Читать книгу Melya - Larissa Mücke - Страница 13
5 • Mein Leben in ihre Hände
ОглавлениеSchockiert sah ich die fremde Frau vor mir an, der ich scheinbar überhaupt nicht fremd war. »Du kennst mich«, stellte ich leise fest und musterte sie nachdenklich. »Du kennst mich und du kennst meinen Bruder. Warum? Woher weißt du, wer wir sind? Ich habe dich noch nie gesehen. Oder?«
Frustriert seufzte Maya auf, als würde sie es bereuen, mich jemals mit meinem Namen angesprochen zu haben. Aber das konnte sie jetzt nicht mehr rückgängig machen, ich würde nicht locker lassen, bis ich Antworten von ihr hatte.
»Das ist nicht wichtig. Hör mir zu, wenn du jetzt weiter nach deinem Bruder suchst, wirst du nach nur ein paar Minuten tot sein.«
»Ist das eine Drohung?« Ich war selbst erstaunt, wie gelassen ich bei dieser Frage klang, aber Maya machte mir keine Angst. Vielleicht lag es daran, dass sie so eine beruhigende Stimme hatte. Oder weil sie mir gerade das Leben gerettet hatte. Jedenfalls ging ich nicht davon aus, dass sie mich in den nächsten paar Minuten umbringen würde.
»Nein, das ist keine Drohung«, antwortete Maya seufzend. »Ich werde dir nichts tun. Aber es ist eine gut gemeinte Warnung. Eine, die du besser ernst nehmen solltest, wenn dir dein Leben lieb ist.«
»Eine Warnung? Wovor? Ich kann selbst auf mich aufpassen. Wieso versuchst du überhaupt, mich zu beschützen? Du hast mir gerade eben schon mein Leben gerettet, danke dafür übrigens, und jetzt willst du mich schon wieder in Sicherheit bringen. Wieso tust du das?«
Das Thema war ihr ganz offensichtlich unangenehm und vermutlich wäre sie gerade lieber an jedem anderen Ort als hier mit mir, doch das war mir ziemlich egal. Sie hatte mir geholfen, also würde sie mich jetzt wohl kaum angreifen, nur weil ich sie nervte.
»Du stellst zu viele Fragen, Emilia. Geh einfach nach Hause.«
»Das werde ich ganz sicher nicht tun. Wenn du mir meine Fragen nicht beantworten willst, na schön. Aber meinen Bruder werde ich nicht aufgeben. Ich gehe jetzt in dieses Lagerhaus und…«
»Nein!«, unterbrach Maya mich sofort und griff nach meinen Schultern. Unwillkürlich wich ich einen Schritt vor ihr zurück, woraufhin sie mich sofort wieder losließ. »Nein«, wiederholte sie leise. »Du darfst dort nicht reingehen.«
Einige Sekunden musterte ich Maya nachdenklich. Sie schien wirklich verzweifelt zu sein, auch wenn ich nicht verstehen konnte, wieso. »Du willst nicht, dass ich in dieses Lagerhaus gehe, also bin ich hier genau richtig«, stellte ich ruhig fest. »Ich habe keine Wahl, ich muss das machen. Ich werde erst wieder nach Hause gehen, wenn mein Bruder in Sicherheit ist.«
»Sie werden dich umbringen, wenn du alleine dort hineinspazierst«, sagte Maya flehend, aber ich schüttelte stur den Kopf.
»Ist mir egal, ich passe schon auf mich auf. Ich muss das Risiko eingehen. Und wenn du wirklich so unbedingt verhindern willst, dass deine mordlustigen Freunde mich aussaugen, solltest du einfach mitkommen. Dann kannst du selber sicher gehen, dass mir nichts passiert. Wie auch immer, ich habe keine Zeit mehr. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Maya.«
Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging entschlossenen Schrittes zurück auf das Lagerhaus zu. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, weil ich mir ziemlich sicher war, dass ich dann Maya anflehen würde, mich zu begleiten. Ich würde mich mit ihr um einiges sicherer fühlen, nachdem sie mir schon einmal das Leben gerettet hatte, und es wäre bestimmt sinnvoll, jemanden bei mir zu haben, der sich in diesem Lagerhaus auskannte. Aber auch ohne sie würde ich bei meinem Plan bleiben. Ich würde Felix nicht aufgeben, dafür war ich schon viel zu weit gekommen.
Ich war mir fast sicher, dass Maya schon längst gegangen war, als ich ein Seufzen hinter mir hörte und sie kurz darauf neben mir herlief.
»Du bist furchtbar stur, weißt du das?«, sagte sie und verdrehte leicht die Augen. »Also gut, ich werde dich begleiten. Aber wenn du überleben willst, wirst du dort drin auf mich hören müssen, okay?«
Ich reagierte nicht auf ihre Worte, grinste aber stumm in mich hinein. Jetzt, wo ich wusste, dass sie mich begleiten würde, war ich viel zuversichtlicher, dass ich Felix finden könnte.
Ich hätte es niemals laut zugegeben, aber nach diesem Angriff hatte ich meine Zweifel, ob ich in diesem Lagerhaus lange genug überleben würde, um meinen Bruder zu retten. Vor diesem einen Vampir hatte ich mich schließlich nicht beschützen können und ich war mir ziemlich sicher, dass in diesem Gebäude noch sehr viele mehr auf mich warten würden. Aber mit Maya an meiner Seite, die aufpasste, dass ich nicht ums Leben kam, war das alles schon viel einfacher. Sie würde mich sicher zu meinem Bruder bringen, davon war ich überzeugt.
Vielleicht war es dumm von mir, ihr einfach so blind zu vertrauen, aber was hatte ich schon für eine Wahl? Sie war meine beste Chance, lebend dort rein und am besten auch wieder rauszukommen. Dennoch schlug mein Herz immer schneller, je näher wir dem Lagerhaus kamen und bevor ich mich versah, standen wir schon vor einer unauffällig aussehenden Tür.
Ich streckte meine Hand aus, um sie zu öffnen, aber Maya hielt mich zurück. Ihre Hand, die auf meinem Arm lag, löste ein angenehmes Kribbeln aus, das ich aber sofort wieder ignorierte.
»Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst?«, fragte sie noch einmal und blickte ernst in meine Augen. »Ich kann dir nicht versprechen, dass ich dich dort wirklich beschützen kann. Ich werde mein Bestes geben, aber ich weiß nicht, ob das reichen wird. Wenn du jetzt da reingehst, gibt es kein Zurück mehr. Es ist noch nicht zu spät, wieder umzudrehen, niemand würde dir deswegen einen Vorwurf machen.«
»Ich bin mir sicher«, antwortete ich und erwiderte Mayas Blick fest, auch wenn ihre roten Augen mich verunsicherten. »Das sollte mittlerweile auch dir klar sein. Ich werde jetzt nicht mehr umkehren, keine Chance.«
»Also gut.« Maya nahm ihre Hand wieder von meinem Arm und sah mich fest an. »Wir sollten trotzdem noch etwas besprechen, bevor wir da reingehen. Es gibt ein paar Regeln, an die du dich unbedingt halten musst. Drei, genau genommen. Sie sind wichtig, für deine eigene Sicherheit und für meine.«
Überrascht sah ich Maya an, nickte aber. Ich hatte bisher gar nicht daran gedacht, dass das auch für sie gefährlich werden könnte. Und trotzdem half sie mir bei meinem verzweifelten Versuch, meinen Bruder zu retten. Das machte doch alles keinen Sinn.
»Erstens: Du darfst dir keine Gefühle anmerken lassen. Ganz egal, was du sehen wirst, du wirst so tun, als würde dich das alles kalt lassen. Keine Überraschung, kein Entsetzen, gar nichts. Kriegst du das hin?«
Ein wenig irritiert nickte ich wieder. »Ja, das kriege ich hin. Aber wieso…«
»Zweitens«, unterbrach sie mich, »wirst du keine Fragen stellen. Nicht mir und erst recht niemandem sonst. Am besten sprichst du überhaupt nicht, das wird das Sicherste sein.«
Das würde mir schon schwerer fallen, doch ich nickte nur wieder. Wenn ich nicht zustimmen würde, würde sie mich vermutlich nie begleiten. »Na schön, ich werde ganz ruhig sein. Und was ist das Dritte?«
»Die dritte Regel wird dir wahrscheinlich am wenigsten gefallen. Aber wenn wir dort drinnen sind, wirst du mir vertrauen müssen. Was auch immer ich tun werde, du musst mitspielen. Vielleicht werde ich so tun, als hätte ich dich gefangen genommen, damit die anderen uns in Ruhe lassen. Vielleicht muss ich auch überhaupt nichts machen. Ich weiß nicht, was dort drinnen passieren wird. Aber was auch geschieht, du musst darauf vertrauen, dass ich das Beste tun werde, um uns beide zu deinem Bruder zu bringen, ohne dass dir etwas passiert. Kannst du das?«
Zögernd sah ich in Mayas leuchtend rote Augen. Sie erinnerten mich noch immer an die meines Angreifers, doch irgendetwas an ihnen war anders. Sie versprachen mir Sicherheit. Maya kam mir so vertraut vor, als würde ich sie schon mein ganzes Leben kennen, und neben ihr fühlte ich mich so sicher, wie ich es in der Dunkelheit noch nie erlebt hatte.
Die Frage war nur, ob das ausreichte, um ihr mein Vertrauen zu schenken. Ob ich ihr genug vertrauen konnte, um mein Leben in ihre Hände zu legen. Ich dachte an mein Bauchgefühl, das mir bisher immer geholfen hatte. Mein Instinkt hatte mir gesagt, dass an diesem Ort Gefahren lauerten und mein Instinkt hatte mir auch vorher schon gesagt, dass irgendetwas Übernatürliches nachts auf den Straßen war. Und jetzt sagte mein Instinkt mir, dass mir bei dieser Frau, obwohl sie war, was sie nun mal war, nichts geschehen würde. Bei ihr spürte ich keine Gefahr, nur Sicherheit.
Tief atmete ich durch und hoffte, dass ich diese Entscheidung nicht bereuen würde, während ich langsam nickte. »Ja, das kann ich. Ich vertraue dir. Bring mich einfach zu meinem Bruder.«
Ich meinte, ein kleines Lächeln auf Mayas Lippen erkennen zu können, doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, hatte sie sich schon wieder von mir abgewendet und die Tür zum Lagerhaus geöffnet.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während wir langsam in das Innere der Halle traten. Mit großen Augen sah ich mich staunend um, bis mir wieder einfiel, was Mayas erste Regel gewesen war. Keine Emotionen zeigen. So tun, als würde mich das alles kalt lassen. Also konzentrierte ich mich darauf, möglichst ausdruckslos in die Gegend zu starren. Dennoch musterte ich unsere Umgebung aufmerksam aus den Augenwinkeln.
Von der Halle, die von außen so groß ausgesehen hatte, konnte man nicht viel erkennen. Ich hatte eher das Gefühl, als würden wir in einem kleinen Gang stehen. Unwillkürlich griff ich nach Mayas Hand, um in der völligen Dunkelheit nicht die Orientierung zu verlieren.
»Warte kurz«, murmelte sie und nur kurze Zeit später zündete sie einige Kerzen an, die an der Wand hingen. Irgendwie kam mir dieser Ort bekannt vor.
Langsam führte Maya mich weiter, bis wir an den Stufen einer steinernen Treppe standen, die nach unten in die Schwärze führte. Es war der einzige Weg, um weiterzukommen, also würden wir wohl oder übel dort hinuntergehen müssen. Ein letztes Mal drehte ich mich noch um, um mir den schmalen Gang anzusehen, aus dem wir gekommen waren. Und in diesem Moment wurde es mir klar. Ich kannte diesen Ort.
»Ich war hier schon einmal«, flüsterte ich kaum hörbar und drehte mich wieder zu Maya um, die mich ausdruckslos ansah.
»Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst nicht reden, wenn wir hier sind?«
»Ich war hier schon einmal«, wiederholte ich und ignorierte damit ihre gezischte Warnung. »In einem Traum. Ich habe meinen Bruder hier gesehen. Und meinen Vater. Meinen toten Vater. Es war genau hier, da bin ich mir sicher.«
»Es gibt viele Gänge wie diesen. Du solltest aber vor anderen nicht von deinen merkwürdigen Träumen sprechen, hörst du? Eigentlich solltest du überhaupt nicht sprechen.« Irgendetwas an ihrer Stimmlage irritierte mich und ich musterte sie nachdenklich, bis es mir endlich auffiel. Sie war nicht überrascht. Sie reagierte fast überhaupt nicht auf meine Aussage. Als wäre es vollkommen normal, dass ihr jemand erzählte, von einem unbekannten Ort geträumt zu haben, den man noch nie zuvor gesehen hatte und der doch existierte.
Unwillkürlich dachte ich daran, was es bedeuten würde, wenn mein Traum wirklich wahr wäre. Ich hatte geträumt, dass Felix entführt wurde, noch bevor es geschehen war und ich hatte diesen Ort gesehen, noch bevor ich überhaupt von seiner Existenz wusste. Was würde es bedeuten, wenn das alles gar keine Zufälle waren? Es war absurd, aber auch nicht viel absurder als die Existenz von blutsaugenden Wesen der Nacht. Könnten meine Träume bedeuten, dass nicht nur Felix an diesem Ort war, sondern auch mein Vater? Auch er war von den Vampiren entführt worden und es könnte gut sein, dass sie ihn genauso wie meinen Bruder hierher gebracht hatten. Vielleicht war mein Dad ja gar nicht tot. Vielleicht hatte er überlebt und wartete seit Jahren darauf, irgendwie von hier fliehen zu können.
Bevor ich meinen Verdacht jedoch laut äußern konnte, packte Maya meinen Arm und zog mich die Stufen hinunter. Erst wollte ich lautstark protestieren, hielt mich aber in letzter Sekunde zurück. Ich hatte eingewilligt, hier nichts zu sagen und ich hatte vor, dieses Versprechen so gut es ging zu halten. Außerdem vertraute ich ihr und glaubte fest, dass sie nur das Beste für mich wollte. Was hätte es auch für einen Sinn, mich erst zu retten und dann selbst in Gefahr zu bringen?
Ich hatte das Gefühl, dass wir endlos die Stufen hinunterstiegen. Wir waren mittlerweile mindestens hundert Meter unter der Erdoberfläche und ich versuchte, das aufkommende Gefühl der Platzangst zu verdrängen. Jetzt war der falsche Zeitpunkt, um deswegen Panik zu kriegen. Ich hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde, meinen Bruder zu finden. Trotzdem war es ein beunruhigendes Gefühl, so tief unter der Oberfläche zu sein.
»Wir sind so weit unter der Erde, damit wir nicht die Gefahr haben, dass mal die Decke einstürzt und wir uns plötzlich mitten in der Sonne befinden«, erklärte Maya mir leise. Sie schien meine Beklemmung bemerkt zu haben und ihre Worte lenkten mich tatsächlich ab. »Die Sonne tötet uns zwar nicht, aber sie ist nicht gerade angenehm für uns. Wir bevorzugen es, in der Dunkelheit zu leben, immerhin…«
Sie brach ab und kurz darauf sah ich auch den Grund dafür. Wir waren nicht mehr allein. Ein Vampir kam direkt auf uns zu.