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Vorstartlaunen

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Der große Tag rückte näher. Die Erkrankung des Kenianers stellte sich als weniger schwerwiegend heraus. Die Prognose des Weibes war richtig, der Kenianer wieder auf der Piste. Dem Start stand nichts im Wege, die Form des Kenianers war akzeptabel. Nun konnte er getrost dem Siebengebirgsmarathon entgegensehen.

Konnte er wirklich? Wer schon mal für einen Marathon gemeldet war, der kennt es vielleicht: Bei Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, gibt es einen Scheinriesen. Dieser heißt Herr Turtur und hat die Eigenschaft, dass er immer größer erscheint, je weiter der Betrachter sich von ihm entfernt. Das führt dazu, dass sich ihm keiner nähert, weil jeder Angst vor ihm hat.

Des Kenianers Verhältnis zu großen Sportveranstaltungen ist genau gegenteilig. Je näher er ihnen kommt, desto größer, bedrohlicher und unüberwindlicher erscheinen sie. Es beginnt mit Zweifeln, ob er denn überhaupt in der Lage sei, diese Distanz zu schaffen, und steigert sich dann über die Angst um die eigene Gesundheit bis hin zur absoluten Unlust am Wettkampf. Schlaflosigkeit und Unruhe in der Woche vorher. Die schlimmste Phase überfällt ihn immer in den letzten dreißig Minuten vor dem Wettkampf. Dann nehmen Gedanken überhand, die so grauenvoll vernünftig und rational sind, dass sie nichts für Schwächlinge sind. Plötzlich findet der Kenianer alle Mitstarter doof und sich selbst total deplatziert.

»Kenianer, warum hast du so schlechte Laune?«, fragte sein Sohn.

»Ich habe keine schlechte Laune!«

»Doch, doch. Du willst nicht mehr spielen, du liest mir nicht vor, du streitest mit Mama, du lachst gar nicht mehr und du gehst nicht mehr mit mir zum Schwimmen!«

»Schwimmen? Ich muss laufen! Spielen können wir nächste Woche wieder! Ich streite nicht mit Mama, wir diskutieren nur! Nach Lachen ist mir gar nicht zumute, und jetzt lass mich endlich in Frieden!«

Schwimmen, was wusste der kleine Mann denn? Schwimmen vor dem Marathon?!? Wo Muskeln weich werden und neue Erkältungen warten? Nein, nein. Und stritt er wirklich mit Mama? Okay, gelegentlich – aber das musste sie doch einsehen, dass Adventskaffees und Geschenkekaufen nun wirklich nicht passend waren. Konnte denn er etwas dafür, dass Weihnachten so kurz nach dem wichtigen Lauf im Kalender stand? Und dass Sohnemann, Kenianers Mutter und sein Weib noch im selben Monat Geburtstag hatten, war bedauerlich, aber konnte er wegen solcher Lappalien seinen Fokus ändern?

Der lag nur auf dem Lauf am kommenden Sonntag. Leider war das gar nicht gut. Mit jedem Tag und vor allem mit jeder Nacht, die ihn näher an den Start brachten, wuchsen seine Zweifel und Ängste.

»Du bist der einzige Läufer, der in der Marathonvorbereitung vier Kilo zugenommen hat«, dachte er sich. Und außerdem: Welche Schuhe sollte er anziehen? Die teuren, aber schweren Stabiltreter des Marktführers, die zwar seinen Füßen schmeichelten, aber wie Bremsklötze an seinen Beinen hingen? Die neuen Wunderschuhe, die Leichtigkeit mit Stabilität verbanden, denen er aber beim Halbmarathon vor einigen Wochen hässliche Blutblasen an der Großzehe zu verdanken hatte? Oder gar seine Lieblingsschuhe vom amerikanischen Hersteller, die ihm – ganz der Tradition seiner Landsleute folgend – ein Barfuß-Laufgefühl vermittelten und mit denen er dieses Jahr so viele schöne Läufe erlebt hatte?

Und war es wirklich sinnvoll, die Tage vor dem Start ohne Laufen zu verbringen? Könnte er nicht in dieser Zeit das Gefühl fürs Laufen verlieren?

Aber ist Marathonlaufen nicht eh völlig unnütz, ist es nicht ein Zeichen von Dekadenz einer Wohlstandsgesellschaft, die Tausende von Menschen dazu bringt, ihre Energien zu verpulvern, indem sie 42,195 Kilometer durch die Landschaft rennen? Gibt es nennenswerte Marathonläufe in Krisengebieten? Gab es Marathonveranstaltungen in der Nachkriegszeit? Was müssen Menschen in Dritte-Welt-Ländern denken, wenn sie hören, dass in den reichen Teilen der Welt die Leute ohne Not lange Strecken laufen?

Sollte er wirklich das Risiko eingehen, die Nacht vor dem Start beim Schwager zu verbringen? Und würde er das Essen des Schwagers teilen oder doch lieber zum streng kontrollierten Fraß vom Schotten mit dem großen M greifen, der zwar nicht gesund, aber doch nie verdorben oder vergiftet war.

Das Startgeld war doch gar nicht so hoch, er würde nicht viel verlieren, wenn er auf den Start verzichtete.

Dies waren die schlimmsten Gedanken, die ihn in den letzten Tagen vor dem Siebengebirgsmarathon umtrieben. Und sie würden bestens geeignet sein, um in den fünf Minuten vor dem Wettkampf eine unheilvolle Liaison mit dem Gefühl absoluter Lustlosigkeit einzugehen.

Kurzum, es war alles wie immer vor einem Marathonlauf. Der große Tag konnte also kommen.

Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer.

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