Читать книгу Melya - Larissa Mücke - Страница 11
3 • Im Licht einer Laterne
ОглавлениеSchwer atmend schlug ich die Augen auf und brauchte einige Sekunden, um mich zurechtzufinden. Erst als ich realisierte, dass ich tatsächlich noch immer in meinem Bett lag, beruhigte sich mein Herzschlag ein wenig und ich atmete tief durch. Erschöpft richtete ich mich auf und fuhr mir durch die Haare. Ich war zwar gerade eben erst aufgewacht, aber fühlte mich genauso müde wie vorher. Vielleicht war ich sogar noch ausgelaugter als zuvor. Nie war Schlaf so wenig erholsam gewesen. Und zu allem Überfluss wollte mir mein Traum einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Ich konnte mich nur selten an meine Träume erinnern, meist verblassten sie schon beim Aufwachen, doch das gerade war anders gewesen. Es hatte sich so viel realer angefühlt als all meine Träume bisher und ich konnte mich an jedes noch so kleine Detail erinnern. Nur wieso träumte ich von meinem Vater? Er war seit zehn Jahren verschwunden und ich hatte in den letzten Jahren kein einziges Mal von ihm geträumt. Wieso also jetzt? Und wie kam mein Unterbewusstsein auf die absurde Idee, dass mein kleiner Bruder alleine irgendwo bei diesen gruseligen Männern aus der Dunkelheit sein könnte? So viele Fragen, auf die ich keine Antwort finden konnte, egal wie sehr ich darüber nachdachte. Das alles machte einfach keinen Sinn.
Ich wusste ja nicht einmal, wieso ich mir überhaupt so viele Gedanken deshalb machte. Es war nur ein Traum, nichts weiter. Menschen träumten andauernd und nur selten war es etwas Sinnvolles. Ich sollte das nicht hinterfragen. Es wäre auf jeden Fall das Beste, wenn ich es nicht weiter hinterfragen würde. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas an diesem Traum mir etwas sagen wollte. Als ob es eine tiefere Botschaft geben würde, die ich einfach nur übersah. Ein Rätsel, das ich nicht fähig war zu lösen.
Frustriert seufzte ich auf und fuhr durch meine Haare, während ich mich langsam aufsetzte. Dieser Traum hatte eine Bedeutung, das spürte ich tief in meinem Inneren. Ich hatte nur keine Ahnung, welche Bedeutung das sein könnte. Die einzig logische Erklärung, die mir im Moment einfiel, war, dass ich wirklich verrückt geworden war und mir das nagende Gefühl, etwas zu übersehen, nur einbildete. Es wäre nicht die schlechteste Erklärung. Zumindest deutlich logischer als die Möglichkeit, dass meine Träume mir irgendetwas mitteilen wollten.
Seufzend stand ich auf und richtete meine Kleidung. Ich hatte es nicht einmal mehr geschafft, mir etwas anderes anzuziehen, bevor ich eingeschlafen war. Mein neuer persönlicher Tiefpunkt. Ich wollte gerade in die Küche gehen, um zu sehen, wie weit Mom schon mit dem Essen war, als ich plötzlich einen gellenden Schrei hörte.
Für eine Sekunde erstarrte ich, als ich die Stimme meiner Mutter erkannte. Sie hatte sich sonst immer unter Kontrolle, so panisch hatte ich sie noch nie gehört.
Nein, das war nicht wahr. So panisch hatte ich sie schon einmal gehört, aber erst ein einziges Mal in meinem Leben. Und zwar an dem Tag, an dem mein Vater verschwunden war.
Sobald ich mich wieder bewegen konnte, rannte ich los und bemerkte zu meinem Entsetzen, dass der Schrei aus dem Zimmer meines Bruders gekommen war. Die Tür war nur ein wenig angelehnt und ich schob sie vorsichtig ein Stück weit auf.
»Mom?«, flüsterte ich und betrat langsam das Zimmer. »Mom, was ist los?«
Im Licht einer Laterne, das von der Straße durch das offene Fenster fiel, erkannte ich meine Mutter, die vor dem Kinderbett kniete, den Kopf gesenkt. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht und ihre Schultern bebten. Außer ihrem erstickten Schluchzen war kein Laut zu hören. Vorsichtig ging ich einige Schritte auf sie zu und legte sanft meine Hand auf ihren Rücken.
»Mom, sag mir, was los ist«, forderte ich und sie wandte mir langsam ihr Gesicht zu. In der Sekunde, in der ich in ihre vor Schreck geweiteten Augen blickte, wurde es mir klar. Noch bevor sie die grausamen Worte aussprechen konnte, wusste ich, was geschehen war.
»Sie haben Felix geholt.«
Ich sah meiner Mutter in die Augen und schüttelte den Kopf, auch wenn ich diese Antwort bereits erwartet hatte.
»Nein, das kann nicht sein!« Mein Blick fiel auf das unberührte Bett meines Bruders und ich sank neben meiner Mutter auf die Knie. Die Last auf meiner Brust wurde einfach zu groß. Er konnte nicht entführt worden sein, das durfte einfach nicht wahr sein. Aber meine Mutter antwortete mir nicht, sie starrte nur weiter wie betäubt auf seine Bettdecke, als könnte ihn das zurückholen. Fast erwartete ich, dass sie sich zu mir umdrehte und Felix lachend ins Zimmer kam, um mir zu erzählen, dass sie mich nur reingelegt hatten. Aber nichts dergleichen geschah, und meine Mutter starrte nur an den Ort, an dem Felix eigentlich sein sollte. Das hier war kein misslungener Streich, das hier geschah wirklich.
»Wer hat ihn geholt, Mom?«, fragte ich sie eindringlich, während ich mich aufrichtete. »Wer sind sie? Wer hat Felix geholt?«
Langsam riss meine Mutter ihren Blick vom leeren Kinderbett los und sah in meine Augen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber nur ein Schluchzen heraus.
Tief atmete ich durch, um sie nicht anzubrüllen und legte dann vorsichtig meinen Arm um sie, während ich beruhigend auf sie einredete. »Okay, ist schon gut. Wir gehen jetzt in die Küche und ich mache dir einen Tee. Und dann verrätst du mir, was du weißt. Du musst mir alles erzählen, damit ich Felix zurückholen kann.«
Die Entscheidung hatte ich bereits in dem Moment getroffen, in dem mir klar geworden war, dass mein Bruder verschwunden war. Es war mir egal, dass ich keinen einzigen Anhaltspunkt hatte. Es war mir egal, dass es draußen dunkel war. Es war mir egal, dass ich mich dadurch in Gefahr brachte. Das hatte mich noch nie abhalten können. Es hatte endlich einen Sinn, dass ich mich in der Nacht so gut auskannte. Als hätte ich mein Leben lang gewusst, dass dieser Moment kommen würde.
»Nein, das kannst du nicht tun!«, rief meine Mutter überraschend fest. »Das ist viel zu gefährlich!«
»Mom, du weißt, dass ich schon häufig auch nach der Ausgangssperre draußen war. Häufiger als du es vielleicht vermutest. Und ich wurde noch nicht ein einziges Mal dabei erwischt. Die Dunkelheit wird mich nicht aufhalten.«
»Das ist es nicht, worum ich mir Sorgen mache. Da draußen sind… Da geschehen Dinge, von denen du keine Ahnung hast. Die vielen Vermissten, die vielen Toten. Das ist alles kein Zufall, das wirst du doch gemerkt haben. Sie haben ihn geholt. Ich habe schon deinen Vater an sie verloren und jetzt deinen Bruder. Ich werde nicht zulassen, dass ich auch noch dich verliere.«
Überrascht weiteten sich meine Augen. Was meinte sie damit, sie hätte meinen Vater an »sie« verloren? Wenn mein Vater im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Felix stand… Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was das über meinen Traum aussagen könnte. Hätte ich das alles verhindern können? Mir war klar, dass selbst der Gedanke schon absurd war, aber vielleicht war dieser Traum doch mehr als nur ein Traum gewesen.
»Was soll das heißen?«, fragte ich leise. »Was weißt du über diese Wesen da draußen? Weißt du, was sie sind? Weißt du, warum sie diese Fähigkeiten haben?«
Dieser Mann, der mich letzte Nacht verfolgt hatte, war definitiv kein Mensch gewesen. Und so wie meine Mutter über die Wesen in der Dunkelheit sprach, schien auch sie genau zu wissen, dass sie alles andere als menschlich waren. Sie wusste mehr, als sie bislang immer zugegeben hatte. Aber jetzt gerade beunruhigte sie etwas anderes an meinen Fragen.
»Woher weißt du, was für Fähigkeiten sie haben? Hast du etwa einen von ihnen gesehen?« Meine Mutter wurde immer panischer, aber darauf konnte ich keine Rücksicht mehr nehmen. Nicht jetzt.
»Ja, das habe ich. Aber bitte, Mom, du musst dich jetzt konzentrieren. Erzähl mir, was du weißt. Und zwar alles. Für Felix.«
Ich spürte, wie meine letzten Worte etwas in ihr auslösten. Klar, sie liebte mich, aber ihre Beziehung zu ihrem jüngsten Kind war noch etwas anderes. Etwas, was ich nie mit ihr haben würde. Was ich nie auch nur verstehen würde. Sie würde ausnahmslos alles für ihren Sohn tun, auch wenn sie dafür stark sein musste, in dem Moment, in dem sie es am wenigsten konnte.
»Ich weiß selbst nicht sehr viel«, fing sie leise an, ohne mich ansehen zu können. »Die Regierung will nicht, dass wir etwas erfahren. Vermutlich um eine Massenhysterie zu vermeiden, deshalb gibt es auch die Ausgangssperre. Die meisten stellen keine Fragen darüber, aber in meinem Job höre ich immer wieder Gerüchte. Geflüster über die Geschöpfe der Nacht. Ich selbst habe sie nie geglaubt, habe sie immer für Ammenmärchen gehalten, bis dein Vater eines Nachts verschwand. Ich habe es gesehen, ich habe alles mit angesehen. Er stand am offenen Fenster, wollte nur ein wenig frische Luft schnappen, und plötzlich hat ihn jemand nach draußen gezogen. Was auch immer das war, es ist drei Stockwerke hoch gesprungen, nur um Nik aus unserer Wohnung zu ziehen. Ich bin sofort hingerannt, aber da waren sie schon weg. So schnell kann kein Mensch rennen. Seitdem habe ich deutlicher hingehört, wenn ich Geschichten gehört habe. Ich weiß nicht, was wahr ist und was nicht, aber ich habe mir meinen Teil zusammengereimt. Es sind mehrere von ihnen und sie zeigen sich nur in der Dunkelheit, deswegen sind wir am Tag meistens sicher. Aber in der Nacht regieren sie auf den Straßen und wenn sie einen Menschen finden, ist er für sie Freiwild. Sie tun ihm unaussprechliche Dinge an. Die Leichen, die wir bei unserer Arbeit gefunden haben, waren immer vollkommen entstellt und bis auf den letzten Tropfen blutleer. Sie waren nur noch leblose Hüllen.« Ihre Stimme brach, während sie mich mit Tränen in den Augen ansah. Ich habe sie noch nie mit so viel Hass in ihrer Stimme sprechen hören. »Und nun haben sie sich Felix geholt.«
»Ich kann ihn zurückholen.«, antwortete ich leise, aber fest. Meine Mutter öffnete sofort den Mund, um mir zu widersprechen, aber ich ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Mom, es hat endlich einen Sinn, dass ich so häufig nachts draußen war. Ich kenne mich dort draußen aus, ich weiß, wo ich nach Hinweisen suchen muss. Du wirst mich nicht aufhalten können. Ich kann und werde Felix zurückholen. Vielleicht weiß ich sogar, wo er sein wird, zumindest habe ich eine Vermutung.«
Meine Mutter sah mich überrascht an, nickte dann aber stumm mit dem Kopf. Sie wollte nicht, dass ich mich in Gefahr brachte, aber die Hoffnung, dass ich Felix wirklich zurückbringen könnte, siegte schließlich über ihre Angst um mich. Und ich war mir sicher, dass ich wirklich wusste, wo ich anfangen musste, nach meinem Bruder zu suchen.
Es gab ein Gebäude in der Stadt, das ich schon immer gemieden hatte, seit ich das erste Mal nachts nach draußen gegangen war. Eine alte Lagerhalle, am Rande der Stadt. Äußerlich unterschied sie sich nicht sonderlich von anderen Lagerhallen, aber wann immer ich auch nur in die Nähe dieses Ortes gekommen war, hatte mein Bauchgefühl mich stets dazu gebracht, sofort wieder umzukehren. Ich hatte es mir nie erklären können, aber jetzt machte es für mich sogar fast Sinn. Ich musste unbewusst die Anwesenheit dieser Wesen bemerkt haben. Ich hatte gespürt, dass irgendetwas an diesem Ort falsch war, so wie ich heute gespürt hatte, dass die Frau auf der Straße nicht normal sein konnte. Mein Gefühl war natürlich noch lange kein Grund, warum Felix wirklich an diesem Ort sein sollte, aber es war ein guter Ort, um mit meiner Suche nach ihm anzufangen. Vielleicht war Felix nicht der einzige in der Familie, der sich auf sein Bauchgefühl verlassen konnte.
»Versprich mir, dass du auf dich aufpassen wirst«, flüsterte meine Mutter und sah mir in die Augen. »Versprich mir, dass du gesund zu mir zurückkommen wirst.«
Zögernd sah ich meine Mutter an. Ich gab eigentlich nie Versprechen, von denen ich mir nicht sicher war, dass ich sie halten konnte. Aber wahrscheinlich würde sie mich gar nicht erst gehen lassen, wenn ich sie jetzt nicht beruhigen konnte.
»Ich verspreche dir, ich werde alles dafür tun, dass Felix schon bald wieder bei dir sein wird. Uns beiden wird nichts passieren.«
»Du klingst wie dein Vater, er war auch immer so unglaublich mutig«, flüsterte sie leise und sah mich mit einem so traurigen Lächeln an, dass ich sie schnell umarmte, bevor ich mir das Ganze doch noch einmal überlegte.
»Ich hab dich lieb, Mom«, murmelte ich und sie drückte mich so fest an sich, dass ich mir für einen Moment sicher war, sie würde mich nie wieder loslassen.
»Pass auf dich auf, Emilia.«
Tief atmete ich durch und löste mich dann von ihr. Ich wollte noch etwas sagen, aber ich fand keine Worte. Es war alles gesagt worden, jedes weitere Wort wäre nur eine leere Phrase. Also drehte ich mich um und griff nach meiner Jacke, bevor ich unsere Wohnung verließ. Ich würde meinen Bruder zurück nach Hause bringen, und nichts würde mich davon abhalten.