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9 • Mein Schutzengel

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»Wieso was?«, fragte Maya nach. »Wieso ich auf deinen Vater höre? Er ist mein König, ich habe da keine große Wahl.«

»Aber genau das meine ich. Wieso ist mein Vater dein König? Das ist doch vollkommen wahnsinnig. Er ist nur ein ganz normaler Mensch, den ihr entführt habt. Und jetzt ist er plötzlich euer Anführer? Warum ausgerechnet er? Wie ist er das geworden?«

Einige Sekunden lang sah Maya mir in die Augen, als würde sie darüber nachdenken, wie sie mir das erklären sollte. Ich verstand nicht, was daran so schwer sein sollte. Was sollte mich jetzt schon noch schockieren? Sie könnte mir fast alles erzählen, und ich würde es einfach so hinnehmen. Was könnte schlimmer sein als mein tot geglaubter Vater, der ein durchgeknallter Vampirkönig geworden war und jetzt seine Kinder gefangen hielt? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so etwas gab. Wenn ich allerdings gewusst hätte, was Maya mir antworten würde, hätte ich das wohl anders gesehen.

»Dein Vater ist kein Mensch, Emilia. Das ist er noch nie gewesen.«

Voller Schock blickte ich in Mayas Augen, aber ich konnte kein einziges Anzeichen dafür erkennen, dass sie mich belog. Sie meinte es vollkommen ernst.

»Was soll das bedeuten?«, flüsterte ich und setzte mich auf das Bett. »Das ist doch ein Scherz. Ich habe vielleicht nicht viele Erinnerungen an Dad, aber ich würde es ja wohl wissen, wenn er sich von Blut ernähren würde. Mal ganz davon abgesehen, dass ich ihn gerade eben noch gesehen habe und er hatte sicher keine leuchtend roten Augen. Gehört das bei euch nicht irgendwie dazu?«

»Im Moment trägt er Kontaktlinsen, um deinem Bruder keine Angst zu machen«, erklärte sie mir leise und ich musste widerwillig zugeben, dass dieses kleine Detail tatsächlich Sinn machte. Seine Augen hatten nicht so strahlend blau gewirkt wie früher. Alles andere klang dennoch wie ein absurder Traum. Mein Vater, der Vampirkönig? Das klang wie der Anfang eines schlechten Romans.

»Er ist ein Nachtwandler, einer von uns. Wenn du länger Zeit mit ihm verbringst und ihn dir genauer ansehen kannst, wird dir das ziemlich schnell klar werden. Aber du hast recht, er war nicht immer ein Nachtwandler. Das war niemand von uns. Wir alle sind Menschen, die irgendwann verwandelt wurden. Dein Vater ist erst vor einigen Jahren so geworden. Aber auch davor war er kein normaler Mensch. Er war ein Seher. Deshalb ist er damals auch entführt worden.«

»Ein Seher?«, wiederholte ich leise und versuchte, das alles zu verarbeiten. Was sollte ein Seher sein?

»Ja, ein Seher. Jemand, der in seinen Träumen die Zukunft sehen kann.«

Eine Zeit lang starrte ich Maya an und fing dann an zu lachen. Mir war klar, dass ich vollkommen hysterisch klingen musste, aber ich konnte nicht damit aufhören. Ich hatte heute Nacht schon vieles gesehen und gehört, was ich für unmöglich gehalten hatte, aber das hier übertraf wirklich alles. Mein Vater konnte in die Zukunft sehen? Und deswegen war er von Vampiren entführt worden, in eine Höhle, in der er dann zum Vampir geworden war, um sich selbst zum König zu krönen? Etwas Lächerlicheres hatte ich noch nie gehört.

Und trotzdem konnte ich nicht wirklich daran zweifeln, denn auf eine merkwürdige, verdrehte Art machte das alles sogar Sinn. Ich versuchte, mich zu beruhigen, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Am Rande bemerkte ich, wie Maya sich neben mich setzte, doch ich konnte nicht darüber nachdenken, was das zu bedeuten hatte, weil mein hysterisches Lachen langsam in ein Schluchzen überging. Tränen liefen über meine Wangen und ich rang nach Luft. Dieses erdrückende Gewicht auf meiner Brust wollte einfach nicht leichter werden. Ich hatte das Gefühl, dass alles hier mich ersticken würde.

Plötzlich legte Maya vorsichtig einen Arm um mich und zog mich sanft näher an sich. Wahrscheinlich tat sie das nur, weil sie sonst Ärger mit meinem Vater kriegen würde, aber es war mir egal. Ihre Nähe beruhigte mich tatsächlich ein wenig, also lehnte ich mich nur gegen sie und schloss meine Augen. Auch wenn sie mir heute nicht immer alles erzählt hatte, hatte sie mich doch nie belogen, nie hintergangen. Sie hatte mich sicher zu meinem Bruder gebracht wie sie es versprochen hatte. Sie hätte mich auch wieder nach Hause gebracht, wenn ich nicht so stur gewesen wäre und darauf bestanden hätte, nicht ohne Felix zu gehen. Ich vertraute ihr, zumindest mehr als irgendwem sonst in diesen Höhlen. Sie hatte mich bisher immer beschützt und das würde sie auch jetzt tun. Bei ihr war ich sicher.

Langsam beruhigte ich mich wieder und löste mich beschämt von Maya. Schnell strich ich mir meine Tränen aus dem Gesicht, als ob das meinen Gefühlsausbruch gerade auslöschen könnte.

»Tut mir leid, so etwas passiert mir normalerweise nicht«, murmelte ich und fuhr durch meine Haare. Etwas Peinlicheres hätte mir wohl kaum passieren können. Und das ausgerechnet vor Maya. Eigentlich sollte ich ihr Vorwürfe machen, dass sie mich hier gefangen hielt, und mich nicht an ihr festklammern wie eine hilflose Jungfrau in Nöten. Das war einfach nur erbärmlich und so wollte ich nicht sein. Aber wie es aussah, war sie die einzige hier, der ich zumindest ansatzweise vertrauen konnte. Wie könnte ich ihr Vorwürfe machen, wenn ich selbst doch diejenige war, die unbedingt hierhin gewollt hatte? Sie hatte mir oft genug die Möglichkeit gegeben, umzudrehen. Sie hatte mich gewarnt, aber ich hatte nicht auf sie hören wollen. Dass ich jetzt hier festsaß, war allein meine Schuld. Und natürlich die meines sogenannten Vaters.

»Ist schon okay. Man erfährt ja nicht jeden Tag, dass der eigene Vater kein Mensch ist und jetzt einen Haufen Nachtwandler anführt«, antwortete sie lächelnd, was mich ein wenig zum Lachen brachte. Sie klang so, als hätte sie wirklich Mitleid mit mir, und trotzdem versuchte sie, mich aufzumuntern.

»Erklärst du mir, was genau ein Seher ist? Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich. Hauptsächlich, um mich dadurch abzulenken.

»Genau das, wonach es klingt. Dein Vater konnte in die Zukunft sehen, deswegen war er für unseren damaligen König äußerst wertvoll. Sobald der von seiner Gabe erfahren hatte, ließ er ihn entführen. Einige Jahre lebte dein Vater hier bei uns und wurde zum engsten Vertrauten des Königs. Er hat zwar oft versucht, von hier zu fliehen, aber wurde immer zurückgeholt. Und irgendwann ist der König gestorben und hat deinen Vater als seinen Nachfolger ernannt. Er hatte ihn verwandelt und seitdem ist Nikolai unser Oberhaupt. Einige Zeit lang war es schwer für ihn, von den Ältesten akzeptiert zu werden, aber mittlerweile hat er selbst das geschafft. Das einzige, was ihm jetzt noch fehlt, um endgültig keine Feinde mehr zu haben, ist…«

Maya hielt inne und sah mich an, als würde sie darüber nachdenken, welche Lüge sie mir glaubhaft erzählen konnte.

»Was?«, fragte ich fest. »Komm schon, Maya, ich sehe vielleicht gerade nicht so aus, aber ich werde schon damit fertig. Was fehlt ihm noch?«

Leise seufzte sie auf, antwortete mir dann aber nach einigen Sekunden endlich. »Ein Seher. Er braucht einen eigenen Seher, der ihm die Zukunft voraussagt. Diese Gabe ist äußerst selten, beinahe unmöglich zu finden. Sie kommt nur bei einem Menschen unter Tausenden vor. Aber es ist eine Gabe, die in der Familie liegt. Sie wird immer an die nächste Generation vererbt. Deswegen ist dein Bruder hier. Er soll der Seher deines Vaters werden.«

Schockiert sah ich Maya an. »Mein Bruder? Mein kleiner Bruder soll in die Zukunft sehen können und deswegen unseren Vampirvater beraten?«

Das klang absurd, aber irgendetwas in mir sagte, dass es stimmen musste. Hatte ich nicht selbst letztens noch bemerkt, dass Felix mit seinem Bauchgefühl immer richtig lag? Er wusste, wann ich mich nach draußen geschlichen hatte und jedes Mal, wenn er Albträume hatte, war am nächsten Morgen jemand aus unserem Umfeld in der Nacht verschwunden. Ich hatte ihn immer nur für sehr sensibel gehalten, aber vielleicht war es wirklich möglich, dass er die Zukunft spüren konnte.

»Ja, das ist wahr. Dein Vater hat lange mit sich gerungen, ob er das wirklich tun sollte. Er wollte euch Felix nicht einfach wegnehmen. Aber du musst auch ihn verstehen. Er hat seinen Sohn vermisst. Er hat euch beide vermisst.«

»Wenn das der einzige Grund wäre, hätte er ja einfach mal vorbeikommen können«, antwortete ich bissig. Mein Vater hatte uns also vermisst? Er hatte kein Recht dazu. Jahrelang hatten wir ihn für tot gehalten und er hatte es nicht nötig gehabt, uns auch nur den kleinsten Hinweis zu geben, dass er noch lebte. Er war selbst schuld, dass er nicht bei uns gewesen war.

»Das hätte er nicht. Nachtwandler dürfen sich nicht einfach so einem Menschen zeigen, das ist durch das Abkommen klar geregelt. Deswegen gibt es doch die Ausgangssperre, für beide Seiten. Um eine Massenpanik bei den Menschen zu verhindern. Und wenn ihr gewusst hättet, was euer Vater war, hättet ihr das nicht lange verheimlichen können. Man hätte angefangen, Fragen zu stellen und ihr wärt in Gefahr gewesen. Es ist eine Sache, wenn ich oder ein anderer unbedeutender Nachtwandler auch mal tagsüber nach draußen gehen, solange wir nicht erkannt werden. Aber wenn der König bewusst das Abkommen bricht, nur um seine Familie zu sehen, hätte das einen Krieg auslösen können.«

Nachdenklich sah ich Maya an, merkte aber selbst, dass sie recht hatte. Mein Dad hatte tatsächlich keine Möglichkeit gehabt, uns zu sehen oder irgendwie zu kontaktieren. Doch das gab ihm noch lange nicht das Recht, meinen kleinen Bruder zu entführen.

»Er ist trotzdem nicht der liebende Vater, den du gerade beschreibst. Felix schien zufrieden zu sein, dass er bei seinem Dad ist, aber er versteht nicht, was das für Konsequenzen hat. Er weiß nicht, dass er für immer hier bleiben soll. Und selbst wenn er das wollen würde, ich will es nicht. Ich bin gegen meinen Willen hier gefangen, ich möchte doch nur Felix nehmen und von hier weg.«

»Ich verstehe dich, das tue ich wirklich. Aber auch wenn du deinen Vater jetzt für ein Monster hältst, das ist er nicht. Weißt du, was er im Thronsaal gesagt hat, als ich vorgeschlagen habe, dass ich dich wieder fortbringen könnte?«

Ich schüttelte den Kopf, konnte mir aber einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. »Ich weiß nicht. Hat er vielleicht gesagt, dass es viel sinnvoller ist, mich hier gefangen zu halten und mich von meinem Bruder fernzuhalten?«

»Nein, das hat er nicht. ley mel menáma. Sie ist meine Tochter. Das waren seine Worte. Er hat dich seit Jahren zum ersten Mal wiedergesehen und er konnte es nicht übers Herz bringen, dich sofort wieder wegzuschicken. Er liebt dich, Emilia, auch wenn du das im Moment nicht siehst. Du hast vielleicht das Gefühl, ihn überhaupt nicht mehr zu kennen, aber ich kann dir versichern, dass er sich nicht großartig verändert hat. Nach außen hin muss er so tun, als würde ihn sein vergangenes Leben nicht mehr interessieren, aber ich weiß, wie es in seinem Inneren aussieht. Ich bin eine der wenigen, denen er wirklich vertraut und er hat mir schon vor Jahren aufgetragen, ein Auge auf euch zu haben, und euch zu beschützen, wenn es nötig sein sollte. Er wollte immer nur das Beste für euch.«

Ich öffnete meinen Mund, um Maya zu widersprechen und ihr zu sagen, dass uns zu beschützen nicht das Gleiche war wie für uns da zu sein. Dann hielt ich aber inne und dachte noch einmal über ihre Worte nach. »Er hat dir aufgetragen, ein Auge auf uns zu haben?«

»Ja, das hat er. Meistens bestand das nur daraus, nachts in der Nähe eures Hauses zu bleiben und darauf aufzupassen, dass kein anderer Nachtwandler in eure Nähe kommt. Eigentlich wäre das kein Problem gewesen, aber du hast mir schon ziemliche Schwierigkeiten bereitet, wenn du mal wieder mitten in der Nacht durch die Stadt spazieren wolltest.«

Maya grinste mich an, als wäre das ein lustiger Witz zwischen uns beiden, aber ich konnte mich nicht zu einem Lächeln überwinden. »Das heißt, du hast mich jedes Mal verfolgt, wenn ich nachts das Haus verlassen habe?«

Sie merkte, dass ich das nicht gerade lustig fand, und fing unterbewusst an, mit ihren Haaren zu spielen. Irgendwie war das süß, diese Geste ließ sie menschlicher wirken.

»Ja, meistens habe ich das. Schließlich hast du dich immer wieder freiwillig in Lebensgefahr begeben, ohne das zu wissen. Irgendjemand musste ja auf dich aufpassen. Was denkst du, warum du jahrelang fast jede Nacht draußen warst und trotzdem nie verletzt wurdest? Es war ziemlich schwer, alle Nachtwandler abzulenken, um sie von dir fernzuhalten, aber du kannst mir glauben, dass ich dir mehr als einmal das Leben gerettet habe.«

Ich wollte mich schon bedanken, dann kam mir aber ein Gedanke und ich legte fragend den Kopf schief. »Dann warst du also da, als ich in der letzten Nacht verfolgt wurde? Hast du absichtlich nicht eingegriffen, um mir eine Lehre zu erteilen? Damit ich nicht mehr nachts nach draußen gehe? Oder warst du es, die mich verfolgt hat?«

Sofort schüttelte Maya den Kopf, als wäre ihr das nie in den Sinn gekommen und so eine Vermutung völlig absurd. »Nein, selbstverständlich war ich das nicht! Es war keine Absicht, dir so einen Schrecken einzujagen. Ich war nur in der Nacht zu spät da und wusste deshalb nicht, wo du hingegangen warst. Der Mann, der dich verfolgt hat, war Raúl. Er hat dich schon fast gehabt, als ich dich endlich gefunden habe. Wenn diese Katze nicht gewesen wäre, die ihn abgelenkt hat, wäre ich vielleicht sogar schon zu spät gewesen. Aber so konnte ich ihn noch davon überzeugen, dass du mittlerweile aus der Gasse gerannt bist und er deshalb in die andere Richtung laufen müsste.«

»Oh. Danke«, murmelte ich und sah auf meine Hände. Daran hätte ich auch denken können. Sie hatte mir so oft das Leben gerettet. Vor meinem Verfolger in der Nacht hatte ich panische Angst gehabt, doch bei Maya war es anders. Es war ein merkwürdiges Gefühl, aber bei ihr fühlte ich mich sicher. Als würde ich sie schon seit Ewigkeiten kennen.

»Danke? Wofür?«, fragte Maya mich ehrlich verwirrt, woraufhin ich ihr doch ein leichtes Lächeln schenkte.

»Na ja, du hast mir das Leben gerettet. Scheinbar mehr als nur einmal. Also sollte ich mich wohl bei dir dafür bedanken.«

»Oh, natürlich. Habe ich gerne gemacht.« Ein verlegenes Schweigen breitete sich zwischen uns aus, bis Maya mich leicht grinsend von der Seite ansah. »Ich hoffe, du leidest jetzt nicht unter Verfolgungswahn. Als ich dich heute nach deiner Arbeit beobachtet habe, hast du so ausgesehen, als würdest du gleich den Verstand verlieren. Ich wollte eigentlich nur sehen, ob es dir nach dieser Nacht noch gut ging, aber ich hätte wohl ein wenig unauffälliger sein müssen.«

Leise lachte ich auf, als sie das sagte und fuhr durch meine Haare. »Ja, ich habe zwischenzeitlich wirklich geglaubt, ich würde verrückt werden. Gut, dass ich mich da geirrt habe.« Also hatte ich mir die Frau im Schatten doch nicht eingebildet, das war schon mal eine Erleichterung. Einerseits war der Gedanke, dass sie mich seit Jahren verfolgte, ziemlich gruselig und hätte mich wahrscheinlich abschrecken müssen. Aber andererseits war es auch beruhigend zu wissen, dass sie immer da gewesen war und auf mich aufgepasst hatte. Was auch immer der Grund dafür war, ich konnte mich nicht vor Maya fürchten. Sie hatte mir schon so oft mein Leben gerettet, ohne dass ich es auch nur bemerkt hatte. Mein ganz persönlicher Schutzengel.

Melya

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