Читать книгу Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer. - Lars Terörde - Страница 13

Ohrwürmer

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Es gibt immer wieder Lieder, die einen verfolgen. Jeder kennt das, jeder hat es schon erlebt. Gewollt oder ungewollt begleiten sie einen durch den Tag. Immer wieder finden sie den Weg ins Bewusstsein. Tauchen auf aus den Tiefen des Unterbewusstseins, um einen zu quälen oder zu erfreuen. Die Ohrwürmer.

Gerade bei rhythmischen und zyklischen Bewegungen, die in reizarmer Umgebung endlos wiederholt werden, beißen sie sich nur allzu gerne fest und quälen ihren Wirt. Ausdauersport und Fließbandarbeit sind demnach der ideale Nährboden, auf dem diese unpossierlichen Tierchen gedeihen können.

Auch der Kenianer kennt sie. Nicht bei der Arbeit. Diese lässt den Ohrwürmern nur wenig Platz zur Entfaltung. Aber beim Schwimmen, Radfahren oder Laufen. Alles rhythmisch, alles zyklisch, alles mehr oder weniger langanhaltend ausgeführt. Und das zumeist ohne nennenswerte äußere Reize.

Es sei denn, er schwimmt seine Kilometer inmitten einer Herde Aqua-Jogger bei ihren abendlichen VHS-Kursen. Hier quellen ihm unter Wasser die Reize nur so entgegen, während ihm über Wasser die erbosten Kommentare von Sporttreibenden treffen, die ihre Haare vor Nässe bewahren wollen.

Oder er fährt Rennrad auf den wenigen landschaftlich schönen Straßen, die dicht besiedelte Ballungsräume wie die Rhein-Ruhr-Region so zu bieten haben. Dabei gibt es ständig Abwechslung: Sonntags-Autofahrer, die nicht müde werden, hupend und mit Fäusten drohend auf die Radwegbenutzungspflicht aufmerksam zu machen. Andere Rennradler alle zweihundert Meter. Springen von einem Windschatten zum nächsten. Gelegentliches Grüßen zur gegenüberliegenden Seite.

Und auch bei Läufen durch Fußgängerzonen oder in belebten Großstadt-Laufrevieren sind sie meist still. Die Ohrwürmer.

Aber es gibt genügend andere Möglichkeiten, bei denen sie zuschlagen können: Ungestörte Schwimmeinheiten an einem Werktagvormittag bei schlechtem Wetter im Freibad. Der Kenianer allein im 50-Meter-Bassin. Samstagmorgen um sechs Uhr im Frühnebel auf langen und einsamen Feldwegen mit Gegenwind auf dem Rad. Läufe durch herbstliche Wälder an einem trüben Tag mit Nieselregen. Besser noch Strandläufe an der holländischen Nordseeküste. Auf zwölf Kilometern keine Abwechslung fürs Auge. Immer Strand rechts, Meer links und dazwischen ein breiter, fester Sandbelag während der Ebbe.

Sie kommen ganz von alleine. Spätestens in dem Moment, in dem der Kenianer darüber nachdenkt, dass es schön ist, gerade keine Melodie im Ohr zu haben.

Dann denkt er zum Beispiel an O-Zone: »Weißt du noch letztens, als du ständig diesen bescheuerten Song dieser osteuropäischen Boyband hörtest? Du weißt schon: dieses dämliche Video, wo irgendwelche Bengel so blöd und bunt auf Flugzeugflügeln rumtanzen…« Und schon klingt »Dragostea Din Tei« in seinen Ohren.

Immer wieder gern verschaffen sich dort auch miese Sommerhits aus Spanien Gehör, ganz gleich, ob sie von zwei lustigen alten Männern (Los del Rio: »Macarena«) oder vier rassigen Schönheiten (Las Ketchup mit dem gleichnamigen Song) gesungen werden.

Während des einsamen Schwimmens, Laufens und Radfahrens wurde der Kenianer auch bereits von sämtlichen Liedern von Rolf Zuckowski heimgesucht, die der pädagogisch wertvolle Barde gewiss in bester Absicht für Kinder spielt. Aber eben für Kinder! Nicht für die Eltern, die diese dann stundenlang im Auto hören müssen – und leider nicht mehr vergessen können.

Hinzu kommen die Erkennungsmelodien diverser Kinderhörspiele. Für besonders grauenvolle Ohrwürmer haben »Bobo Siebenschläfer«, »Sponge Bob«, »Wickie und die starken Männer«, »Heidi« und »Biene Maja« gesorgt. Die besagten Lieder selbst können – abgesehen natürlich von dem schlichtweg fürchterlichen »Sponge Bob«-Theme – ja sogar ganz nett sein; aber sie neigen halt dazu, einen nicht mehr loszulassen und durch den ganzen Tag zu begleiten.

Aber auch mitten im Wettkampf können die Ohrwürmer zuschlagen. Dabei ist es egal, ob das Lied zum Wetter und dem Charakter des Rennens passt. Mal melden sich Weihnachtslieder im Hochsommer, dann Wanderlieder beim Radfahren, Sprechchöre aus dem Fußballstadion im Schwimmbad oder Kirchengesänge im tiefsten Wald.

Einige Beispiele aus dem Sportlerleben des Kenianers gefällig? Bei einem Laufwettbewerb im Münsterland straften ihn die Ohrwürmer dreißig Kilometer lang mit einem besonders grauenvollen Exemplar aus dem Repertoire des Kölner Karnevals. Immer wieder »Dicke Mädschen … haben schöne Namen, heißen Tosca, Rosa oder Carmen… dicke Mädsche hat der Himmel jemacht…«. Und das hatte garantiert nichts mit der Statur der wenigen Frauen auf der Strecke zu tun, die den Kenianer begleiteten.

Auf einem stundenlangen Triathlon in Köln traf ihn derweil im Kampf gegen sich, seinen Schwager und den starken Wind ein besonders schwermütiger Song, in dem Johnny Cash davon berichtet, wie er dazu kam, an eine höhere Macht zu glauben. Dermaßen langsam und trübsinnig ist dieses »I came to believe«, dass des Kenianers Weib ihm später einen Mentaltrainer empfahl, damit ihm so etwas nicht noch mal im Wettkampf widerfahre.

Manchmal treten die Ohrwürmer auch in einer Art unheiliger Allianz mit den Veranstaltern der Wettkämpfe auf. Denn diese haben es sich zur Gewohnheit gemacht, die Läuferschar zu den Klängen irgendeines Liedes, von dem sie glauben, dass es beim Laufen motivieren könnte, auf die ersten Meter zu entlassen. So muss sich der Kenianer nicht nur mit der Strecke, seiner Unzulänglichkeit und den Mitläufern auseinandersetzen. Zusätzlich malträtieren längst vergessene Lieder wie »Final Countdown«, »Eye of the Tiger« oder »Born to run« sein Bewusstsein.

Aber es geht noch besser. Man kann sich seine Ohrwürmer auch selbst erschaffen. Das hat für die Würmer den Vorteil, dass sie sich nicht erst mühsam einprägen müssen, schließlich sind sie vom Gequälten ja selbst verfasst. Wer einmal seine mentale Belastungsfähigkeit auf die Probe stellen will, möge sich zum Refrain von »Jingle Bells« zehn Mal hintereinander folgenden Text vorsingen: »Laufen gehen, Laufen gehen, Laufen gehen ist schön. Über tausend Schritte tun und nie dabei zu stehen! Ja, Laufen gehen, Laufen gehen, Laufen tief im Schnee, sind die Beine stark genug, dann tut das gar nicht weh…«. Wir sparen uns den ganzen Text, den der Kenianer ersann in der Weihnachtszeit.

Aber wie gesagt, zumeist trafen die Ohrwürmer den Kenianer völlig unvorbereitet und ohne ersichtlichen Grund und Zusammenhang. »In the Dutch Mountains«, klang es nun leise aus den Tiefen seines Unterbewusstseins. Jeder hat ihn schon gehört, diesen Song, aber nur wenige kennen den Namen der Interpreten. Es ist die holländische Band »Nits«. Auch der Kenianer kannte nicht den Namen der Gruppe, aber das Lied schien ihn plötzlich zu verfolgen…

Immer wieder: »In the Dutch Mountains…«

Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer.

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