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11.

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imon! Wo bist du?“

Ich eilte in den Kreuzgang. Unvermittelt traf mich von der Seite ein Stoß und riss mich beinahe zu Boden. Die Decken, das Buch und das Verbandszeug glitten mir aus den Händen. Ich ruderte mit den Armen. Sah auf den, der mich angerempelt hatte.

„Tut mir leid – aber wie kommst du auch aus dem Gang gerannt!“ Simon erwiderte meinen Blick halb vorwurfsvoll, halb besorgt. Alessio streunte hechelnd zwischen uns umher. Der Junge hatte einen prall gefüllten Beutel geschultert, unter dessen Last er deutlich in die Knie ging. Sein Blick glitt von mir weg auf die Sachen, die ich über den Boden verstreut hatte. „Da ist ja meine Bibel!“, stutzte er.

„Sie ist auch der Grund dafür, warum ich so gerannt bin“, erklärte ich. „Sieh’ nach, ob sie noch in deinem Bündel ist!“

„Aber sie liegt doch dort – wie, wie kann …“

„Sieh nach! Sofort!“

Simon leistete endlich Folge. Erst nahm er den dicken Beutel von seinen Schultern, dann das Bündel, in dem seine Habseligkeiten waren. Nachdem er mit verengten Augen in ihm herumgewühlt hatte, schüttelte er den Kopf. „Nein. Sie ist nicht drin. Wie sollte sie auch? Sie liegt ja da!“

Er wollte sie aufheben, aber ich schlug seine Hand weg und nahm sie selbst an mich. Er starrte mich irritiert an. In seinen Augen züngelte eine Spur von Zorn.

„Ich erkläre dir alles, wenn wir hier raus sind“, sagte ich, während ich die Decken und das Verbandszeug von den Fliesen auflas. Mein Blick fiel auf den düsteren Gang, aus dem ich gekommen war. Es schien mir, als würde seine Finsternis nach mir schnappen wie ein Raubtier. Wir mussten hier fort. Auf der Stelle.

Du fliehst, Lucien? Fliehen, seit Jahrzehnten immer nur fliehen! Wann wirst du begreifen, Verdammter, dass du vor mir nicht fliehen kannst? Du kannst vielen Dingen entkommen, nicht aber vor deiner Schuld. Und ich bin sie, Lucien, ich bin sie. Ich bin deine Schuld.

„Ich … Du … Verdammt, was ist los?“

Simon stand so reglos da wie eine Heiligenstatue. Ich packte ihn am Arm und zerrte ihn mit mir. „Komm schon! Komm schon!“

Auch Alessio spürte meine Unruhe und bildete die bellende Nachhut. Wir durchquerten den Kreuzgang und betraten die angeschlossene Kirche durch die Sakristei. In dem schmalen Raum residierte der süßlich-brennende Geruch von abgestandenem Messwein. Die liturgischen Gewänder und Paramente hingen an der Wand. Die Ablage vor ihnen war allerdings leer. Ich schätzte, die wertvollen Kelche, Hostienschalen und Leuchter waren entweder von den Mönchen mitgenommen oder von Plünderern geraubt worden.

Im Kirchenschiff herrschte Finsternis. Nur die winzigen Bleiglasfenster leuchteten sanft im Dunkelblau der nahenden Nacht. Ein kaum wahrnehmbarer und dennoch penetranter Weihrauchduft lag in der Luft. Durch die Empore des Chors liefen wir bis zum Altar, ein rechteckiger Schemen im Angesicht der Schwärze.

„Ich habe Zunder und Feuerstahl im Keller gefunden. Ich mache uns erst einmal Licht“, verkündete Simon.

Ich merkte, dass ich mich langsam entspannte. Im Hause Gottes, umgeben von seinen Heiligen, konnte Baphomet mir vorerst nichts anhaben. Nur ein wenig Licht wäre jetzt noch gut.

„Warum zündest du das Feuer nicht endlich an?“, fragte ich meinen Begleiter.

„Dafür müsstest du erst mal meinen Arm loslassen, verdammt!“

„Oh.“

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich den Oberarm des Jungen immer noch umklammert hielt. Mich räuspernd ließ ich ihn los, kam mir vor wie ein kleines, ängstliches Kind.

„Dann wäre da noch ein weiteres Problem: Wo nehmen wir das Holz her?“

Grinsend deutete ich in die Kirche hinein. „Das Holz steht da vor uns. Sogar massenweise.“

Wie in den meisten Dorfkirchen waren die Bänke hier ohne Lehnen oder irgendwelche Verzierungen. Es bereitete mir keine größere Mühe, eine von ihnen mit meinem Schwert in mehrere Spalte zu zerhacken. Wir schichteten das Holz vor dem Altar aufeinander und Simon holte den Feuerstahl hervor, ein gebogenes Stück Bandeisen mit rauer Kante.

Er klemmte den Zunder unter den Stahl und begann, mit einem Flint gegen ihn zu schlagen, bis Funken aus ihm sprühten und den Zunder in Brand setzten. Schließlich steckte er die glühenden und rauchenden Reste von Feuerschwamm, Holzmehl und Stoffresten in die Holzspalten. Wir setzten uns auf den Boden, die Rücken gegen den Altar gelehnt, und beobachteten, wie die Flammen immer höher schlugen. Alessio streckte sich zu unseren Füßen aus und gab ein behagliches Gähnen von sich. Das Knistern des Feuers vertrieb die erdrückende Stille, sein Schein und seine Wärme beruhigten mein rastloses Herz.

„Was sollte diese plötzliche Flucht?“ Simon wandte mir den Kopf zu. „Und warum können wir nicht im Dormitorium schlafen?“

„Sie hatten es zu einem Krankenlager gemacht. Die Betten waren allesamt … nun … belegt.“

„Verstehe. Was ist mit meiner Bibel? Ich verstehe das immer noch nicht.“

Du verstehst es ebenso wenig wie ich selbst, dachte ich und starrte in das Flammenzüngeln vor uns, ein Tanzbankett lodernder Dämonen.

Unweigerlich musste ich an Baphomet denken. „Glaubst du, dass Gott uns gnädig ist? Dass es Erlösung gibt von unseren Sünden?“, fragte ich.

„Was hat das jetzt mit meinem Buch zu tun?“ Simon knabberte an einem Laib Brot, den er aus seinem Beutel geholt hatte.

„Ich verstehe es selbst nicht, mein Sohn. Mach’ dir keine Sorgen darum. Und wundere dich nicht, es steht etwas anderes auf den Seiten. Wir sind im Pestland. Hier wird man wohl so manche Unglaublichkeit akzeptieren müssen.“

Simon hob die Augenbrauen. „Sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“

Mein Magen schaltete sich knurrend in das Gespräch ein. Ich ignorierte seine Frage. „Was hast du eigentlich aus der Vorratskammer ergaunert?“

„Brot“, sagte Simon kauend. „Und Aale, ein ganzes Fass voller Aale.“

„Gott segne die Fastenzeit“, seufzte ich, griff in den Beutel und holte einen der glitschigen Fische hervor. Ich spießte ihn auf der Schwertklinge auf und röstete ihn über dem Feuer, brach Brot ab und holte mir etwas von dem Messwein. Wir aßen schweigend, fast schon andächtig. In Zeiten der Pest lernte man nur allzu schnell, Stunden der Ruhe voll auszukosten.

Als wir uns die Finger ableckten und das Feuer bereits halb heruntergebrannt war, sagte Simon: „Ich glaube, Gott vergibt nur selten. Das, was geschehen ist, ist seine Strafe. Für all den Krieg und die Ketzerei. Nichts von Vergebung. Aber wir müssen sie erlangen können, er muss erlösen, sonst wäre Gott ja nicht Gott. Wir müssen eben nur Reue zeigen, Buße tun. Wahrhaftige Reue und Buße.“

Ich nickte bedächtig.

Reue und Buße.

Wie oft hatte ich Buße getan? Wie oft hatte ich bereut? Das einzige, was ich noch nicht getan hatte, war den Flagellanten beizutreten und mich selbst mit Peitschenschlägen auf Brust und Rücken zu kasteien. Ich wollte meine Schuld begleichen, um im Angesicht unseres Herrn Jesus Christus den Blick aufrecht halten zu können.

„Ich tue meine Buße, Simon. Ich will diesen Alchemisten finden und den Menschen mit seinem Mittel helfen. Dann möge Gott mich von meiner Schuld erlösen.“

„Er wird es tun“, sprach Simon mir Mut zu. Jetzt bedurfte es schon eines jungen Mannes, kaum dem Knabenalter entwachsen, um mich am Glauben an die Rettung meines Seelenheils festhalten zu lassen.

„Wie machst du das nur?“, fragte ich ihn. „Wie bleibst du so stark, wo du doch noch so jung bist? Andere wären längst an dem zu Grunde gegangen, was du heute erleben musstest.“

Er strich über Alessios struppiges Fell. Sah zu mir hinüber. Das Feuer leuchtete die Schrammen auf seinen Wangen aus. „Es gab da ein Mädchen in Duisburg. Josefine“, brachte er hervor. „Sie ist ein Jahr jünger gewesen als ich. Der ganze Stolz ihres Vaters, dem Goldschmied. Jeden Morgen bin ich an ihrem Laden vorbeigekommen und sie hat mir zugewunken und gelächelt. Ihr Haar war so golden wie die Stücke in der Auslage.“

„Hast du sie angesprochen?“

Er nickte. „Sie hat einmal in einem Buch mit romantischen Liedern gelesen. Ihr Vater war so reich, dass er sich so etwas wie Bücher leisten konnte. Ich habe sie gefragt, ob sie mir etwas aus ihm vorlesen würde.“

Ich musste an meine eigenen Schwärmereien als junger Mann zurückdenken und schmunzelte. „Und das hat sie getan?“

„Ja. Von diesem Tag an hat sie mir jeden Morgen eine Strophe vorgelesen. Danach haben wir geredet. Einmal sogar, als ihr Vater und die Lehrlinge nicht im Laden waren, hat sie mich geküsst.“

„Trotzdem hat diese Geschichte kein gutes Ende genommen, was?“

Simon legte den Kopf schief. „Ich weiß nicht so recht. Als die Nachricht kam, dass die Pest wohl bald auch Duisburg erreicht, sind ihre Eltern mit ihr und ihren Geschwistern fortgegangen. Nach Norden. Vom einen auf den anderen Tag war der Laden geschlossen und ich erfuhr davon erst von einem der Gehilfen.“

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, seine Lippen würden beben.

„Vielleicht ist sie dort, wo sie jetzt ist, in Sicherheit“, versuchte ich ihn aufzuheitern.

„Das hoffe ich. Wenn all das hier vorbei ist, werde ich sie suchen. Und wenn ich dafür genauso lang auf Reisen sein muss wie du.“

Er drehte sich von mir weg, stand auf und lief mit bedächtigen Schritten um das Feuer herum. Unterdessen machte ich mich daran, die Kräutertinktur auf mein zerfetztes Ohr aufzutragen. Als ich es am Ende großzügig mit dem Verbandszeug umwickelt hatte, stand Simon auf der anderen Seite des Feuers, den Rücken zu mir gekehrt. Hatte ich einen Jungen in seinem Alter jemals so düstere Worte sagen hören? Jemals so stark erlebt im Angesicht von Tod und Grauen? Das Beben seiner Lippen. Seine gebrochenen Augen. Vielleicht hatte er lernen müssen, sein Fühlen so weit wie es möglich war einzustellen, um nicht völlig zu verzweifeln. Das einzige, was ihn noch anzutreiben schien, war das Andenken an seinen Großvater und die Hoffnung, Josefine irgendwann wiederzusehen.

„Welchem Heiligen ist diese Kirche geweiht?“, fragte er plötzlich.

„Warum fragst du?“

„Ich will wissen, zu wem ich beten kann.“

Mit der Hand glitt ich über den Altar hinter mir. Ein Fresko war auf seine Vorderseite eingraviert. Ich drehte mich um und betrachtete es. Auf ihm war ein Mann zu sehen, gehüllt in die Tracht eines Kardinals, der seinen eigenen Kopf unter dem Arm trug. Eindeutig.

„Das ist eine Kirche des heiligen Dionysius.“

„Danke.“ Simon ging in die Knie und faltete die Hände.

„Herr im Himmel“, begann er in einem Flüsterton, der doch so durchdringend war, dass er die ganze Kirche mit seinem Hall ausfüllte. „Heiliger Dionysius, bitte beschütze Josefine, Lucien und mich – und natürlich Alessio auch – vor allem, was noch kommt. Falls es möglich ist, sieh auch nach meinem Großvater, Daniel Aumann, ob es ihm gut geht. Sag ihm, ich werde tun, was er mir aufgetragen hat. Amen.“

Er schlug die Augen auf und fing meinen Blick ein. „Betest du nie?“

„Ich habe es schon lang nicht mehr.“

„Dann glaube ich, hier und jetzt wäre der rechte Zeitpunkt, um wieder damit anzufangen.“ Seine Stimme klang ausgehöhlt, ließ mich an das Gesicht eines Hungerleidenden denken.

Beten – was nutzten fromme Worte gegen solch ein ausgemachtes Übel wie Baphomet? Wahrscheinlich erhörten Gott und seine Heiligen einen Erzverräter wie mich noch nicht einmal.

Trotzdem schloss ich die Lider, faltete die Hände und ließ den Kopf herabsinken. „Heiliger Vater im Himmel, heiliger Dionysius, beschütze uns vor dem Bösen. Vergib’ mir, oh Gnädiger, vergib’ mir armen Sünder und halte deine Hand über mein Haupt. Ich will reuige Buße tun, im Gedenken an deinen Sohn, der für unser aller Sünden starb. Amen.“

„Na, besser als nichts.“

Simon hatte eine Decke neben dem Feuer ausgebreitet und sich auf sie gelegt. Er zog sich eine weitere bis über die Schultern und bettete seinen Kopf auf den ausgestreckten Arm.

„Gute Nacht, Lucien.“

„Gute Nacht.“

Da ich vermutete, sowieso keinen Schlaf zu finden, beschloss ich, Wache zu halten. Den Kopf gegen den Altar gelehnt, Messwein trinkend, beschwor ich noch einmal die Eindrücke des Tages herauf. Die Pestheilung, die Obolusse, die Bibel. Die seltsamen Gesprächsfetzen und Alpträume meines Fieberwahns. Es waren zu viele Mysterien auf einmal, um genauer über sie nachdenken zu können. Meine Gedanken sprangen vom einen zum anderen, ohne länger an ihnen festzuhalten.

Der Wind umheulte die Kirchenmauern, pfiff durch den löchrigen Dachstuhl. Ließ das Feuer unruhig flackern, das immer mehr an Größe und Scheinkraft einbüßte. Alessio wälzte sich immer wieder von einer Seite auf die andere, trat mit der Pfote aus und schmatzte. Ich spürte, wie meine geschundenen Glieder schwer wurden und sich eine bleierne Schläfrigkeit um mich legte. Für einen Moment schloss ich die Augen. Verschränkte die Arme vor der Brust. Glitt weg.

„Aaah! Nein! Nein! Neeein!“

Ich sah sofort hinüber zu Simon. Der Junge warf sich auf seiner Decke umher. Strampelte mit den Beinen. Das Gesicht war von Angst zerfurcht, seine Augen allerdings weiterhin geschlossen. „Josefine!“, kreischte er. „Bitte, ich … ich vergesse dich nicht! Nein, geh nicht fort!“

Schnell stand ich auf und trat zu ihm. Ich wollte ihn aus seinem Alptraum erretten und wachrütteln.

Doch bevor ich ihn erreichte, entspannten sich seine Züge. Er atmete einmal tief durch und drehte sich weiter in seine Decke ein. Es wirkte, als wäre nie etwas gewesen.

Verwirrt kehrte ich zurück zu meinem Platz, breitete eine Decke über meine Beine und rieb meine Hände aneinander. Es wurde immer kälter. Bald würde ich neue Holzscheite ins Feuer werfen müssen. Aber ich war es von unzähligen Nächten im Freien gewohnt, frieren zu müssen. So sank mein Kopf auch jetzt auf meine Schulter und ich dämmerte weg.

Pestland

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