten, doch immer den Kindern das Ihrige aus den Händen rissen und ihnen nichts dafür gaben.

Dennoch muss gesagt werden, dass die trauliche, bezaubernde Sprachgebung letztlich ein dichterisches Verdienst Wilhelm Grimms ist.

Von der philologischen Leistung Jacob Grimms überzeugt ein Blick in das Deutsche Wörterbuch (erster Band 1854, vollendet 1961), das bis zum Artikel ›Frucht‹ von Jacob (Buchstabe D von Wilhelm) bearbeitet wurde.24

Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.

Der im schlesischen Lubowitz geborene JOSEPH FREIHERR VON EICHENDORFF (1788–1857) war im Besitz dieser »Wünschelrute«. Lerchen, Nachtigallen, Waldesrauschen und Hörnerklang sind solche Zauberworte, mit denen er eine Welt aufruft, die sich, wenn der Mondschein durch vorüberziehende Wolken fällt und die Umrisse der Wirklichkeit in Zwielicht und Dämmerung verschwimmen, unversehens zum magischen Spiegel der Seele verwandelt. Eichendorffs einfache und innige Gedichte (1837) sind durch ihre volksliedhafte Verbreitung für viele Menschen zum Inbegriff der Romantik geworden;25 in den Vertonungen von Mendelssohn (1809–1847), Schumann (1810–1856), Brahms (1833–1897) und Wolf (1860–1903) haben sie das deutsche Lied weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinausgetragen. Man mag bedauern, dass Eichendorffs formelhafte Selbstwiederholungen so viele Epigonen ermuntert haben, deren Schablonen dem heutigen Leser gelegentlich das ursprüngliche Gedicht verstellen; doch die Verwendung von Topoi (vgl. Kap. 2, Anm. 4) gehört wesentlich zu Eichendorffs Dichtung. Nur ein Beispiel:

Der in den beiden ersten Gedichtzyklen »Wanderlieder« und »Sängerleben« oft anklingende und in dem Gedicht »Die zwei Gesellen« ausgeführte Gegensatz zwischen dem fahrenden Dichter-Sänger und dem philiströsen Spießer kehrt auch in den Erzählungen als ein Kernmotiv wieder; so in den Romanen Ahnung und Gegenwart (1815) und Dichter und ihre Gesellen (1834) und so auch in der Novelle Das Marmorbild (1819). Immer verlockt hier die Welt den aufgeschlossenen Menschen zu romantischen Abenteuern, in denen die Begegnung mit dem Dämonischen die Seele gefährdet. Wer aber das Wagnis scheut und in die bürgerliche Ordnung und Enge flüchtet, läuft Gefahr, als Spießer sein Leben zu versäumen. Dieser an den mittelalterlichen Dualismus erinnernde Zwiespalt zwischen Weltfreude und Weltflucht (vgl. Kap. 1c, besonders ) entspringt Eichendorffs katholischem Glauben. Und ebendieser Glaube soll helfen, den richtigen Lebensweg zu finden. Das lyrische Ich entscheidet sich nicht; das Gedicht »Die zwei Gesellen« schließt stattdessen mit dem Gebet: »Ach Gott, führ uns liebreich zu Dir!«

Wie die Erfüllung des Gebetes aussieht, zeigt das Schicksal des Helden in der vielgelesenen Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826). Angeregt durch Friedrich Schlegels »Idylle über den Müßiggang« in dem Roman Lucinde, schickt Eichendorff seinen Taugenichts als Glücksritter in die Welt, die vor dem alles poetisierenden Blick26 des Ich-Erzählers märchenhafte Züge annimmt. Mit einer Geige, wenig Geld und viel Gottvertrauen »schlendert« der wanderlustige Müllerssohn fort und singt:

Den lieben Gott laß ich nur walten;

Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld

Und Erd’ und Himmel will erhalten,

Hat auch mein’ Sach’ aufs best’ bestellt!

Der Ausgang rechtfertigt diese fromme Einfalt: Nach Verwechslungen, Maskeraden und glücklichen Zufällen heiratet der Taugenichts eine schöne Waise und bekommt dazu vom Grafen »das weiße Schlößchen, das da drüben im Mondschein glänzt«, geschenkt; und so endet »alles, alles gut!«.

Ein böses Ende nimmt dagegen die Novelle Das Schloss Dürande (1837), eine Erzählung aus der Zeit der großen Französischen Revolution. Diese wirklichkeitsnähere Darstellung einer unbedingten Liebe und deren Untergang in den gesellschaftsgeschichtlichen Umwälzungen erlaubt dem Leser Rückschlüsse auf Eichendorffs politischen Standpunkt.

Das Universalgenie der Hoch- oder Spätromantik war ERNST THEODOR WILHELM HOFFMANN (1776–1822), der aus Verehrung für Mozart seinen Vornamen Wilhelm durch Amadeus ersetzte. Der in Königsberg geborene Jurist wurde 1802 in die Provinz verbannt, weil er einflussreiche Leute der verdorbenen bürgerlichen Gesellschaft in Posen durch Karikaturen27 bloßgestellt hatte. Nachdem er beim Zusammenbruch Preußens im Jahre 1806 seine Stelle als Regierungsrat in Warschau verloren hatte, ging er an das Theater in Bamberg, wo er als Kapellmeister, Direktionsgehilfe, Bühnenarchitekt und Kulissenmaler arbeitete. Später war er Kammergerichtsrat in Berlin. E. T. A. Hoffmann, der Werke von Goethe, Brentano und Fouqué vertonte, schrieb an einen Freund: »Die Wochentage bin ich Jurist und höchstens etwas Musiker, Sonntags am Tage wird gezeichnet und Abends bin ich ein sehr witziger Autor bis in die späte Nacht.«

Das erinnert sehr an sein Märchen Der goldene Topf (1814), in dem erzählt wird, wie der etwas unbeholfene Student Anselmus kraft seines kindlichen, poetischen Gemüts den Übergang aus dem bürgerlichen Alltagsleben in das phantastische Zauberreich der Poesie findet. Denn anders als Eichendorffs Taugenichts muss Anselmus die Wirklichkeit verlassen, um glücklich zu sein. Er heiratet die Tochter eines Geisterfürsten, der in Dresden als Archivar lebt, und zieht auf die versunkene Insel Atlantis. Am Ende steht die Frage, ob der Erzähler durch seine Mitteilung »nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum« seines inneren Sinnes erworben habe – Seligkeit, jedenfalls, bedeute nichts »als das Leben in der Poesie«.

Unbestreitbar besaß E. T. A. Hoffmann einen ansehnlichen Meierhof im Reiche der Poesie. Da dieses Reich aber auf einer versunkenen Insel angesiedelt war und auf Hoffmanns poetisches Besitztum oft der spukbelebte Schatten der Unterwelt fiel, ist es nicht verwunderlich, dass der Dichter als »Gespensterhoffmann« in die Literaturgeschichte einging. Hoffmanns Kriminalnovelle Das Fräulein von Scuderi und sein Schauerroman28 Die Elixiere des Teufels sind ausgemachte Thriller.

Die Elixiere des Teufels, »Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus, eines Kapuziners« (1815), enthalten die Geschichte einer verfluchten Familie: Ein ruchloser Maler muss nach seinem Tode als Wiedergänger umgehen, bis seine Freveltaten an dem letzten seiner Nachkommen gerächt sind. Dieser letzte Spross des unseligen Geschlechts ist der stolze und leidenschaftliche Medardus, der sein Gelübde bricht, weil er von einer teuflischen Reliquie gekostet hat und darauf, von erotischer Gier und schauerlicher Mordlust getrieben, zum dämonischen Verbrecher wird. Begegnungen mit einem Doppelgänger und Erscheinungen des verstorbenen Ahnherrn bringen den Mönch dabei an die Grenze des Wahnsinns.

In der ebenfalls analytisch aufgebauten Novelle Das Fräulein von Scuderi (1819) geht es um einen genialen Goldschmied, der unter dem dämonischen Zwang steht, die von ihm gefertigten und veräußerten Schmuckstücke wieder an sich zu bringen. Cardillac, der Pariser Goldschmied, ermordet seine Kunden, bis er bei einem nächtlichen Anschlag selbst erstochen wird. Sein treuer Gehilfe Olivier, der aus Liebe zu Cardillacs Tochter Madelon geschwiegen hatte, enthüllt Cardillacs Wahn, nachdem er selbst des Mordes an seinem Meister verdächtigt wurde.

In derselben Sammlung29 wie Das Fräulein von Scuderi erschien auch die Novelle Die Bergwerke zu Falun (1818). E. T. A. Hoffmann fand den Stoff, den schon Johann Peter Hebel unter dem Titel Unverhofftes Wiedersehen (1810) bearbeitet hatte (vgl. Kap. 7), in GOTTHILF HEINRICH SCHUBERTS (1780–1860) Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808), einer romantischen Naturphilosophie, der Hoffmann manche Anregung verdankte.

Den seinerzeit oft behandelten Gegensatz zwischen dem Lebensstil eines Bürgers und dem eines Künstlers stellte E. T. A. Hoffmann noch einmal höchst launig aus seinen eigenen Erfahrungen als beamtetes Genie dar. In dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern30 (1819 und 1821) verkörpern der Kater Hoffmanns bürgerliches Dasein und der aus den dreizehn Stücken der Kreisleriana bekannte Kapellmeister sein Leben als Künstler.

Als der Kater Murr seine Lebensansichten schrieb, zerriß er ohne Umstände ein gedrucktes Buch, das er bei seinem Herrn vorfand, und verbrauchte die Blätter harmlos teils zur Unterlage, teils zum Löschen. Diese Blätter blieben im Manuskript und – wurden, als zu demselben gehörig, aus Versehen mit abgedruckt!

So kommt es zu einem grotesken Wechsel der Perspektiven. Während Kreisler sich im Widerstreit zwischen Ideal und Lebenswirklichkeit am Hof eines Duodezfürsten verzehrt, trivialisiert der spießige Murr den Bildungsroman. Er will belehren, »wie man sich zum großen Kater bildet«, und schreibt mit seiner Lebensgeschichte eine Parodie auf die modischen Biographien mit dem zeitüblichen Titel »Leben und Meinungen des XY«.31

Wie E. T. A. Hoffmann machten zwei Romantiker französischer Herkunft Berlin zu ihrer Wahlheimat: FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUÉ (1777–1843), dessen Märchen Undine (1811) Hoffmann, später Albert Lortzing vertonen, und ADELBERT VON CHAMISSO (1781–1838), der Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) erfand.

Der schlesisch-ungarische NIKOLAUS LENAU schloss sich dem Kreis der schwäbischen Romantiker an. Die schwäbischen Romantiker trafen einander in dem gastlichen Haus des experimentierenden Parapsychologen JUSTINUS KERNER (1786–1862), der in der Seherin von Prevorst (1829), ähnlich wie Brentano, die Visionen einer somnambulen Neurasthenikerin aufschrieb und einige volkstümliche Lieder zu Des Knaben Wunderhorn beisteuerte.32 Zu Kerners Gästen zählte LUDWIG UHLAND (1787–1862), der als Balladendichter in den Lesebüchern fortlebt,33 der biedermeierlich harmlose GUSTAV SCHWAB (1792–1850), der Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (1838–40) sammelte, der genialische WILHELM WAIBLINGER (1804–1830) und der Erzähler WILHELM HAUFF (1802–1827), dessen historischer Roman Lichtenstein (1826) heute weniger bekannt ist als seine Märchenzyklen Die Karawane (1825)34 und Das Wirtshaus im Spessart (1828). Gelegentlich fand sich auch Eduard Mörike aus dem nahen Cleversulzbach bei Kerner in Weinsberg ein. Hier ging die Romantik ins Provinzielle und ins Biedermeier über.

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