Читать книгу Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer. - Lars Terörde - Страница 9
Nur noch sechs Wochen
ОглавлениеDes Kenianers Weib nahm es klaglos hin. Immerhin beteuerte er, dass es keinen ausgeklügelten Trainingsplan geben würde, keine Zielzeiten und keine Diätpläne. Es sollte mehr ein Gag sein als ein ernstzunehmender Marathonlauf. Behauptete zumindest der Kenianer. Sie hingegen hegte ihre berechtigten Zweifel an derlei Beteuerungen, behielt sie aber großmütig für sich.
»So ist er halt, und er wird sich in diesem Leben auch nicht mehr ändern«, dachte sie still und lächelte ihm zu. »Mach ruhig, wenn du meinst, dass du das packst!«, sagte sie.
»Ja, ja. Es wird wirklich ganz locker. Eher ein Trainingslauf im Winter mit Glühwein danach und zwischendurch schönen Fotos und viel Landschaft.«
Zunächst glaubte der Kenianer noch selbst an seine Worte, allein sein Weib wusste es besser, doch sie schwieg.
Und so gingen die Tage dahin. Es kam die Zeit, in der die Eisdielen schlossen, um kurz danach als Ramsch- und Weihnachtsdekorationsläden wieder zu öffnen. Und obwohl der Kenianer einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Energienachschubs eigentlich aus eben diesen nun geschlossenen Eisdielen bezog, legte sich der frühe Winterspeck an seine Hüften wie der erste Schnee auf die Wiesen und Felder des Landes. Er lief so wie immer im November und erfreute sich der kommenden Jahreszeit und den damit verbundenen neuen Eindrücken auf alten Wegen, als ihm eines Tages klar wurde: Nur noch sechs Wochen!
Wie ein Blitz traf ihn diese Erkenntnis. Plötzlich wurde ihm angst und bange. Ein Marathon ist doch kein Adventskaffee, auch wenn dieser zur gleichen Zeit stattfindet. Ein Marathon ist doch viel mehr: für viele die Herausforderung im Läuferleben, das Ziel, auf das sich alles fokussiert, die Erfüllung eines langgehegten Traumes, das Matterhorn des kleinen Mannes! Das alles ist ein Marathon und noch vieles mehr, aber doch kein gemütlicher Trainingslauf, zudem noch in den Bergen. Wo nahm er nur diese Arroganz her zu sagen, so etwas würde er locker aus dem Ärmel schütteln? Nur wegen der guten Sommerform? »Also wirklich, Kenianer«, rief er sich zur Räson. »So geht’s nicht.«
Schnell wurde die Trainingsbibel des großen Steffny hervorgeholt. Der empfohlene Trainingsplan für zehn Wochen war natürlich nicht mehr machbar. Was sollte er tun? Er könnte natürlich die gesammelten Laufanforderungen komprimiert nachholen. Anstatt fünf bis sechs halt zehn bis zwölf Einheiten pro Woche. Morgens früh raus, abends lange laufen und die Ruhetage getrost streichen. Dazu die besonderen Hinweise des Gurus zum Laufen in den Bergen. Auch das sollte gelernt und trainiert sein. Verzweifelt und von nervösem Durchfall geplagt zog sich der Kenianer mit seinem Steffny zurück und ging in Klausur. Er musste Abstriche machen – von Steffnys Trainingsplan wohlgemerkt, nicht vom Durchfall.
Kapitel Ernährung? Kurzerhand gestrichen. Kapitel mentale Vorbereitung und Tipps für einen gelungenen Marathon? Gestrichen. Die Hälfte der erforderlichen Vorbereitungskilometer? Gestrichen. Die sechs bis sieben langen Läufe, die empfohlen wurden (und wenn Steffny »lang« sagte, dann meinte er »sehr lang«)? Gestrichen. Ruhe in den letzten beiden Wochen vor dem Lauf? Sowieso gestrichen.
Er beschränkte sich auf das Allernotwendigste. Drei lange Läufe sollten es dann doch noch sein. Aber was war mit den Steigungen? In des Kenianers Revier sind Brücken und Rheindeiche die einzig erwähnenswerten Anstiege. Wie sollte er also einen langen Lauf mit vielen Steigungskilometern absolvieren? Den Fußgängerweg der nahen Autobahnbrücke über den Rhein immer hin und zurück laufen, das könnte eine Lösung sein. Zumal die Autoabgase und die latente Höhenangst des Kenianers dieser Variante noch einen zusätzlichen Trainingsreiz verschaffen würden. Puls plus zehn wegen der Höhenangst, und die Kohlenmonoxidkonzentration dürfte noch einmal denselben Effekt haben. Die Idee wurde dann aber doch verworfen, da der anstehende Marathon durchs Siebengebirge ja über Feld- und Waldwege gehen sollte und der Fußgängerweg nur Asphalt bot.
Also entschloss sich der Kenianer, der sonst in ländlichen Randbezirken Düsseldorfs sein Läuferdasein fristet, zur Eroberung des zentralsten und auch steigungsreichsten Waldstücks seiner Heimatstadt. Und so fand er sich an einem Sonntag zum Bergtraining im Grafenberger Wald ein, im Düsseldorfer Laufmekka. Es wimmelte von Großstadtsonntagsläufern.
»Hallo!«
Keine Reaktion.
»Hi!«
Nichts.
»Morgen!«
Verschämter Blick zum Boden, wobei die Hand der Gegrüßten in die Jackentasche schnellte. Offenbar auf der Suche nach dem Tränengas.
Crocodile Dundee auf seinen ersten Metern durch New York war es ähnlich ergangen. Freundliche Versuche der Kontaktaufnahme wurden mit Befremden registriert. Der Kenianer gab es auf. Grüßen ist in Großstadtlaufrevieren nicht erwünscht. Läuferinnen zu grüßen, gar eine Vorstufe der sexuellen Belästigung. So wurde auch er zu einem grußlosen Läufer. Aber er hat ja für die langen Läufe stets sein Handy mit dem Radio dabei. Drei Stunden WDR 5, der Informations- und Kultursender des Westens, sollten ihm die Zeit vertreiben.
Erst Dok 5, das Feature »Zwischen Zittern und Zocken – Die Geschäftspolitik der Banken«, dann der Presseclub mit Gästen von renommierten Zeitungen, die über unsere Kanzlerin debattierten. Super interessant, leider nimmt sich der Kenianer sonst viel zu selten die Zeit zum konzentrierten Radiohören. Aber er war ja auch nicht zum Radiohören in den Grafenberger Wald gekommen. Er wollte Steigungen kennenlernen.
Schon die ersten Meter hinauf ließen sein in die Hose rutschendes Herz gehörig schneller schlagen. Trotz gefühlten Langsamlaufens erreichte er schnell eine grenzwertige Belastung. Die Waden brannten, und das Frühstück rebellierte gegen das ungewohnte Bergauflaufen. »Das geht doch gar nicht«, dachte der Kenianer. Er war gerade erst am Anfang, wie sollte er 42,195 derartige Kilometer bestehen?
Gestern hatte er noch im Kreise der staunenden Kollegen seinen großen Mund sehr voll genommen. »Stadtmarathon kann doch jeder!« und »Das bisschen Hochlaufen ist doch kein Problem!« Die Prahlereien echoten ihm jetzt im Ohr herum. »Du elender Idiot, ohne Not meldest du dich an. Ohne Not verbreitest du die Geschichte in deiner weltweit vernetzten Läufer-Community, und ohne Not erzählst du es all deinen Kollegen«, grämte er sich. Wie kam er aus dieser Geschichte nur heraus?
Beim Betrachten des Höhenprofils hatte er noch lächelnd behauptet, dass es ja eigentlich nur um 35 Kilometer ginge, da die letzten sieben schließlich bergab führten und getrost locker auszulaufen wären. Doch auch dieser faule Zahn wurde ihm nun gezogen. Zwar beruhigte sich der Puls auf dem folgenden Gefällestück, des Kenianers Oberschenkel schmolzen jedoch schon bald zu Pudding. Jeder Schritt bergab wurde durch die Schwerkraft beschleunigt. Jedes Mal maximaler Einsatz der massigen Muskeln, um den Doppelzentner zu bremsen.
Doch nach all den vollmundigen Ankündigungen gab es nur einen Ausweg, und der führte geradewegs durch den Zieleinlauf in eine Turnhalle im Siebengebirge… Es gab kein Zurück, das war ihm klar!
Also versuchte er, einen Rhythmus zu finden im steten, unrhythmischen Auf und Ab eines Waldes, dessen Wege furchteinflößende Namen wie Aaper Höhenweg, Rather Steig, Dachsbergweg oder Marxsteig trugen.
So langsam fand der Kenianer sein Gefühl fürs Laufen wieder. Das interessante Interview mit Wim Wenders wurde jedoch jäh unterbrochen. Klingeln, Rufannahme, wer war dran?
Schwager: »Hi, was machst du?«
Kenianer: »Laufen natürlich.«
Schwager: »Ich bin verletzt, die Wade macht zu. Ich glaube, ich habe einen Muskelfaserriss.«
Kenianer sagte: »Ach, du alter Ballack! Das tut mir jetzt echt leid! Meinst du, es klappt mit dem Marathon?« Kenianer dachte: »Du bluffst doch nur. Ich glaube dir kein Wort!«
Schwager: »Ich will es auf jeden Fall versuchen. Obwohl ich jetzt schon Wochen nicht mehr gelaufen bin und nächste Woche dienstlich nach Südostasien muss. Da komme ich bestimmt auch nicht zum Laufen!«
Kenianer sagte: »Du Armer!« Kenianer dachte: »Zwei Stunden Seminar am Tag, dann Strandläufe bei Superwetter, dazu noch ein Freiluft-Gym mit Laufband, Meerblick und einem Fünf-Sterne-Wellness-Bereich zur Regeneration, während ich mich durch den Schneeregen quäle. So wie du arbeitest, möchte ich mal Urlaub machen!«
Schwager: »Ich hoffe, das wird noch. Ich melde mich, wenn ich wieder da bin. Dir noch viel Spaß beim Laufen!«
Kenianer sagte: »Danke, und dir gute Besserung!« Kenianer dachte: »Du hast schon in Köln versucht, mich reinzulegen, aber dir werde ich es zeigen!« Das Frikadellen-Angebot kurz vor dem Start war ihm im Gedächtnis geblieben.
Das war der Motivationsschub zur rechten Zeit. Plötzlich hatte er das Gefühl, die Berge hinaufzufliegen. Die Steigungen wurden mehr und mehr zu Freunden. Im Geiste immerzu den Schwager überholend wurden Höhenmeter und Kilometer gefressen. Nach über drei Stunden hatte der Kenianer genug. »Die Form muss reichen. Noch ein paar Trainingseinheiten in den nächsten Wochen und es wird schon klappen.«
Runner’s High. Schön, aber auch trügerisch! Plötzlich erschien ihm alles so leicht. 42,195 Kilometer durchs Siebengebirge. Was war das schon? Zufrieden saß unser Kenianer im Auto auf dem Weg nach Hause und war mit sich und seiner kleinen Läuferwelt im Reinen.