Читать книгу Melya - Larissa Mücke - Страница 10
2 • Die Frau im Schatten
ОглавлениеAls ich das kleine Café verließ, in dem ich arbeitete, war mein traumatisches Erlebnis schon fast wieder vergessen. Leise summte ich vor mich hin und ließ die Strahlen der tief stehenden Sonne auf mein Gesicht scheinen. Nicht mehr lange, dann würde sie untergehen und die Nacht anbrechen.
Heute würde ich mich wirklich zusammenreißen und in der Wohnung bleiben. Auf noch so eine Nahtoderfahrung konnte ich eigentlich gut verzichten und ich wusste, dass auch Felix sich jedes Mal Sorgen um mich machte. Es wäre verantwortungslos von mir, nach diesem Erlebnis gestern wieder mein Leben zu riskieren. Der Schreck der letzten Nacht steckte mir noch immer in den Knochen.
Aber während ich hier im Tageslicht stand und mich umsah, wirkten die Straßen gar nicht mehr so bedrohlich. Ich konnte mir sogar fast einreden, dass ich die tote Katze nie gesehen hatte und mein Verfolger in der letzten Nacht nichts als Einbildung gewesen war. Wie würde auch etwas derart Grausames in diese scheinbar perfekte Welt passen? Es schien beinahe unmöglich zu sein.
Dann fiel mein Blick jedoch auf eine dunkelhäutige Frau, die nah bei mir im Schatten einer Hauswand stand. Erst verstand ich nicht, warum sie mir auffiel. Klar, sie war wirklich hübsch und ihr Lächeln ließ mich fragen, woran sie gerade wohl dachte, aber das war nicht alles, was mich so faszinierte. Nachdenklich musterte ich sie und dann bemerkte ich, was an ihr so außergewöhnlich war. Sie tat nichts.
Jeder, der hier auf den Straßen unterwegs war, hatte irgendeine Aufgabe, ein Ziel. Einige beschäftigten sich mit ihrer Arbeit, andere waren wie ich zügigen Schrittes auf dem Heimweg und eine Gruppe Kinder unterhielt sich laut, während sie kichernd an mir vorbeiliefen. Diese Frau jedoch tat absolut gar nichts. Ihre Hände in den Taschen ihrer Lederjacke vergraben stand sie nur da, an die Hauswand gelehnt, den Blick in die Ferne gerichtet. Oder vielleicht auch nicht?
Sie trug eine Sonnenbrille, die ihre Augen vollständig verdeckte. Könnte es sein, dass sie mich vielleicht beobachtete? Bei diesem Gedanken wandte ich schnell meinen Blick ab und griff meine Tasche fester. Irgendetwas an ihrem Auftreten irritierte mich. Sie hatte etwas Mysteriöses an sich, das ich nicht so recht in Worte fassen konnte. Vielleicht lag es daran, dass sie mich an den Mann erinnerte, der mich gestern Abend noch verfolgt hatte. Nur dass ich nicht das Gefühl hatte, dass sie jede Sekunde auf mich zuspringen würde, um mich anzugreifen. Sie wirkte ungefährlich. Trotzdem, irgendetwas an ihr war anders. So etwas hatte ich noch nie gespürt.
Genug. Diese Frau war mit Sicherheit vollkommen normal und ich bildete mir dieses merkwürdige Gefühl nur ein. Sie hatte mir ja nichts getan und eigentlich wirkte sie auch ganz harmlos. Ich sollte nicht sofort von jedem fremden Menschen das Schlechteste denken. Dennoch drehte ich mich in die andere Richtung, um loszulaufen. Ich würde lieber einen Umweg in Kauf nehmen, als direkt an ihr vorbeizugehen. Nur zur Sicherheit, ich musste ja kein unnötiges Risiko eingehen. Auch wenn ich nur zu gerne mehr über sie erfahren hätte.
Als ich jedoch noch einmal verstohlen aus den Augenwinkeln in ihre Richtung spähte, war sie wie vom Erdboden verschluckt. Verwundert rieb ich mir meine Augen, um noch einmal genauer hinzusehen, doch es änderte sich nichts. Sie war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Hatte ich sie mir etwa doch nur eingebildet? Konnte es sein, dass mein Gehirn mir solche Streiche spielte? Vielleicht entwickelte mein Verstand ja diese Paranoia als Selbstschutz, damit ich nicht mehr so dumme Sachen tat wie bei Dunkelheit das Haus zu verlassen. Was auch immer es war, die Frau blieb verschwunden, also musste ich mir auch keine Gedanken mehr um sie machen. Das würde mich eh nicht gerade weiterbringen. Stattdessen atmete ich tief durch, lockerte bewusst meine Schultern und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich würde diese Frau mit Sicherheit in wenigen Minuten vergessen haben, wenn ich einfach nicht mehr über sie nachdachte. Und trotzdem blieb das Gefühl eines stechenden Blickes, der sich in meinen Rücken bohrte und mich bis nach Hause verfolgte.
Meine Hände zitterten, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschloss, und ich ärgerte mich selbst darüber. Auf dem ganzen Weg war nichts Außergewöhnliches passiert. Ich hatte keinen Grund, so aufgewühlt zu sein. Aber ich konnte erst erleichtert aufatmen, als ich sicher über die Schwelle trat und die Tür hinter mir schloss. Mein Verhalten war albern, das sagte ich mir immer und immer wieder. Albern und kindisch. Ich war längst aus dem Alter raus, in dem man noch vor Schatten und Fremden Angst hatte. Ich sollte es besser wissen.
Schnell setzte ich ein Lächeln auf, als ich die schnellen Schritte von Felix hörte und nur kurz darauf rannte er mir auch schon entgegen, um mich fest zu umarmen.
»Emilia, da bist du ja endlich!!«
Sofort wurde mein Lächeln ehrlicher, während ich meinen kleinen Bruder an mich drückte und ihm die Haare verstrubbelte.
»Was ist, hast du mich etwa vermisst? Du weißt doch, dass ich immer so lange arbeite.«
Vertrauensvoll beugte er sich vor, als wolle er mir ein Geheimnis ins Ohr flüstern. »Aber heute hatte ich so ein ungutes Gefühl. Genauso wie gestern Nacht, als du weg warst.«
Mein Lächeln verblasste schlagartig. Er hatte ein ungutes Gefühl gehabt? Normalerweise sollte mir so eine Aussage von einem Zehnjährigen nicht viele Sorgen bereiten. Es waren nur die Gedanken eines kleinen Jungen, der meine innere Unruhe bemerkt hatte. Aber besonders in den letzten Monaten war mir aufgefallen, dass sein Bauchgefühl ihn fast nie täuschte. Er wusste immer, wann ich wieder nachts das Haus verlassen hatte, egal, wie vorsichtig ich auch war. Und nach jeder Nacht, in der er sich von Albträumen geplagt in mein Bett geschlichen hatte, erzählte Mom mir am nächsten Morgen von einem weiteren Vermissten.
Ich erinnerte mich noch genau, wie laut Felix vor einigen Jahren den ganzen Tag geschrien hatte und sich einfach nicht beruhigen ließ. Das war der letzte Tag gewesen, an dem ich meinen Dad gesehen hatte.
Je älter Felix wurde, desto schwerer fiel es mir, das alles noch für Zufälle zu halten. Als ich aber den nachdenklichen Blick meines Bruders auf mir bemerkte, zwang ich mir sofort wieder ein Lächeln ins Gesicht. Ich wollte und würde mich nicht schon wieder in irgendetwas reinsteigern, zumindest nicht heute. Ich war bestimmt nur übermüdet, kein Wunder, dass mein Gehirn nicht mehr richtig funktionierte.
Wenn ich darüber nachdachte, machte diese Erklärung durchaus Sinn. Mein Gefühl, beobachtet zu werden, die Frau im Schatten, sogar die tote Katze… Das könnten alles nur Hirngespinste gewesen sein, die sich in meinen Kopf geschlichen hatten, weil ich zu wenig Schlaf bekommen hatte.
Glücklicherweise musste ich Felix keine Antwort mehr geben, weil unsere Mutter uns genau in diesem Moment fragte, ob sie schon etwas zu essen machen sollte.
»Nein, Mom, für mich nicht«, antwortete ich, während ich meinen kleinen Bruder wieder losließ und herzhaft gähnte. »Ich wollte mich noch ein oder zwei Stunden hinlegen und etwas schlafen. Die Kunden heute waren wirklich anstrengend.«
Das war immerhin nur halb gelogen. Ich war furchtbar müde, aber die Arbeit im Café war definitiv nicht der Grund dafür.
»In Ordnung, ruh’ dich nur aus. Ich wecke dich, wenn wir essen wollen.«
»Danke, Mom.«
Noch bevor mein Kopf das weiche Kissen in meinem Bett berührte, war ich bereits eingeschlafen.
• • • • •
Sie war alleine und es war dunkel. Das war alles, was Emilia wusste. Angestrengt versuchte sie zu erkennen, wo sie war, und sich daran zu erinnern, wie sie hergekommen war, aber es fiel ihr nicht ein, egal, wie sehr sie es auch versuchte.
Wände, Wände aus dunklem Stein. Emilia streckte eine Hand aus, um sie zu berühren, und erst dabei bemerkte sie es. Das hier waren nicht ihre Hände. Sie war nicht Emilia. Es war nicht echt. Das alles, die Dunkelheit, dieser merkwürdige Ort. Es war alles nicht echt. Ihr wurde klar, dass sie vermutlich noch immer in ihrem Bett lag und tief und fest schlief. Normalerweise wachte sie immer auf, wenn sie so etwas dachte. Sie träumte, sie bemerkte, dass es ein Traum war und dann hörte der Traum auf. Aber dieses Mal war irgendetwas anders, denn wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht aufwachen. Emilia blickte an sich herunter und erkannte endlich, in wessen Körper sie gerade steckte. Felix. Plötzlich erklangen laute Stimmen und Emilia drehte sich panisch um. Oder drehte Felix sich um? Sie wusste es nicht.
An der Wand flackerte eine Kerze, aber Emilia konnte kaum weiter als zwei Meter gucken. Diese Dunkelheit war finsterer als alles, was sie bisher gesehen hatte.
»Hallo?«, erklang die zittrige Stimme eines verängstigten kleinen Jungen. Ihre Stimme.
Es war, als würde sie wieder aus ihrem Körper herausgerissen werden. Von einer Sekunde auf die andere war sie nicht mehr Felix. Sie schwebte über ihm, nicht mehr als ein körperloser Beobachter. Hinter ihrem Bruder eine Gestalt, die sich im Schatten verbarg. Verzweifelt versuchte Emilia, eine Warnung zu rufen, aber aus ihrem Mund entfloh kein einziger Ton. Niemand konnte sie hören. Sie konnte nur auf die Gestalt hinter ihrem Bruder sehen, unfähig, den Blick abzuwenden.
Es war kaum möglich, in der Dunkelheit etwas von dem Mann zu erkennen, aber trotzdem war Emilia sich sicher, dass sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Gestern Nacht, in einer dunklen Gasse ohne Ausweg. Wie könnte sie diesen Anblick vergessen, auch wenn es nur ein Schatten gewesen war?
»Bleib stehen!« Emilia schrie, als der Mann einen Schritt auf ihren kleinen Bruder zuging. Wieder kam kein Laut aus ihrem Mund und doch hielt der Mann tatsächlich inne. Jedoch nicht wegen des lautlosen Schreis. Ein anderer Mann hatte sich neben ihn gestellt und bedeutete ihm nun, wegzugehen. Höflich, fast schon demütig, senkte der Verfolger aus der Nacht den Kopf vor der anderen Gestalt und verschwand in die Dunkelheit. Emilia war versucht, erleichtert aufzuatmen, doch dann bewegte sich dieser neue Mann selbst auf Felix zu, welcher sich immer noch verwirrt im Kreis drehte. Er konnte die Gestalten in der Schwärze der Schatten nicht erkennen, spürte nur, dass irgendjemand dort war.
Und dann passierte es. Die Gestalt trat vor, direkt in das Licht der kleinen Kerze und Emilia konnte das Gesicht des Mannes klar und deutlich sehen. Sie erstarrte vor Schreck, und für einen Moment hörte die ganze Welt auf sich zu bewegen. Denn nach zehn Jahren blickte Emilia zum ersten Mal wieder in das Gesicht ihres Vaters.