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4 • Kreaturen der Nacht

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Es fühlte sich merkwürdig an, die Stufen nach unten zu laufen. Bislang hatte ich das Haus nachts ausschließlich durch mein Fenster verlassen, um meine Mutter nicht zu wecken. Aber heute musste ich mich nicht verstecken, nicht vor ihr jedenfalls. Ich hatte eine Aufgabe, einen Grund, heute Nacht draußen zu sein.

Leise schlich ich die Stufen hinunter, doch noch bevor ich die Haustür erreichte, hörte ich, wie hinter mir eine der Wohnungstüren geöffnet wurde. Ertappt drehte ich mich um und sah in das Gesicht unserer Nachbarin, Mrs. Doosewell. Die alte Dame war eine der wenigen, die ich in unserem Haus kannte. Sie hatte früher häufig auf Felix und mich aufgepasst, während Mom arbeiten war. Ich hatte nicht mehr viele Erinnerungen an sie, aber ich wusste noch, dass ich es immer gemocht hatte, bei ihr zu sein.

»Emilia, was machst du hier?« Nervös versuchte ich, ihrem stechenden Blick auszuweichen. Es war immerhin verboten, im Dunkeln das Haus zu verlassen.

»Ich… ich muss meinen Bruder finden.« Ich wusste nicht, wieso ich nicht einfach irgendeine Ausrede erfand. Vielleicht kam es mir falsch vor, sie anzulügen. Sie wirkte immer so freundlich auf mich.

»Warte einen Augenblick hier«, forderte sie und ließ mich dann irritiert im Flur zurück. Ich hatte mit vielen Reaktionen gerechnet, von Unverständnis bis zu Ignoranz, aber das hatte ich definitiv nicht erwartet. Dennoch hatte ich nicht lange Zeit, um über ihr Verhalten nachzudenken, denn nur kurz darauf kehrte sie zurück.

Wortlos reichte sie mir eine Kette, ein einfaches Lederband mit einem kleinen Anhänger aus Holz, in dem ein funkelnd blauer Stein eingearbeitet war. Es sah aus, als wäre die Kette in mühsamer Handarbeit selbst geschnitzt worden. Ich konnte nicht erkennen, was es darstellen sollte, aber es erinnerte mich an eine Art Schriftzeichen.

Mrs. Doosewell musste meinen verwirrten Blick bemerkt haben, denn sie sah mich mit einem freundlichen Lächeln an. »Das Böse dort draußen kann dir damit nichts anhaben. Pass auf dich auf, Emilia.«

Ich öffnete meinen Mund, um mich bei ihr zu bedanken, doch bevor ich irgendetwas sagen konnte, ging sie bereits wieder zurück und schloss die Tür hinter sich. So langsam war ich mir nicht mehr sicher, ob ich Mrs. Doosewell tatsächlich kannte. Was wusste sie über diese Wesen aus der Dunkelheit? Wusste sie überhaupt etwas? Schnell legte ich mir die Kette um und ging nach draußen. Ich bezweifelte zwar, dass eine alte Kette wie diese mich vor den Kreaturen der Nacht beschützen könnte, aber sie gab mir dennoch ein sichereres Gefühl. Es würde bestimmt alles gut werden. Ich musste nur optimistisch bleiben.

Die Straßen der Stadt sahen im Dunkeln ganz anders aus als am Tag. Ich war froh, dass mir dieser Anblick ebenso vertraut war, ansonsten hätte ich mich wohl hoffnungslos verirrt und wäre so lange ziellos durch die Stadt gelaufen, bis die Sonne aufgegangen wäre. So jedoch wusste ich genau, welchen Weg ich einschlagen musste, um zu der verlassenen Lagerhalle zu gelangen. Mir fiel auf, wie häufig ich über meine Schulter blickte, um nach einem möglichen Verfolger zu sehen und schüttelte verärgert den Kopf. Es machte keinen Sinn, ständig nur zurückzublicken. Das machte mich langsamer und dadurch würde ich nur noch später meinen Bruder finden. Also konzentrierte ich mich stattdessen darauf, möglichst schnell vorwärts zu kommen.

Ich erkannte eines der Häuser neben mir, ich konnte nicht mehr weit von dem Lagerhaus entfernt sein. Ein Teil von mir wollte nichts lieber, als sofort umzukehren und einen großen Bogen um diesen Ort zu machen, aber ich spürte, dass ich hier genau richtig war. Keine Ahnung, warum ich mir so sicher war, dass mein Bruder dort sein würde, aber ich hatte beschlossen, meinem Gefühl zu vertrauen. Ich hatte ja auch kaum eine andere Wahl.

Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte, als ich das Lagerhaus sah, doch dann blieb ich wie erstarrt stehen. Am Ende der Straße konnte ich die Silhouette eines Mannes erkennen. Ein Mann, der bis vor einer Sekunde noch nicht dort gestanden hatte. Langsam bewegte sich die Gestalt auf mich zu und ohne zu zögern drehte ich mich um und rannte los. Es fühlte sich genauso an wie in der letzten Nacht, in der ich nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Nur dass ich das ungute Gefühl hatte, dass ich dieses Mal nicht wieder so viel Glück haben würde.

Hektisch sah ich mich im Rennen nach einer Seitenstraße um, in der ich meinen Verfolger vielleicht wieder abschütteln könnte, aber weit und breit war keine zu sehen. Ich musste es bis zum Ende der Straße schaffen und hoffen, dass er mich dort aus den Augen verlieren würde. Doch das Ende der Straße war noch eine gefühlte Ewigkeit entfernt. Ich blickte über meine Schulter, um zu sehen, wie weit der Mann noch entfernt war, aber die Straße hinter mir war vollkommen verlassen. Schlitternd blieb ich stehen und sah mich überrascht um. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? War ich die ganze Zeit allein gewesen? Schwer atmend sah ich wieder nach vorne und in diesem Moment blieb mir fast das Herz stehen. Er stand direkt vor mir.

Ich wollte reagieren, wollte schreien, wegrennen, irgendetwas tun, aber ich war wie erstarrt. Mein Mund wollte sich nicht öffnen und meine Muskeln ließen sich nicht bewegen. Alles in mir war angespannt, und doch war ich zu keiner Reaktion fähig. Ich konnte nur in die glühend roten Augen meines Gegenübers starren. Dieser Mann vor mir war kein Mensch, das war mir sofort klar. Ich hatte es gewusst, oder zumindest geahnt, aber nichts hätte mich auf diesen Anblick vorbereiten können.

»Du hättest heute Nacht lieber zu Hause bleiben sollen«, flüsterte das Wesen vor mir. Zwei spitze weiße Zähne blitzten beim Sprechen in seinem Mund auf und ich unterdrückte einen Aufschrei. Ich wusste nicht, welche Art Monster ich erwartet hatte, aber diese war es nicht. Der Mann streckte seine Arme nach mir aus und bevor ich auch nur daran denken konnte, vor ihm zurückzuweichen, hatte er mich bereits fest an der Schulter gepackt und zu sich gezogen. Grob riss er meinen Kopf zur Seite und näherte sich mit seinen Zähnen meinem entblößten Hals. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Kette von Mrs. Doosewell auf meiner Haut erwärmte, aber vielleicht lag das auch nur an meinem rasenden Puls. Mein Kopf war wie leergefegt, in mir war nichts mehr außer der Angst.

Sicher, dass dies mein Ende sein würde, schloss ich die Augen und wartete auf die Schmerzen des Bisses. Stattdessen spürte ich jedoch, wie der Mann von mir weggerissen wurde. Überrascht stolperte ich einige Schritte vorwärts und riss meine Augen wieder auf, doch der Anblick, der sich mir bot, irritierte mich mehr als dass er mich erleichterte.

Vor mir lag der Mann, der mich gerade noch töten wollte, aber jetzt sah er nicht einmal halb so bedrohlich aus. Er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Über ihm stand eine Frau, die ihn mit ihren hohen Schuhen zu Boden drückte. Unwillkürlich dachte ich an die Frau, die mich heute aus dem Schatten heraus beobachtet hatte. Soweit ich es erkennen konnte, sah sie ihr sehr ähnlich. Die gleiche dunkle Haut, die gleichen schwarzen Locken, die gleiche Lederjacke.

Mein Angreifer blickte zu mir, aber die Frau drehte seinen Kopf sofort wieder um, sodass ich sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte.

»Wage es nicht, sie auch nur anzusehen. Sie ist tabu für dich. Hast du mich verstanden?«, knurrte sie bedrohlich und erstaunlicherweise nickte der Mann tatsächlich. Zufrieden nahm die Frau ihren Fuß von seiner Brust und mein Angreifer lief so schnell wie möglich fort. Fast so, als hätte er Angst vor ihr.

Ich öffnete meinen Mund, um mich bei meiner unbekannten Retterin zu bedanken, doch genau in dem Augenblick drehte sie sich zu mir um. Sie sah eigentlich ganz normal aus. Eine hübsche junge Frau, etwa so alt wie ich. Wären da nicht ihre Augen gewesen. Ihre leuchtend roten Augen. Sie öffnete ihren Mund und auch bei ihr zeigten sich beim Sprechen zwei spitze Zähne, mit denen sie mir vermutlich ohne Probleme die Kehle aufreißen könnte. »Hi, ich bin Maya.«

Schockiert sah ich in das Gesicht meiner Retterin. Langsam wich ich vor ihr zurück, um möglichst viel Abstand zwischen uns zu bringen.

»Du… Du bist ein Vampir«, stammelte ich und versuchte, das zu realisieren. Vor mir stand kein Mensch, sondern ein Monster. Eines der Monster, die jede Nacht alle Menschen umbrachten, denen sie begegneten. Eines der Monster, die meinen Dad entführt hatten. Eines der Monster, die Felix hatten. Und doch hatte sie mich gerettet. Das passte doch nicht zusammen.

»Nun, genau genommen bevorzugen wir den Begriff Nachtwandler«, antwortete Maya gelassen. »Vampir klingt so blutrünstig und altmodisch. Aber davon abgesehen hast du recht, ja.«

Normalerweise war ich nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber in diesem Moment fehlten mir die Worte. Sie sprach, als würden wir nur über das Wetter reden und nicht, als hätte sie gerade zugegeben, dass sie menschliches Blut trank. Ich konnte das alles nicht begreifen. Wieso griff sie mich nicht an, so wie der andere Vampir? Warum hatte sie mich vor ihm beschützt? Ich hatte so viele Fragen, war aber unfähig, auch nur eine davon zu stellen.

»Was machst du überhaupt hier draußen?«, fragte Maya mich stattdessen. »Und dann auch noch in dieser Gegend. Hier wimmelt es von hungrigen Nachtwandlern. Wolltest du dich etwa umbringen?« Sie klang fast schon besorgt um mich, was hatte das nur zu bedeuten?

»Ich suche meinen Bruder«, brachte ich leise heraus.

»Oh. Natürlich. Das erklärt so einiges«, murmelte sie mehr zu sich selbst, woraufhin ich aber sofort hellhörig wurde.

»Kennst du meinen Bruder? Weißt du, wo er ist?« Mir war egal, was für eine Art Monster sie jetzt war, solange sie Informationen hatte, die mich zu meinem Bruder führen könnten.

»Nein, ich habe keine Ahnung, wo dein Bruder ist«, antwortete sie, ohne mir in die Augen zu sehen. »Kleine Kinder verschwinden manchmal einfach, da ist Felix weder der erste noch wird er der letzte gewesen sein. Vermutlich ist er schon tot, und du wirst es auch bald sein, wenn du nicht bald von hier verschwindest. Es hat keinen Sinn mehr, ihn zu suchen. Also reiß dich zusammen und geh wieder nach Hause.«

»Ich kann meinen Bruder doch nicht einfach im Stich lassen!«, rief ich empört, hielt dann aber inne. »Moment. Ich habe nicht erwähnt, wie er heißt. Woher kennst du seinen Namen? Wenn du weißt, wo er ist, dann musst du es mir sagen, bitte!«

Kurz sah Maya mich an und ich dachte schon, sie würde mir jetzt die Wahrheit sagen oder mir zumindest einen Hinweis geben. Aber dann schüttelte sie nur den Kopf und seufzte leise auf.

»Tut mir leid, das kann ich nicht. Wenn du ihm folgst, würde das deinen sicheren Tod bedeuten. Geh nach Hause, Emilia. Solange du es noch kannst.«

Melya

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